Tagebuch Sommer 2018

Frankfurt, 20. Oktober

Ankündigung:

Samstag, 3.11.2018, 19 Uhr

Literaturclub der Frauen aus aller Welt – Lesung 

 in der DENKBAR, Spohrstr. 46, Frankfurt

 

Musik: Shahram Moghaddam // Begrüßung und Moderation: Venera Tirreno – Literaturclub der Frauen aus aller Welt e.V. // Musik: Schahram Moghaddam 

Liza Kuryanovich/Russland – Mehrere Gedichte wie „Blühtrieb“, „Zweitausendundeine Blüte“, aber nicht nur über Blüten // Mona Phoenics/Deutschland – „Ausgedient” // Barbara Höhfeld/Deutschland – ihr Gedicht erzählt von den Hugenotten, die einst in Offenbach Zuflucht fanden// Radvana Kraslová/Tschechien –  „Die Zweisamkeit im Herbst“ // Pupuze Berber/Türkei – Ausschnitte aus ihrem Buch „Reise zum Ende der Lust“ // Gisela Wölbert/Deutschland – Gedichte aus dem Zyklus „Deutschkurs“ // Ayla Bonacker/Türkei – „Die Diagnose“

Eintritt 6,– Euro

 

 

Samstag, 20. Oktober

Aus dem "morgen" sind drei Wochen geworden ..... Tut mir leid. Ich werde halt immer langsamer, und ehe alles zwischen Wäschewaschen, Emails-beantworten und Feldenkraiskurs-geben geordnet ist, vergehen Stunden und Tage. Zudem hatte ich noch das Korrekturlesen für unsere neue Anthologie im "Literaturclub der Frauen aus aller Welt" übernommen. Damit bin ich auch jetzt noch nicht durch. Wir machen es zu zweit, haben vergangene Woche 5 Stunden lang unsere Ergebnisse verglichen. Ja, und dann hatte ich meiner Redakteurin in Luxemburg, Ariel Wagner von "kulturissimo", einen Bericht über den neuen Stand der Luxemburger auf der Buchmesse versprochen! Seit fünf Jahren waren die Luxemburger 2018 zum ersten Mal wieder zurückgekommen. Ein Neubeginn!

Und als in der "taz" ein Leserbrief erschien, dessen Verfasserin einen Autor in seinem Artikel über die jüngste Ausstellung im Berliner Jüdischen Musueum dabei ertappte, wie er deutsche "Juden und Muslime" in ein sogenanntes "Drittland" versetzte, wo sie sich doch leicht miteinander einigen könnten, da sah ich eine Gelegenheit, meine jüngste These öffentlich zu vertreten: Die über tausendjährige deutsch-jüdische Geschichte wird, wenn überhaupt, als eigenständige, völlig von der übrigen Geschichte losgelöstes Narrativ behandelt, das eigentlich nur ein paar Spezialisten zu kennen brauchen. Diese Geschichte, das ist meine These,  gehört aber in jedes Schulbuch als ein untrennbarer Bestandteil der allgemeinen deutschen Geschichte! Diesem Gedanken gehe ich schon länger nach. Er wurde mir 2010 bewusst, als das Frankfurter Jüdische Museum alle seine Besucher einlud, ihm für eine Sonder-Ausstellung einen jüdisch-konnotierten Gegenstand zu leihen. Ich gab dem Museum eine "Geschichte der deutschen Juden" aus dem Jahre 1898, und als ich die fertige Ausstellung besuchte, fand ich meine Leihgabe im hintersten Winkel des 1. Stocks, in einem Fach knapp über dem Fußboden. Alle andere Gegenstände betrafen den Holokaust. Heute haben sich die Verhältnissse geändert, heute befassen sich die jüdischen Museum durchaus auch mit der Geschiche von vor 1933.

Übrigens gehört das von Micha Brumlik herausgegebene Buch über "Luther, Rosenzweig und die Schrift" ebenfalls in diese Kategorie. Meine Rezension dazu ist Anfang Oktober in der "Zeitschrift für christlich-jüdische Begegnung im Kontext" erschienen. Prof. Brumlik, selber durchaus skeptisch, hatte eine Anzahl jüdischer und nicht-jüdischer Gelehrten gebeten, zu Rosenzweigs Aufsatz von 1926 Stellung zu nehmen, in dem der jüdisch-deutsche Philosoph sich zu Luthers Bibel-Übersetzung, zu Luthers Deutsch und zu Übersetzungen im Allgemeinen geäußert hatte. Die Ausarbeitung meiner Besprechung war eine immens aufregende Zeit für mich ....  Wer sie lesen will, kann sie unter "Zeitschriften" auf meiner Webseite finden.

Es geschieht ständig was, in diesem schier endlosen Sommer, wo wegen Wassermangels in den Flüssen die Schiffe mit ihrem Kiel nur noch eine Daumenbreite über dem Grund fahren. Wehe dem Kapitän, der von der Flussmitte abkommt!

 

Frankfurt, 4. Oktober

Letzten Sonntag kam ich von Israel zurück. Zehn Tage hatte ich dort verbracht, doch als ich in meine Wohnung zurückkehrte, schien es mir, als wären  es mehrere Wochen gewesen.

Das hing nicht nur mit der Hitze zusammen. Ich wohnte hauptsächlich in der Nähe von Tel Aviv, und in der Gegend ist die Sommerhitze besonders berüchtigt. Früher befanden sich dort viel Sümpfe, und irgendwas von jener Feuchtigkeit ist anscheinend zurückgeblieben. Die Hitze war gar nicht vergleichbar mit der hiesigen von diesem Sommer, obwohl das Thermometer dort auch nicht höher stieg: sie drückte aber so sehr auf den Kreislauf, dass ich mich fast nur in klimatisierten Räumen aufhielt.  Ja, ich trank Wasser, unentwegt trinken war lebensnotwendig – doch es reichte nicht zum gewohnten Leben. 

Nun war ich nicht zum Tourismus nach Israel geflogen, sondern um Familie zu besuchen.  Eine meiner Töchter hat sich dort vor beinahe vierzig Jahren niedergelassen, hat zwei Kinder großgezogen und ist inzwischen Großmutter geworden. Sie spricht Hebräisch wie jeder Hebräer, sogar besser als viele, wie mir Freunde versichern. (Meine Tochter ist Doktorin der  Linguistik und spricht vier Sprachen fließend.)  Die Kinder sind mit Hebräisch aufgewachsen und gehen sehr gewandt damit um. Mit mir sprechen sie Englisch, und wir führen große Gespräche. Mein Enkel ist verheiratet. Seine Frau hat drei Geschwister, ihre Eltern sogar noch mehr. Da treffen sich rasch zwanzig Leute oder mehr beim Festmahl! Und ich war auch eingeladen, wurde herzlich empfangen.

Die jüdischen Festtage in den letzten Septemberwochen heißen „die großen Feiertage“: das neue Jahr beginnt mit diversen Erinnerungen an die antike Geschichte des jüdischen Volkes: Yom Kippur, der höchste Feiertag, auch Tag des Gerichts genannt, und danach Sukkot, eine gute Woche lang erinnert man sich an die vierzigjährige Wanderung durch die Wüste. Man lebt während dieser Tage in der Sukka, das ist eine Art Zelt, durch deren Dach man nachts die Sterne sehen kann. Auf jeden Fall werden die Mahlzeiten immer in der Sukka eingenommen. Manche Frommen schlafen auch darin. Zum Abschluss folgt das Thorafest, Simchat Tora, das hauptsächlich in der Synagoge gefeiert wird: der Rabbiner nimmt die Torarolle in den Arm und tanzt unter Gesang damit durch die Synagoge, und alle Männer und Jungen tanzen mit ihm. Die Freude an der Tora wird damit ausgedrückt – „Tora“ heißt die heilige Bibel der Juden. Sie entspricht in wichtigen Teilen dem christlichen Alten Testament. Danach beginnt wieder der Alltag.

Ich war, wie gesagt, eingeladen und wurde aufs herzlichste empfangen. Schon vor fünf Monaten hatte sich die Schwiegermutter meines Enkels erkundigt, ob ich, wie letztes Jahr, zu Sukkot wieder nach Israel käme.  Ihre Großeltern waren einst aus Tunis eingewandert; die Großeltern ihres Mannes stammten aus dem Irak. Sie gehören damit der israelischen Volksgruppe der Sepharden an, unterscheiden sich in lithurgischen Dingen von der anderen Volksgruppe, den Aschkenasen,  in religiösen, aber auch in anderen kulturellen Verhaltensweisen. Jedenfalls reichen sie mir die Hand und freuen sich, dass ich an ihrem Tisch sitze.  Das wäre bei streng-religiösen Aschkenasen nicht so selbstverständlich, oder überhaupt nicht möglich.  Es bestehen bis heute ganz allgemein gewisse Unterschiede zwischen den  beiden Gruppen: mit einem aschkenasischen Familiennamen hat ein Kind bessere Berufschancen als mit einem sephardischen Namen.  Offiziell gilt das natürlich nicht.

Das passt irgendwie zu der Aussage des Ministerpräsidenten vor der UNO (auch letzte Woche), wonach Israel führend in Technik und Umweltschutz und vielen anderen Dingen sei (was stimmt) und dass Gott seinem Volk das Land vor 4000 Jahren gegeben habe.  (Aus dem Gedächtnis zitiert.)

Morgen fahre ich fort, von meinen Eindrücken zu berichten.

 

 

Frankfurt, den 17. September

Schon wieder einer der so perfekten Sommer-Sonnentage heute. Das will nicht aufhören. Und niemand redet mehr von der Dürre (nun, ich lebe nicht unter Landwirten). In Düsseldorf habe es schon wieder soviel geregnet, dass die Regentonnen voll seien, wurde mir berichtet. Und aus dem Bahnwaggon heraus sah ich im Kinzigtal Kühe grasen. Nicht wirklich saftig-grün waren die Wiesen, doch wuchsen schon wieder grüne Stellen auf den braunen Weiden, und die Kühe schienen es zufrieden. 

Ich fuhr mit dem Zug zurück von Berlin nach Frankfurt. In Berlin hatten wir ein geliebtes Familienmitglied begraben müssen. Es wurde bei aller Trauer aber auch ein inniges Familienfest. Seltsam wie den Überlebenden auf einer Beerdigung ihre Lebendigkeit bewusst wird ....

Übermorgen reise ich nach Köln. Die Frauenabteilung im Schriftstellerverband von Nordrhein-Westfalen veranstaltet dort den ersten Abend zum Thema "Frauengestalten in der Literatur verschiedner Länder" (in den nächsten Wochen folgen drei weitere) und hat den Fankfurter "Literaturclub der Frauen aus aller Welt" dazu eingeladen, nachdem man uns erst neuerdings überhaupt entdeckt hatte. Wir, sehr geehrt, werden zu dritt mit dabei sein. "Shakespeares Schwester und die Schriftstellerinnen" heißt der spöttische Titel. Er bezieht sich auf ein Gedankenspiel von Simone de Beauvoir, die eine Schwester Shakespeares erfand, nur um sich auszumalen, wie wenig Chancen, überhaupt keine, sie gehabt hätte, sogar wenn sie wie ihr Bruder auf eine Lateinschule gegangen und anschließend nach London gezogen wäre, um ihr Glück zu versuchen. Nur Unehre und Elend wären ihr begegnet. Ja, wir haben einen weiten Weg hinter uns. Müssen uns nach wie vor nicht nur um uns selber, sondern auch um die andern kümmern. Wer schreibt, und was? Dieser und anderen Fragen wollen wir am Mittwoch  gemeinsam mit Autorinnen aus anderen Ländern und den deutschen Kolleginnen nachgehen. Im nächsten Jahr ergibt sich womöglich eine engere Zusammenarbeit.

Zur Zeit bereiten wir hier unsere Jubiläums-Anthologie vor: zwölf Autorinnen mit zwölf Texten, die so verschieden sind wie sie nur sein können. Und doch: jede zeigt ein weibliches Weltbild, und alle zusammen spiegeln vieleicht ein allgemeines Bild von  gegenwärtger Weiblichkeit, von weiblich getönter Menschlichkeit.. Ich freue mich sehr auf dieses Buch, das wir zum ersten Mal alle gemeinsam gestalten und bei BoD drucken lassen. Eine von uns liefert sogar ein paar Zeichnungen dazu. Wichtig war uns, dass unser bewährter Lektor, Dr. Beckermann, nicht nur als Lektor, sondern als Gesamt-Kurator mitgewirkt hat. Wir haben über die Jahre ein großes Vertrauen zu ihm gewonnen. Das Buch sollte ab Mitte November lieferbar sein. Ein passendes Weihnachtsgeschenk. (Sowas nennt man auf Deutsch: einen Wink mit dem Zaunpfahl.)

In der zweiten Augusthälfte besuchte mich meine israelische Enkelin, und wir verbrachten zauberhafte Tage. Eine ihrer Kusinen organisierte in dieser Zeit ein außergewöhnliches Musikfestival im Wendland. Usprünglich eine verlassene Gegend, besonders zu Zeiten des Eisernen Vorhangs, sind dort viele Ferienhäuser entstanden, viele Künstler haben sich niedergelassen; man kann dort mit einem selektem Publikum rechnen. Die Kusine, also meine Nichte, hatte Vertreter  zeitgenössische Musik zum Festival geladen. Der Konzertsaal befand sich in einer Scheune, die Zuschauerränge bestanden aus frischen Strohballen; in anderen Scheunen hatte man Schlafsäle eingerichtet; es gab auch eine gemähte Wiese für Zelte, mit Toiletten ohne Fliegen, mi Duschen in Hütten und einer offenen Waschstelle. Eine Wiese außerhalb des Hofs, an der Straße, war ebenfalls gemäht und diente als Parkplatz. Es kamen Leute aus der ganzen Republik. Die Musiker gar kamen aus der ganzen Welt. An der Bar gab es  diverse Pizzen, Ofenkartoffeln und frisch gebackenen Kuchen - eine angesagte Bar aus Berlin hatte Ofen und Spültisch ins Auto gepackt und sich nun in einer weiteren Scheune niedergelassen. Natürlich gab es auch eine Getränkebar mit mehreren Biersorten, mit verschiednen Weinen, mit Bio-Limonaden und was man sonst so braucht. Die Konzerte waren großartig, die Akustik makellos.

Meine Enkeln und ich waren aus Frankfurt per Zug bis Uelzen gekommen und hatten dort einen "Kleinwagen" gemietet. Und  was stand da  vor uns auf dem Parkplatz? Ein funkelnagelneuer, schwarz glänzender VW-Käfer-Cabrio! Bei dem Wetter!! Im Wendland kommt man ohne Auto schwer aus. Es besteht nur aus Weilern, Dörfern und winzigen Städtchen, aber wenig öffentlichem Verkehr. Am besten eignet es sich zum Fahrradfahren, weil alles so schön flach ist. Gepflegt, ohne verstädtert zu sein. Man baut dort großartige Kartoffeln an. Freilich ist auch Gorleben nicht weit. 

 

 

 

 

Frankfurt, den 6. September

Lange in Schweigen gehüllt. In Wirklichkeit litt ich oft an rheumatischen Schmerzen, und das wurde schließlich so schlimm, dass ich zu Schmerzmitteln griff. Der Kopf wurde immer dumpfer. Da begegnete mir in der taz die Erininnerung an meine Arthrose-Diät von vor vier Jahren; man schrieb dort passenderweise über "Essen gegen Schmerzen". Ich klopfte mir vor die Stirn: aber natürlich! Damals waren die Schmerzen ja verschwunden!

Ab sofort: Zucker abolut meiden. Ach, die schöne Marmelade! Ich kaufte Zwetschgen - die richtigen, die die jetzt reifen - und kochte Marmelade ohne Zucker. Sodann alles Fleischige abschaffen. Tja, da sind aber noch der zarte Schinken und  die würzige Schweinepastete? Geht an eine Freundin. Ferner: kein Weißbrot mehr, nur Vollkornbrot. Ich toastete die letzten drei Scheiben - vorbei. Probierte verschiedene Vollkornbrote aus. Das beste finde ich samstags beim Metzger auf dem Bauernmarkt, doch muss ich früh aufstehen, sonst ist es ausverkauft. Bleibt noch der Käse. Ich habe immer vom besten Käse da: frischen Weinbergkäse, alten Comté, duftenden Handkäs in der Schachtel; den ein oder andern kräftigen Bergkäse; ob ich die noch aufessen soll? Mal abwarten. Beginne sofort mit dem Kochen von Linsen.

Nach drei Tage haben die Schmerzen schon nachgelassen. Abends, bei wachsender Müdigkeit, wachsen die Schmerzen mit, aber morgens sind sie fortgeblasen, jedenfalls einigermaßen. Ich betreibe auch fleißig Feldenkrais-Übungen. In einem Monat beginnt mein Volkshochschulkurs, da muss ich mich sowieso drauf vorbereiten.

Natürlich habe ich mein Leben nicht auf die Esserei beschränkt. Ich war vorgestern bei einer feministischen Performance im Museum Judengasse hier in Frankfurt, das im Zusammenhang mit der Ausstellung über "100 Jahre Frauenwahlrecht" stand, die im Historischen Museum statfindet. Ich war noch nicht dort, will aber auf jeden Fall hingehen. Denn mich interessiert nicht nur das geschichtliche Faktum des Frauenwahlrechts, sondern auch, wie die Frauen heute damit umgehen. Darum warum ich sehr neugierig auf die Performance. Ihr Gestalterinnen hatten sich bemüht, nichts über den Inhalt verlauten zu lassen.

Dass die Autorin Malerin war, erfuhren wir auch erst nachträglich, es wär aber auch vorher  wichtig gewesen. Sie ging nämlich nicht analytisch vor, sondern rein bildlich. Dabei war es ihr ziemlich egal, was die  Zuschauerinnen und Zuschauer unter den Bildern verstanden - sie zeigte ihre persönliche, subjektive Suche nach dem Sinn der Bilder, die sie gerade beschäftigten. Wie alt sie war? Ziemlich jung noch, so in der Mitte des Lebens. Sie wollte einfach als Frau verstanden werden, die von unterdrückerischen Formeln umgeben wird und die sich dagegen wehrt, wie sie kann. Indem sie zum Beispeil weibliche Kostüme anprobiert, um zu erfahren wie sich das anfühlt - Korsett oder Krinoline und so weiter. Sie filmt sich beim An- und Ausziehen, aber nur halb - denn dann hätte sie auch ihre gesamte Unterwäsche auf alt tauschen müssen, damit das "authentisch" bliebe, wie sie nachher sagte; das war ihr ein zu großer Umstand. Auch dauerte das eigentlich An-und Ausziehen letztlich zu lange - "zu lange" für die Kamera, nach ihrem Gefühl. Insgesamt kalkulierte sie die Anwesenheit einer Kamera in die Aufnahmen nicht ein. Sie schien zu glauben, dass die Verhältnisse sich nicht durch die Anwesenheit einer Kamera verändern.

Am interessantesten waren die Bilder, die entstanden, als sie sich vor einen Bildwerfer setzte und gewissermaßen ihr Brustbild durch Fotos anderer Frauen ausleuchten ließ. Auf ihrem weißgeschminkten Gesicht lebten vor allem die Augen, die sie fleißig bewegte, und so entstanden vieräugige Sonderwesen, immer neue, überraschende, erschreckende Antlitze. Wie sie nachher erläuterte, hatte sie seit längerer Zeit alte Familien-Fotos gesammelt, Porträts von meist unbekannten Frauen; doch mischte sie auch Bilder von bekannten Frauen darunter. Welche Beziehung empfand sie zu diesen Frauen? Nicht etwas, das sich in Worte fassen ließ. Eine große Vielfalt.

Insgesamt eine Vorstellung, die mich zunächst enttäuschte, denn sie ignorierte nahezu alles, was wir - "wir Frauen", ich denke z.B. an die Zeitschrift "Courage" - etwa in den 80er Jahren herausgefunden und entwickelt hatten. Sie schien noch einmal von vorn anzufangen, das heißt bei sich selber. Der Höhepunkt ihrer Performance bestand im kraftvollen Zerschlagen eines schönen alten Stuhles. Danach verneigte sich die Künstlerin befriedigt. Wie sie erklärte, hatte ihre Sorge darin bestanden, es könnte beim Zerschlagen ein Teil des Stuhles irgendwo hinfliegen und jemanden verletzen. War aber alles gut gegangen .......

Der Kampf der Frauen wird so wohl noch eine Weile weitergehen müssen .....

 

 

 

Frankfurt, den 9. August

Ein kurzer, sehr heftiger Schauer am Nachmittag – und schon stürzte das Thermometer auf 24° C herab! Kurz vorher waren es noch 34° C. Die Welt atmet auf. 

Am letzten Montag hatten SPD und Friedrich-Ebert-Stiftung in Frankfurt zu einem Gespräch über „Kultur und Vielfalt“ eingeladen. Konkret versteckte sich hinter dem Titel die Frage: was kann die Kultur zur Verbesserung der Integration tun?  Die  Organisatoren versprachen ein „hochkarätiges Podium“ – und tatsächlich: ich war sehr froh, diese drei Kulturschaffenden, von denen ich bislang nichts wusste, kennen zu lernen.

Die Moderatorin Dr. Ina  Hartwig (die in Frankfurt auch als Kulturdezernentin wirkt) stellte zunächst Idil Baydar vor, eine Frau aus Celle, die in Berlin als Schauspielerin und Kabarettistin die Figur einer „Krawall-Türkin“ (ihre Bezeichnung) schuf, mit Namen Idet Aische. Die Kabarettistin wurde gefragt, wie sie denn darauf gekommen sei. Ihre Antwort (aus dem Gedächtnis zitiert): „Als ich in den 90ern nach Berlin kam, sprach die Jugend aus der 2. und 3. Generation der Zuwanderer reines Berlinerisch. Heute aber benutzt die 3. oder 4. Generation einen erfundenen türkisierenden deutschen Dialekt.“  Wie ist es dazu gekommen?   Die Antwort klingt einfach: als die Jugend der 3. und 4.. Generation immer noch und immer wieder von den Deutschen  nur als „Migranten“ und als zweitklassig behandelt wurde, zog sie sich auf eigenes Terrain zurück, schuf sich ihre eigene Sprache. Ich schaute mich nachher im Internet um und sah Baydars Aufführungen, die mich faszinierten. Etwa im Stil der deutschen Kollegin „Cindy aus Marzahn“ , aber selbstbewusster und mit regelmäßigen Höflichkeitsformeln durchsetzt, machte sie ihrem Publikum deutlich,  wie die Demütigungen und Taktlosigkeiten wirken, denen türkische Proletarier  ausgesetzt sind. Nicht nur sie: nachdem sie ihre Bewunderung für Kollege Böhmermanns Kunst zum Ausdruck gebracht hatte, kam ihr die Idee, dass die Beschimpfung des türkischen Staatspräsidenten, für die Böhmermann besonders bekannt geworden ist, offenbar dem Bild entspreche, das die Deutschen sich von den Deutsch-Türken gemacht hätten: so gesehen, wird die „Freiheit der Kunst“ gleichzeitig zur groben Beleidigung des Nachbarn. Das entnahm ich, wie gesagt, dem Internet, nach der Veranstaltung. Am Montag Abend sprach Frau Baydar wie eine scharfsinnige, taktvolle Frau, die zeigt, wie und warum sie auf der Bühne darstellt, dass „Integration“ keine Einbahnstraße sein kann.

Der nächste Gast hieß Susanne Pfeffer. Sie leitet in Frankfurt das Museum für moderne Kunst. Begegnet Ihnen Rassismus auch im Kunstbetrieb? fragte Dr. Hartwig, und Frau Pfeffer antwortete, als hätte Dr. Hartwig sie gefragt: wie gehen  Sie mit Rassismus im Kunstbetrieb um? Antwort: Über Sichtbarkeit. Über Identität. Wer spricht? Kunst arbeitet jenseits von Sprache. Viele Anregungen kämen aus den USA. Der Aufruf von #metwo biete einen Spiegel in Einzelmeldungen, aber immerhin könne man mehr aussprechen. In Deutschland gehe es um Kollektiverfahrungen.  (Aus der Erinnerung zusammengefasst.)

Der dritte Kulturschaffende war Anselm Weber, der derzeitige Intendant des Frankfurter Schauspielhauses.  Er berichtete von seinen Bemühungen um Integration an vorherigen Arbeitsstätten: bis 2017 in Bochum, hatte er dort am Anfang den „Faust“ von einem türkischen Regisseur inszenieren lassen, die „Medea“ von einem tunesischen Regisseur. Ihm schlug daraufhin ein so breiter Widerstand entgegen, dass er sich zurücknehmen musste. Auch in Frankfurt stoße er auf Schwierigkeiten.  Ich kopiere im folgenden einen Ausschnitt aus Webers Text  von der Webseite des Frankfurter Schauspielhauses über sein Jugendprojekt, das über drei Jahre laufen wird und das jetzt mit dem zweiten beginnt:

„Erfolgreich haben wir mit unserem großen kulturellen Bildungsprojekt »All Our Futures« begonnen, das jetzt mit fast 200 Jugendlichen, neun Pädagog_innen und zehn Künstler_innen aus der freien Szene an drei verschiedenen Orten der Stadt in seine zweite Runde geht. Beim Austausch der verschiedenen Welten aller Teilnehmer_innen geht es um die Erforschung des Eigenen und des Anderen. Der Blick auf die eigene Identität umfasst dabei den Blick auf verschiedene Gemeinschaften.“ Acht Schulen sind beteiligt; die Stadt hat keinen Zuschuss gegeben, wie Weber erklärte. Er würde leicht einen ganzen Abend über das Projekt reden können, und es klang verlockend.

Aber ich hatte an dem Abend noch einen zweiten Termin und verließ kurz nach diesem  Punkt die Veranstaltung. Ich werde mich vielleicht beim Theater noch genauer umsehen, ob es irgendwo Zugang zu diesem Jugendprojekt gibt.

Ach, es lockt ja so vieles!

Jedenfalls wünsche ich mir auch von politischer Seite öfter solche „hochkarätigen“ Veranstaltungen!

 

 

 

 

 

Frankfurt, den 5. August

Die Abenddämmerung begann, da kam ich nach Hause. Erstmal habe ich alle Fenster aufgerissen. Das Thermometer zeigt jetzt am Abend um halb zehn noch 30°C. Aber es weht eine leichte Brise.

Ich war fünf Tage in Luxemburg - es war genau so heiß dort wie hier, im Großen und Ganzen - ich glaube, bis 38° wie in Frankfurt haben wir es dort nicht geschafft. Anstrengend wird es allemal. Und doch - es geschah viel, so kommt es mir vor. Am ersten Abend traf ich die beiden Künstlerinnen Pascale Velleine und Nathalie Zlatnik beim Abendessen auf einer Wirtshausterrasse in Beaufort, das liegt in der Mitte des Landes Luxemburg; wir speisten köstlich; ich bestellte eine "Bouchée à la Reine", ein uraltes Rezept, das ich von früher kenne und es schmekte genauso gut wie früher.

Ich habe ja 33 Jahre in Luxemburg gelebt, habe dort vielerlei Menschen und Gruppierungen kennengelernt, habe meinen Gaumen entwickelt, mein Französisch, meine Sprech- und Schauspielfähigkeiten, habe Reiten gelernt und vieles andere. Seit den 27 Jahren, da ich von Luxemburg weg bin, haben sich die Stadt und das Land weiterentwickelt, teilweise nicht wieder zu erkennen, teilweise noch immer wie früher. So bestellte ich gestern Abend eine "Hamesschmier", ein Schinkenbrot - und es war genau wie früher. Ein kräftiges Landbrot, ordentlich mit Butter beschmiert, und dann die hauchdünnen Schinkenblättchen im Überfluss darüber geschüttet.... Köstlich.

In Beaufort findet zur Zeit ein "Art Festival" statt, an die hundert Künstler stellen aus, fast alle aus Luxemburg: Bilder, Skulpturen, Installationen, Filme; Schriftsteller lesen, Musiker musizieren. Es dauert bis zum 15. August. Das Schönste aber sind mir die Begegnungen,  da ich die meisten seit mehr als zwanzig Jahren nicht gesehen. Was zählt, ist die Unmittelbarkeit der Begegnung, ob bekannt oder unbekannt. Ich weiß, dass hinter jedem älteren Gesicht ein Mensch verborgen sein kann, mit dem ich vor zwanzig, dreißig Jahen irgendwas zu tun hatte. Entweder kenn ich den/die andere oder er/sie mich wieder, oder wir gehen aneinander vorbei. Und bei manchen jungen vergesse ich die Zeit, erkenn sie wieder und stelle fest, dass es der Sohn jenes alten Bekannten ist ...Ich lernte neue Freunde kennen, die mich beeindruckten, mit denen sich eine selbstverständliche Beziehung ergab....

Pascale Velleine ist meine Tochter, und das war noch eine andere Freude. Ihre Ausstellung zusammen mit ihrer Freundin Nathalie Zlatnik - eine Offenbarung!  Pascale ist in Luxemburg geboren, sie fasst seit einigen Jahren neu Fuss dort. Auch bei ihr spielt das "früher" und das "Jetzt" keine unwichtige Rolle, wenn auch ganz anders als bei mir. Und gleichzeitig weiß sie sich in Paris zuhause.

Gestern und heute habe ich eine ältere Feundin besucht, sie ist schon neunzig, ich kenne sie seit der Uni. Viele Jahre war ich bei meinen Luxemburger Besuchen in ihrem Haus ein willkommener Gast. Seit etwa zwei Jahren ist sie in eine Altersresidenz gezogen, und sie fühlt sich nicht ganz glücklich dort, nachdem sie in ihrem ganzen Leben fast immer nur selbst über sich bestimmt hatte. Zwiespältige Empfindungen: ich geb ihr recht, oder ich rede ihr gut zu, die Regeln zu akzeptieren, abwechselnd, je nach dem. Doch bin ich in Wahrheit nur wenige Stunden mit ihr zusammen, und in all der übrigen Zeit muss sie selber sehen, wie sie zurecht kommt. An manchen Regeln kommen mir wirklich Zweifel....

Das Land Luxemburg kann ich nicht beschreiben, es ist gleichzeitig zu klein und zu vielfältig. Ich kenne es zu gut und ich kenne es gar nicht. Es erhält sich seine Kohärenz - trotz fast der Hälfte von Nicht-Luxemburgern im Lande - über die Sprache, das Letzebuergische, das heute ein viel größeres Gewicht errungen hat. Und tatsächlich lernen es heute viele Zugewanderte. Vor vierzig Jahren galt es nur als "Moselfränkischer Diaiekt", eine Bauernsprache; heute studiert man "Luxemburgistik" und konsultiert zahlreiche Wörterbücher und Grammatiken. Es besteht inzwischen eine ansehnliche Literatur auf Letzebuergisch. Dennoch bleibt das Hauptmerkmal des Landes seine Dreisprachigkeit. Eine in vielen Jahrhunderten gewachsene Tradition.

Wenn man das alles nicht am eigenen Leibe erlebt hat, dann kann man es sich schwer vorstellen. Hinzu kommt der Reichtum, der sich u.a. in einer Art öffentlicher Gediegenheit ausdrückt: die Bänke, die Parks, die Museen. Die neuen Straßenbahnen...

Jetzt packt mich die Müdigkeit, morgen kommt ein neuer Tag, mit anderen Herausforderungen, hier in Frankfurt ..... Ich geh schlafen!

 

 

 

Frankfurt, den 15. Juli

Die Sonne hat sich in einen Wolkenpalast zurückgezogen. Immer noch zeigt das Thermometer 31 °C. Es war windstill, bis eben - plötzlich kommt Sturm auf. Aber regnen wird es voraussichtlich nicht, zu hoch liegen die Wolken. En paar Kinderstimmen werden laut zwischen den Häusern. Es ist halb acht am Abend.

In den letzten Tagen habe ich viel in alten Schriften gewühlt, hauptsächlich elektronisch. Schon seit den achtziger Jahren benutzte ich einen Computer; es wird zeitraubed die Disketten abzuspielen, auf dem alten Gerät, das ich noch immer besitze, und nutze, wenn ich was ausdrucken will. An meinen modernen Rechner habe keinen Drucker angeschlossen. Wenn ich auf Papier drucken muss, übertrage ich das Gespeicherte auf einen USB-Stecker und geh zum Kopierladen. Dort hilft man mir auch, wenn ich besondere Projekte plane.

Ich möchte nämlich endlich mal wieder ein Heft mit Texten zusammenstellen: "Essays I" nenne ich das erste, das fast fertig ist, und die Sammlung für "Essays II" ist schon angelegt. Ich fasse so die Jahre 2008 bis 2018 zusammen. Pascale Velleine besorgt das Cover.

Woher kommt mir auf einmal die Unternehmungslust, die mir so lange gefehlt hat? Ich weiß es nicht. Sie ist einfach da.Wenn ich auch all die Jahre immer geschrieben habe: in mein handschriftliches Tagebuch, in mein Webtagebuch, aber auch Artikel für die luxemburgische Zeitung "kulturissimo" (eine monatliche Kulturbeilage im "tageblatt"). Das "tageblatt" bekommt jetzt einen neuen Chefredakteur, und wahrscheinlich wird er mit den schönen alten Freiheiten aufräumen, die sich im "kulturissimo" ausgebreitet hatten: schreiben, was ich für richtig halte. Eher ältere Autoren nutzten die Möglichkeit ..... aber Jüngere legten dort  manchmal ihre Ideen über Poetik oder Musik auseinander.

Innerhalb der Literaturgruppe Poseidon in Darmstadt entstehen Texte; heute war übrigens der letzte Tag unserer Ausstellung zusammen mit dem Bund bildender Künstler aus Darmstadt zum Thema "Offenbach": OFFFUNDSTÜCKE hatten wir sie genannt. Sie fand im "Haus der Stadtgeschichte" statt, übermorgen fahr ich hin zum Abbauen. Ich hatte ein Gedicht über die französisch-reformierte Kirche geschrieben, und Bernhard Meyer aus Darmstadt hatte daraus ein "Künstlerbuch" gestaltet; es wurde auf einem eleganten Biedermeier-Pult ausgestellt und drumherum hingen "Fahnen", das waren Riesenseiten aus dem Buch, mit bunten Buchstaben. Das muss ich nun alles mit nach Hause nehmen. Wir wollen eine zweite Auflage vom "Künstlerbuch" machen, mit ein paar Korrekturen, die notwendig sind. Dann werde ich voraussichtlich im Rahmen der reformierten  Gemeinde in Offenbach nochmal eine Lesung machen und das Buch vorstellen.

Auch im "Literaturclub der Frauen aus aller Welt" arbeiten wir an einer neuen Anthologie, mit der wir obendrein unseren 20jährigen Geburtstag feiern wollen. Ich freu mich drauf.

Vor drei Monaten ungefähr wurde ich gefragt, ob ich eine Rezension über den Band "Rosenzweig, Luther und die Schrift" verfassen wolle, und ich sagte zu (nach einer Nacht des Bedenkens). Es war eine sehr anspruchsvolle Aufgabe. Das Buch war zum Lutherjahr erschienen, herausgegeben von Micha Brumlik. Franz Rosenzweig, der Religionsphilosoph vom Anfang de 20. Jahrhunderts, hatte 1926 einen Essay "Luther und die Schrift" veröffentlicht, und seine Sprachbegeisterung deckte sich mit seinem Deutschsein, das damals als selbstverständlich galt. Diese Konstellation ist durch die Verbrechen der Nazis zerbrochen - was lässt sich unter der Voraussetzung heute über Rosenzweigs damalige Gedanken sagen? Sehr viel, fand ich, und so freute ich mich auf eine Rezension in einer Fachzeitschrift. Dass ich dann gefragt wurde, sie selbst zu schreiben, erchreckte mich im ersten Moment. Dann habe ich mich mit großer Begeisterung darein vertieft. Ob sie tatsächlich gedruckt wird, weiß ich noch nicht. Es war jedenfalls der Mühe wert. Und ich warte ab.

Zwischendurch kommen immer mal wieder kleine Ausflüge: kürzlich nach Düsseldorf, wo ich nicht nur mit meinem Bruder Geburtstag feierte, sondern am andern Morgen noch eine Galerie besuchte, in der Vero Pfeiffer ausstellte, die Malerin, die Farben zum Subjekt macht. Zu Individuen! Keine gleicht der andern, und irgendwie wirken sie aufeinander. Sie stellte gemeinsam mit Jürgen Drescher aus, der riesige sandfarbene Objekte dagegen setzte: eins hieß "Die Sprechblase". Und über ihre Werke traten die Künstler in einen wortlosen Dialog miteinander....

 

 

 

 

 

 

 

Frankfurt, den 2. Juli

Die Freunde wollten ihn heben, um ihn in seinen Rollstuhl zu setzen, und während sie ihn hoben, verlor er das Bewusstsein. Aus dieser Ohnmacht wachte er nicht wieder auf. So starb Hilmar Hoffmann am 1. Juni, so erzählten es die Freunde jenen, die sich gestern, am 1. Juli, in Frankfurt in der „Denkbar“ trafen, um an ihn zu erinnern. Er selbst hatte für den 1. Juli die Vorstellung seines Buches an eben diesem  Ort geplant.  Die Erinnerung wirkte um so stärker.

Elisabeth Abendroth führte in den Abend ein: mit seinem fünfzigsten Buch habe Hilmar Hoffmann  vielleicht, oder nach ihrer Meinung,  sein wichtigstes geschrieben.  Es heißt: „Generation Hitlerjugend“ und  hat autobiografischen Charakter. Jochen Nix , der wunderbarste Sprecher in Frankfurt, las längere Abschnitte daraus vor,  und aus dem Gehörten wurde jedem Zuhörer einleuchtend und verständlich, was es war, das Frau Abendroth so beeindruckt hatte: Die Redlichkeit, die Genauigkeit, mit der Hilmar Hoffmann die eigenen Erfahrungen aus  der Kriegsgefangenschaft, der Nachkriegszeit beschrieben hatte. Er war ein begeisterter Hitlerjunge gewesen. Bereitwillig zog er, noch unmündig, mit anderen Unmündigen  in den Krieg. Die erwachsenen Soldaten in Russland schickten die Kinder zurück. In der Heimat wurden sie daraufhin an die Westfront beordert. Dort kamen sie in Gefangenschaft: als Gefangene mussten sie zuerst die Leichen all der anderen Hitlerjungen bergen, die neben ihnen im Kampf gestorben waren.

Ich habe das Buch noch nicht gelesen, es ist 600 Seiten lang. Der Verleger Axel Dielmann stellte die Lektoratsarbeit an dem Buch vor: wie er, der noch nicht mal 60-Jährige, mit dem 90-Jährigen sich habe auseinandersetzen setzen müssen, und wie der Ältere offenen Ohres und beweglichen Geistes auf ihn eingegangen sei.  Dielmann wollte eine Episode aus Hilmar Hoffmanns  Leben umfänglicher, vollständiger dargestellt sehen, als der Autor geplant hatte. Es war sein „Umerziehungskurs“ im englischen Wilton Park,  für den die britische Regierung die größten Denker des Landes zusammengerufen hatte – Bertrand Russel wurde genannt – und an dem insgesamt etwa 4000 junge deutsche Kriegsgefangene schon ab 1944 teilnahmen. Die Themen Demokratie, freie Presse usw., vor allem die eigene Erfahrung von freiem Austausch im Gespräch ermöglichten einen ganz neuen Blick auf die Freiheit. All das hinterließ Spuren, die sich beim Aufbau der westlichen Bundesrepublik später bemerkbar machten. Churchill hatte sich schon früh Gedanken darüber gemacht, wie diese verführte Jugend zurückgewonnen werden könnte, für ein anderes Deutschland. In Großbritannien lebten auch sehr viele deutsche Exilanten. Sie wurden in den sechswöchigen Unterricht einbezogen.

Die Denkbar war voll gestern Abend, und nachher blieben noch viele da, um miteinander zu reden.  Es war ein erschütternder Abend: für die Familie, für die Freunde, für die Anhänger von Hilmar Hoffmann. Ich selbst habe ihn kaum noch gekannt, ich bin zu spät nach Frankfurt gekommen. Aber seinen prophetischen Spruch: „Kultur für alle!“, mit dem er zeitlebens Politik betrieben hat, den trag ich gern weiter, so gut ich kann. „Kultur“ ist ein Deich gegen die Verdummung durch Ideologien, immer noch und immer wieder. 

 

Frankfurt, den 15. Juni

 

Kürzlich fuhr ich mit der S-Bahn nach Offenbach. Welche Erholung, als ich die Ansage hörte. Die Stimme der Ansagerin klang wieder  ausgeglichen und wohltönend, sie sprach klar und korrekt mit jenem wohlwollenden Unterton, der fremden Reisenden ein Gefühl von Willkommensein einflößt; alles, was sie sagte, hatte Sinn.

„Wieder“ sage, ich denn früher war das auch hier in Frankfurt so. Ich habe mich immer an der Stimme erfreut. Vor einem halben Jahr etwa begannen die Frankfurter Stadtwerke jedoch, die Ansage auf eine Computerstimme umzustellen.  Das wäre an sich nicht schlimm. Nur Spezialisten könnten heraushören, dass es sich um eine künstliche Stimme handelte – so weit sind heute die Computerkünste gediehen.  In Frankfurt hat man aber offenkundig einen Programmierer mit dieser Arbeit betraut, der keine Ahnung vom Sprechen hat, von der Kunst des Artikulierens und der Sprachmelodik.  Sozusagen einen Anfängerprogrammierer, einen, der sich nur mit  Digitalem auskennt, aber noch nie einen professionellen Sprecher gehört hat.  Nicht mit Bewusstsein.  Dem das Hören vielleicht überhaupt nichts bedeutet, nicht unter einer beträchtlichen Lautstärke.

In den Bussen und Bahnen Frankfurts leidet seither die Aussprache der deutschen Worte immer öfter unter einem Akzent, der weder ausländisch noch dialektal ist – dem Akzent von jemand, der Worte spricht, die ihm unbekannt sind:  er spricht mal zu langsam, mal zu schnell,  und vor allem, er betont immer wieder falsch. Da heißt es „s-bAAhn“, „landstrAAße“,  „umstAAiigen“,  stets mit einem sehr breiten „a“, wie ich es von keiner anderen Sprechweise kenne; „auf den  verkehr AACHCHten“ – ich vermag gar nicht, das in Buchstaben wiederzugeben, so fremd ist es allen mir bekannten Aussprachemöglichkeiten. Keine Satzmelodie mehr,  nichts  Vertrautes.  Es klingt verächtlich, überflüssig, als wäre es nur für Blöde erforderlich.  Da weiß man doch, warum man sich Stöpsel ins Ohr steckt!

Frankfurt rühmt sich seiner sprachlichen Vielfalt – doch geht es dabei immer um Sprachen, die Sinn vermitteln, die irgendjemandem vertraut klingen, denen allemal eine Kultur zugrunde liegt.  Unsere gemeinsame Umgangssprache ist Deutsch. Eine große Zahl von Zugewanderten bemüht sich redlich und gründlich, richtiges Deutsch zu lernen.  Und nur der Programmierdienst der Stadtwerke soll davon freigestellt werden? Nix Kultur? O, ich weiß, grammatische Fehler kommen nicht vor. Nur eben bei der vertrackten Aussprache, da hapert es.  Die lernt man leider nicht in der Schule. Nur etwa in der Hochschule für Musik , darstellende Kunst und Tanz. Oder bei Waggong im Bunker, in der Germaniastraße. Oder bei ganz vielen anderen Lehrern und Lehrerinnen in der Stadt und ihrer Umgebung. „Stimmbildung“ heißt das Zauberwort, es genügt auch „Sprechtechnik“.  In der Hochschule heißt es einfach „Sprechen“. Jeder Deutschlehrer kennt und lehrt die richtige Sprachmelodie.

Ich habe versucht, die Kulturdezernentin auf diesen Kulturmangel in den städtischen Bussen und Bahnen aufmerksam zu machen. Sie antwortete mir, dafür sei sie nicht zuständig.

Ja, wer ist es denn? Wer fühlt sich verantwortlich für die Sprache?

 

 

Frankfurt, den 5. Juni

Vierzehn Tqge lang war ich unterwegs, jetzt habe ich mich nach einem Tag wieder halbwegs hier eingelebt. Zuerst war ich in Valencia; eben habe ich mir Fotos ausgedruckt, die dort entstanden sind. Ich drucke sie in einer Drogerie aus; in den Computer werd ich einen Teil davon später einspeichern - ich spare gern Speicherplatz, und alle Fotos brauche ich sowieso nicht aufzuheben.

Valencia ist eine seltsame Stadt; solange man nicht dort war, kann man sich nach den allgemein verbreiteten Fotos kein Bild von ihr machen. Extrem moderne Hallen, angeblich eine uralte Stadt ......  Tatsächlich haben schon die Römer Valencia unter eben diesem Namen gegründet. Dort herrschten danach mal die Westgoten, mal die Mauren; immer lebte dort Mischbevölkerung, die verschiedenen Religionen bestanden nebeneinander. Und das sogar noch, nachdem im 13. Jahrhundert die katholischen Kastilier das Regiment übernahmen! Erst zu Beginn des 17. Jahrhunderts setzte sich die Inquisition in Valencia durch,  verjagte die Mauren oder zwang sie zur Taufe. Die Juden mussten schon etwa hundert Jahre früher verschwinden; von ihnen war in dem offiziellen Stadtführer  gar nicht die Rede. Erst durch gezielte Nachforschungen im Internet, auf Spanisch, fand ich Informationen über die jüdische Gemeinde, die es natürlich, wie in allen Handelsstädten,  gab (und auch heute wieder gibt). In einem Seitenschiff des Doms zierte das gotische Fenster ein großer bunter Davidstern; bei der Führung wurde dieser damit erklärt, dass "Maria von König David abstamme". Ob sich der Dom aus der einstigen Synagoge entwickelt hat?

Eine schöne alte Stadt, gebaut in den verschiedensten Stilen, mit zahllosen Kirchen und vielen weltlichen Gebäuden; die Bürgerhäuser oft im Stil von 1900. Der zentrale Platz mit seinem prächtigen Brunnen war mit Marmor gepflastert.

Valencia liegt in einer breiten Talmulde, in der Ferne erheben sich Berge. An Wasser mangelte es nie; so diente die Gegend den schönsten Zwecken der Landwirtschaft: Zitrusfrüchte, Ölbäume, Wein wachsen im Überfluss,  auch Reis, Feigen und andere Früchte wachsen hier und viele Arten Gemüse. Der  Fluss, Turia geheißen, floss früher außen an der Stadt vorbei. Nachdem er die Stadt immer wieder überflutet hatte, wurde er Mitte des 20. Jahrhunderts umgeleitet, in hinreichendem Abstand - ich habe ihn nicht sehen können. Was ich sah, war das einstige Flussbett, ein relativ breites Tal, das man in einen Park verwandelt hatte, einen Park für das Volk, öffentlich, mit allen Unterhaltungen, die ein Park bieten kann. Weiter flussabwärts, wo sich das Tal kurz vor dem Meer noch mal ordentlich verbreitert, hatte man in jüngster Zeit die Moderne aufblühen lassen, in gewagter Architektur all jene Großgebäude errichtet, die eine aufstrebende Stadt braucht: Stadion, Messehalle, Kulturzentrum. Ein mutiger Architekt aus Valencia hat das alles erdacht. Und oben auf den einstigen Ufern, von dort aus sich weit in die Landschaft ausbreitend, endlose Reihen von Wohnhäusern, acht- oder mehrstöckig. Die Avenuen, die dort hinführen, beeindruckten mich durch ihre breite Weitläufigkeit und ihre Bäume: abwechselnd Palmen und lila-blau blühende Bäume. So reichen zwei  Busstationen von den klobigen mittelalterlichen Stadttoren hin zum luftigen grünen Park mit den modernen Bausilhouetten im Osten und die modernen Vorstädte im Norden. Die Straßen- und Ortsschilder waren meistens zweisprachig beschrieben. Es sei eine Art von Katalanisch, was man hier traditionell spreche, erklärte man mir.

Ich war nicht aus touristischen Gründen in Valencia, sondern um alte Kollegen aus Europa wiederzutreffen; ich kam einen ganzen Tag zu spät, weil ausgerechnet an diesem Tag die französischen Fluglotsen streikten. So verpasste ich die Stadrtführung. Was ich nicht verpasste und sehr genoss: die "convivialité" unter den Kollegen, das heißt eine Freude, sich zu treffen, ja, sich untereinander - wieder - kennen zu lernen, sich aus dem gegenwärtigen Leben zu erzählen, in dem Bewusstsein, dass wir alle ein wenig unsere Wurzeln hinter uns herziehen, mit unserer Mehrsprachigkeit und den europäischen Lebenserfahrungen, die wir mit einsprachigen Inländern meistens nicht teilen können.

Nach drei Tagen - wehmütige Abschiede.

Von zuhause aus fuhr ich bald wieder los, diesmal nach Berlin, zu einem Familientreffen. Es gelang und brachte eine andere Art von "Convivialité" mit sich, das vertraute Miteinander von Leuten, die sich aus ihrer Kinderzeit kennen, die auf dieser Grundlage eine gemeinsame Sprache sprechen. Aber ich schaute auch ein klein wenig nach Berlin selbst, las jeden Morgen die Zeitung. Was mir darin auffiel, war ein gewisser schnoddriger Ton, der mit Schlagwörtern um sich warf, ohne Fantasie und ein bisschen vulgär. Aber natürlich nicht nur, es gab auch Seriöses. Offenbar brennen in Berlin öfter Busse (Stadtbusse),  ohne Fahrgäste, weil die Fahrer rechtzeitig merken, wenn ein Bus brennen will. Wir haben gut gegessen und sind gut bedient worden.

Na, ich schließ jetzt mal.

 

 

 

 

Frankfurt, den 15. Mai

Eindrücke von der "internationalen christlich-jüdischen Konferenz" in Frankfurt

Ich besitze eine Marionette, das ist eine Puppe, deren Gliedmaßen man an Fäden bewegen kann und die dadurch den Anschein von großer Lebendigkeit erhält. Sie ist eine alte Frau und heißt Claire.

Vor vielen Jahren spielten wir mit ihr – „wir“, das war ein Dutzend befreundeter Frauen, die gemeinsam um einen Tisch saßen.  Jede Einzelne nahm sie, improvisierte, erweckte sie zum Leben (wir waren eine Laientheatergruppe). Was mir damals auffiel und was mich zum Staunen brachte, war die Erkenntnis, dass dieselbe Puppe in der Hand einer jeden Frau einen anderen Charakter annahm, einen neuen, eigenen Ausdruck bekam. Sie wurde jedes Mal eine andere Person. Wie ist das möglich? Ich denke noch heute manchmal daran.

Gestern fiel mir  diese Erfahrung wieder ein, als ich auf der in Frankfurt stattfindenden „Internationalen Konferenz zum christlich-jüdischen Dialog“ einen Workshop über „Eschatologie“ besuchte.  Ich hatte ihn ausgewählt, weil mir das Thema bei meinen Forschungen über den Rechtsextremismus begegnet war und ich es nicht verstand. Im Workshop nun wurde man gebeten, über einen Text zu reden, in dem die Figur „Gott“ nach Belieben und Bedarf hin und hergeschoben wurde. In wieweit trägt auch Gott „Schuld“? Gilt für ihn „Sühne“? Bedarf er der „Vergebung“? Diese und ähnliche Fragen wurden allen Ernstes ausführlich behandelt – im Rahmen des christlich-jüdischen Dialogs ja durchaus von Relevanz. Mit solchen Zuschreibungen kann man sich das Gewissen erleichtern. Warum hat Gott die Verbrechen nicht verhindert? Das Thema „Messias“ trat zuletzt auch in den Vordergrund, ich habe die Anschlussstelle vergessen (habe übrigens gar keine Notizen gemacht, so abstrus oder unbegreiflich kam mir die Sache vor).  Nach Beendigung der sehr zahlreich besuchten Veranstaltung sagte ein Mann neben mir im Aufstehen: „Ja, wir haben ihn, den Messias. Sie hätten ihn auch haben können! Wollten aber nicht!“ und im Ton seiner Stimmer klang ein „Selber schuld!“ mit,  Selbstzufriedenheit, ja, Schadenfreude.  Als ich ihm auf der Treppe wieder begegnete – jetzt in einen bayrischen Janker gekleidet – nahm ich das kurze Gespräch noch mal auf und sagte: „Schadenfroh ist auch froh.“ Er verstand erst nicht, denn auch als Christ ist man natürlich nicht schadenfroh. Ich verwies ihn auf das, was er eben gesagt. Er fand, er habe nur gesagt, was ist: „Denen fehlt was!“  Und das machte ihn froh. Damit endete das Gespräch.  Mich fröstelte.

Heute geht die Konferenz weiter. Ich weiß nicht, ob ich die Kraft aufbringe,  sie noch einmal zu besuchen. Ich war ja schon Sonntag da, und alles, was ich dort erlebt habe, bewegt mich tief.  Ich kann das so schnell nicht einordnen.

Vielleicht sollte ich es von Claire erzählen lassen? Dann würde ich auch ihren Eindruck von dem, was unter "Eschatologie" läuft, mit einbeziehen. Es fehlt mir aber leider dazu das Publikum ....

 

 

 

Frankfurt, den 23. April

Was unterscheidet einen Monolog von einem Dialog? Die Antwort klingt einfach: Wenn auf der Bühne nur einer steht und redet, dann nennt man das einen Monolog. Wenn zwei da stehen und abwechselnd reden, dann ist das ein Dialog.

Wenn es so einfach wäre. Auch der Monlogsprecher redet jemanden an: das Publikum nämlich. Nur sind dies ihm unbekannte  Leute. Manchmal antworten sie ihm, durch Applaus zum Beispiel. Meistens gilt der Beifall aber seiner Darstellung als Schauspieler, und nicht dem Inhalt seiner Rede.

Faktisch kommt ein Monolog auch im Alltag häufig vor, grade zu zweit. Wenn man in einem Caféhaus sitzt, hört man das oft am Nachbartisch. Ein Gast redet, der andere hört zu - oder tut zumindest so als ob. Der Redende wünscht Zustimmung. Dazu genügt ein Nicken des Kopfes. Eine ausführliche Antwort, gar eine Widerrede, würden ihn stören.

Wo ich an solchem Monologisieren in letzter Zeit am meisten Anstoß nehme, ist innerhalb der SPD. Ich gehe noch immer auf die Versammlungen des Ortsvereins. Dort wird oft und lange geredet. Aber immer in Monologen. Die Rednerliste bestimmt die Reihenfolge der "Redebeiträge", die Reihenfolge hängt davon ab, wer sich wann meldet und der/die Versammlungsleiter die Meldung wahrnimmt. Inhaltlich haben die Reden meistens nichts miteinander zu tun, es sind jedenfalls nie Antworten auf das, was jemand zuvor gesagt hat.  Jeder spricht das aus, was er/sie sich zuhause vorgenommen hat, was ihn/sie beschwert, was er/sie sich von der Seele reden will. Danach setzt man sich befriedigt wieder hin. Was die andern sagen, ist dann nicht mehr so wichtig. Ein gemeinsames Verändern wird nicht erwartet.

Dieser Tage bin ich auf Sätze von Franz Rosenzweig gestoßen (das war ein deutsch-jüdischer Philosoph vom Anfang des 20. Jahrhunderts), die mich sehr bewegt haben. Ich bin von Beruf Übersetzerin; d.h ich versuche Aussagen aus einer anderen Sprache ins Deutsche zu übertragen - Europa wäre ohne Übersetzer und Dolmetscher gar nicht denkbar. Rosenzweig hat sich mit Luthers Bibelübersetzung beschäftigt; das vergangene Lutherjahr brachte diese Überlegungen wieder ans Tageslicht. Die Sätze lauten:

"Übersetzen heißt zwei Herren dienen. Also kann es niemand. Also ist es wie alles, was theoretisch besehen, niemand kann, praktisch jedermanns Aufgabe. Jeder muss übersetzen, und jeder tuts.  Wer spricht, übersetzt aus seiner Meinung in das von ihm erwartete Verständnis des Anderen, und zwar nicht eines unvorhandenen allgemeinen Anderen, sondern dieses ganz bestimmten, den er vor sich sieht und dem die Augen, je nachdem, aufgehen oder zufallen.  Wer hört, übersetzt Worte, die an sein Ohr schallen, in seinen Verstand, also konkret geredet: in die Sprache seines Mundes. Jeder hat seine eigene Sprache.  Oder vielmehr: jeder hätte seine eigene Sprache, wenn es ein monologisches Sprechen, (wie es die Logiker, jene Möchte-gern-Monologiker, für sich beanspruchen) in Wahrheit gäbe und nicht alles Sprechen schon dialogisches Sprechen wäre und also – Übersetzen."

"Wenn es ein monologisches Sprechen gäbe" - was bedeutet das? Richtig: jeder spricht irgend jemanden an. Aber nicht jeder mag zuhören. Ein Kind, dem niemand zuhört. verlernt das Sprechen oder drückt sich anders aus - vielleicht mit Gewalt, weil es auf diese Weise wenigstens etwas Aufmerksamkeit erhält.

Was will aber Rosenzweig sagen? Er geht vom Übersetzen aus, d.h. von dem  Bemühen, etwas Eigenes, oder Vorhandenes einem andern verständlich zu machen. So dass es zu einem Eigenen des andern werden kann, das mir dieser zurücksendet mit der Bemerkung: "Ich verstehe." Ist das nicht ein Zauberwort: Ich versteh dich? Denn damit wachsen Kinder auf: sie wollen gehört und verstanden werden, sie wollen das Andere, den oder die anderen verstehen. Das Verstehen schenkt Ruhe, Frieden, Zufriedenheit. Für einen Moment, denn dauernd dringt Neues auf uns ein. Und so fragen wir weiter, und hören, und antworten .....

So entsteht natürlicher Dialog. Und mir dämmert: der Unterschied zwischen "Monolog" und Dialog" besteht nur oberflächlich. Im Grunde geht es immer um Rede und Antwort. Wer monologisiert, fürchtet Antworten, die ihn selber bedrohen, als Person, als Mensch; er hat gelernt, dass  er solche Antworten immer fürchten muss; darum hütet er sich vor allen Antworten, die ihn nicht in seinem Selbstbewusstsein bestärken. Die  derzeitige Coaching-Industrie stützt sich darauf, dass jeder lerne, so zu antworten, dass der andere sich persönlich gestützt fühlt. Das bietet natürlich Platz für Manipulationen - die Werbung beruht darauf.

Es hat die gute Seite, dass jeder lernt, den anderen wahrzunehmen. Da ist jemand. Die Kehrseite führt zum Mobbing: die Wissenschaft der persönlichen Verletzung. Das beginnt heute auch schon im Kindergarten, so dass die Kinder früh lernen, sich dickhäutig zu machen. Vertrauen geht verloren.

Im Ortsverein habe ich Rederecht. Dort nehme ich mein Recht wahr. Ich sage, was ich denke, ich sage es so, dass mich keiner dafür angreift.  Wenn mir das gelingt, dann genügt mir das. Ich rede, also bin ich. In der SPD ist momentan sehr gern von "Erneuerung" die Rede. Zumindest Nahles sagt aber nicht, was, wen und wie sie "erneuern" will. Sie verspricht es nur, es wird zu einer Leerformel. Ihre Gegenkandidatin Simone Lange ist konkreter: zum Beispiel "Hartz IV" zurücknehmen. Wie das praktisch möglich sein könnte, hat sie sich wahrscheinlich auch schon ausgedacht. Ihre Konkretheit bescherte ihr auf dem gestrigen Parteitag einen "Achtungserfolg".

Auch Simone Lange redet erstmal viel. Doch ohne überflüssige Worte, sie spricht in ungewohnter Klarheit, es klingt alles sehr durchdacht und freundlich obendrein. Man merkt: es gäbe schrecklich viel zu tun in der SPD: modern werden, endlich solidarisch sein, die andern sehen und hören, darauf Antworten finden.... Simone Lange erscheint mir als eine Meisterin des Dialogs. Ich hoffe auf die Bereitschaft der anderen, von ihr zu lernen. Wie macht sie das mit ihrer Koalition in Flensburg? wäre nur eine der möglichen Fragen.

Fragen führen zum Dialog. Im Fragen liegt die Zukunft. Ohne Vertrauen keine Fragen. Wie finden wir zum Vertrauen zurück?

 

 

Frankfurt, den 18. April

Welch zauberhafter Frühling wird uns in diesen Tagen zuteil! Wie mich das Grünen und Blühen doch jedes Jahr wieder überwältigt! So plötzlich taucht es auf, verändert die Landschaft und noch den kleinsten Ausblick aus dem Fenster (ja, momentweise sogar dort, wo nichts als eine Hauswand zu sehen ist). Bei mir singen auch wieder ein paar Vögel, im Gegensatz zum letzten Jahr.  Und mein eigener Ahornbaum auf dem Balkon, aus einem Samenkorn gezogen, richtet sich stolz wie ein pubertäres Jüngelchen der Sonne entgegen! Er dürfte etwa 9 Jahre alt sein. Zahllose Ringelblumen folgen mit ihren ersten zwei Blättchen.

Letztes Wochenende war ich in Dortmund. Wir hatten ein Klassentreffen, es kamen aber schließlich nur fünf.  Und von diesen fünf gab es zwei, die in Dortmund wohnten und die wussten: am Samstag findet eine Neonazi-Demonstration statt. Davor fürchteten sie sich so sehr, dass sie nicht bereit waren, Samstag in die Stadt zu kommen. Ja, es war sogar die Gedanke aufgestiegen, unser Treffen abzusagen. "In Dortmund ist Samstag die Hölle los!" hieß es.

Wir übrigen drei aber hatten schon Hotel und Zug gebucht. Eine rief bei ihrer Schwester an, um nachzufragen; diese erkundigte sich bei der Polizei und erfuhr: niemand wird bedroht, wir haben alles unter Kontrolle. Ich rief im "Dortmunder U" an, weil ich dort am Samstag eine Ausstellung aus dem Kongo besuchen wollte. Dort war aber tatsächlich geschlossen, weil die Demo-Route direkt am Museums-Eingang entlang führte, wo die Polizei rundum abgesperren würde. Auch für Fußgänger.

So begaben wir uns am Samstag Vormittag neugierig in die Stadt. Liebliches Frühlingswetter. Die Straßen voll, wenn auch nicht überfüllt. Ab Hansastraße, weiter oben: Markt, mit Obst und Gemüse, mit orientalischen Früchten und Blumen, mit Fisch- und Reibekuchen-Ständen. Friedlicher Betrieb überall. Wir strebten zu einem Bäcker, der mir aus meiner  Kindheit bekannt ist - und der noch aus dem 19. Jahrhundert stammt - wo es einge Spezialitäten gibt, die ich mir gern nach Frankfurt mitnehme. Eine Straße weiter sahen wir eine Demonstration, liefen hin, guckten. Es war die antifaschistische Gegendemo, einen Kilmeter weit weg von den Nazis. Parteien, Kirchen, Gewerkschaften, Schulen ließen Fahnen wehen - ein fröhliches Volk und friedlich.

Wir kehrten zum Markt zurück und verzehrten Reibekuchen mit Apfelmus. Anschließend fuhren wir mit Bahn und Bus zur Hohensyburg. Das war in meiner Kindheit ein Tagesausflug, zu Fuß natürlich. Jetzt brauchten wir nur vom Bus in Syburg aus die Viertelstunde hinauf zum Kaiser-Wilhelm-Denkmal zu wandern: an Ausflugslokalen entlang, zwischen hohen alten  Bäume hindurch, die auf weiten gepflegten Wiesen mit Narzissen und blühenden Sträuchern wuchsen. Ganz oben reitet der militärisch gekleidete Kaiser hinaus ins weite Land: man überblickt dort das breite Ruhrtal (ziemlich tief unter der Steilwand) und jenseits die vielfältigen Waldgipfel des Sauerlandes. Traumhaft schön. Nur wenige Spazergänger oder sportliche Radfahrer. Kein Lärm, sondern Sonne und Schatten und Vogelgeschmetter. Nicht weit entfernt stand wie immer die Ruine der Widukinds-Burg. Weiter unten schließlich das Spielkasino, ein Brutalo-Betonbau aus den 70ern, aber mit viel Grün und blühenden Pflanzen optisch unschädlich gemacht.

Gemächlich kehrten wir zur Haltestelle zurück, und als wir schließlich am Dortmunder Hauptbahnhof ausstiegen, stand am Ausgang eine Reihe von schwarzgekleideten Bundespolizisten, junge, unangressive Männer und Frauen, die jedem Aussteigenden prüfend ins Gesicht schauten und alle zwischen sich durchgehen ließen. An jedem Ausgang standen sie, unten und oben. Die Demos waren nämlich zu Ende, und die Demonstranten sollten friedlich in ihren Zug einsteigen. Neonazis sah ich überhaupt keine, nur "Autonome" oder Anarchisten, die sich vor dem Bahnhof in aufgeregten Grüppchen sammelten.

Das war alles.

Am Freitag Abend hatten wir drei Auswärtigen aber noch den Weg zum Theater gefunden. Das Dortmunder Stadttheater hatte eine Uraufführung zu bieten, dies war die zweite Vorstellung; ich hatte davon in der Zeitung gelesen und war neugierig. Die Regisseurin ging von Haydns Oratorium "Die Schöpfung" aus, um sich zu fragen: Was, wenn der moderne, digitalisierende Mensch einen neuen Menschen schafft, der zum Teil, oder ganz, nur aus Maschine besteht, fertig programmiert in die Welt geschickt? Was wird dann aus Adam und Eva?  Das Ganze war echtes Theater, dem Haydns Musik, vor allem dank den Sängern, sehr gut bekam und das uns mit echten Fragen zurückließ. Wie wird sich das Verhältnis von Mensch und Maschine weiter entwickeln?

Am schönsten aber waren die Frühstücke im Hotel, wo wir drei mit unerschöpflchem Gesprächsstoff beisammen saßen. Offenbar reichen die Erfahrungen unserer Schuljahre aus, um alles übrige in unserem Leben verständlich und erzählbar werden zu lassen. So scheint es mir. Wir haben eine gemeinsame Sprache.

 

 

Tagebuch Sommer 2018