Veröffentlichte Artikel

in "kulturissimo", monatliche Kulturbeilage zum "tageblatt", Tageszeitung in Luxemburg

Erschienen im November 2019

Gedanken zu Europa:

Innere Unruhe?

Von Barbara Höhfeld

Europa – die Begehrte! Die Geraubte! Die immer unterwegs Seiende! Dieses Urbild der griechischen Mythologie begegnete mir im Sommer 2019 in einer Pariser Buchhandlung mit dem Büchlein „Une Idée de l’Europe“. Es enthält fünf Vorträge von Gelehrten, deren Hauptfach nicht das Thema „Europa“ ist. Im Auftrag der französischen Internetseite „Le Grand Continent“ hielten die Fünf ihre Vorträge zu Europa in mindestens 19 Städten der Welt, von Bukarest bis Lissabon und New York, von Talinn  bis Rom und Pretoria.  Danach dienten die Vorträge als Vorlage für das Buch.

Wer sind die Fünf Erwählten, die Neues zum Thema zu sagen verstanden? Ich nenne zunächst Myriam Revault d’Allonnes, weil sie als einzige sich ausdrücklich auf die altgriechische Legende der „Europa“ beruft: die phönizische Prinzessin blickt zurück auf ihre Herkunft, „mit einem Blick, der nach außerhalb ihrer selbst und zum Nicht-selbst reicht“, wie Revault d’Allonnes aus dem griechischen Namen schlussfolgert. „Ein Blick, der  nicht - von einem aus der Gleichheit hervorgegangenen uniformen Wesen - in dem Andern immer nur eine Form von sich selbst sieht, sondern im Andern auch den  Unterschied erkennt“. Die Philosophin will damit eine geopolitische Basis zur Definition Europas ersetzen durch eine vernunftorientierte Perspektive, wie sie in Europa geschaffen wurde. Vernunft verknüpft sich  mit kritischem Denken;  schon seit der griechischen Antike. Sogar früher: in der Thora, dem Alten Testament führt der Verzehr der Frucht vom Baum der Erkenntnis dazu, sich und den Andern zu erkennen – und so endet das Paradies. Europa war sein Lebtag in einer Krise.

Myriam Revault d’Allonnes, emeritierte Professorin für Philosophie aus Paris mit einem Schwerpunkt auf ethischer und politischer Philosophie, bezieht bald die Gegenwart ein, zitiert Husserl, der, von den Nazis verfemt, eine „Krise des europäischen Menschentums“ erkannte und nach dem „Lebenssinn“ fragte und in diese Frage natürlich auch die Judenverfolgung einbezog. Revault d’Allonnes greift nun diese Frage nach dem Sinn für die heutige Gegenwart auf. Hier findet sie den Nicht-Sinn – oder „non-sens“ – in der gegenwärtig herrschenden „Logik der Rentabilität“. Der Lebenssinn im Husserlschen Sinne gehe dabei verloren, befürchtet sie, diagnostiziert gleichzeitig ein „Krisenbewusstsein“, die „Krise des europäischen historischen Bewusstseins“, das sie genauer analysiert. Auf diesem Wege entdeckt sie Paul Ricoeur mit seiner Feststellung: es sei der ständige Streit (discorde) zwischen Überzeugung und Kritik, der unter anderm den europäischen Erfahrungsraum so krisenanfällig mache, was natürlich auch mit den unterschiedlichsten Geschichtsbildern zu tun habe, die in Europa nebeneinander existieren. Vielleicht, sagt sie, führt uns diese lange Erfahrung mit Krisen heute in eine friedlichere Zukunft? Können wir sorgfältiger und umfassender mit Krisen umgehen als andere? Besteht gerade darin eine Qualität Europas?

Ähnliche Gedanken trägt auch Patrick Boucheron in seinem Text vor. Er ist Historiker (derzeit an einem Lehrstuhl am Collège de France, Paris) mit dem Schwerpunkt italienische Geschichte vom 13. bis 16. Jahrhundert. Die Geschichte der italienischen Stadtrepubliken, die als erste in Europa die gesame Stadtbevölkerung als ihre Bürger betrachteten. Siena dient als Beispiel - über Siena hat Boucheron ein ganzes Buch geschrieben, „Conjurer la peur“ heißt es, es ist als einziges seiner Werke auf Deutsch erschienen, mit dem Titel „Gebannte Angst“. 

Zwei Anmerkungen zu „Conjurer la peur“:  Boucheron ist einer der wenigen Historiker, die außer den „Fakten“ auch ihre Wirkungen in die Geschichtsschreibung einbeziehen, ja, ihre Wirkungen durch die Jahrhunderte nachzeichnen. Das ist das Interessante an dem Siena-Buch. Das andere, was ich dazu anmerken möchte: die deutsche Titel-Übersetzung ignoriert, dass im Französischen das Tuwort im Präsenz gebraucht wird, verwandelt es stattdessen in Vergangenheit, in etwas, das schon geschehen ist – also ein Faktum. Doch im Französischen klingt eben gerade das nicht an: „die Furcht bannen“ im Infinitiv, BLEIBT in dieser Form eine Aufgabe, die immer wieder neu angegangen werden muss, durch alle Jahrhunderte hindurch, und eben darüber schreibt Boucheron, nicht über schon „gebannte Furcht“!

Zurück zu „Une certaine Idée de l’Europe“. Boucheron zeigt sich durchaus nicht nur optimistisch. Er verfasste seinen Text zur Zeit der sogenannten „Flüchtlingskrise“ und sah eher schwarz für Europa, d.h. für die Europäische Union. Als er sich nach neuen Ideen umsah, traten ihm die italienischen Stadtstaaten vor Augen, deren Geschichte er so gut kannte. Ließen sie sich als Vorbild heranziehen? Als Zentren von Macht, Wirtschaftskraft, Kunst und Kultur vergleicht er sie mit dem, was sich bei uns heute als „Nationalstaat“ herausgebildet hat. Nicht dass er nicht auch Unterschiede bemerkte. Aber die Gemeinsamkeiten sind in den europäischen Verträgen vorgegeben: miteinander Frieden halten, Handel treiben, sich weniger als Rivalen denn als Verbündete begreifen und sich auch in geistigen Fragen austauschen.  Überdies sieht er Parallelen zwischen Europa und China: beide befanden sich bis zum 16. Jahrhundert auf gleicher Entwicklungshöhe (das stellte auch Leibniz fest, der 1646 geboren wurde). Aber als sich die Technik entwickelte, besaß Europa Kohle, und China nicht, so dass Europa China davon lief. Heute nützt Kohle nicht mehr wirklich ...... und China hat innerhalb von 30 Jahren aufgeholt –

Sobald man aufhört, schreibt Boucheron, die Welt danach zu beurteilen, was ihr im Vergleich zu Europa gefehlt hat, und fragt: was hat Europa gefehlt? eröffnen sich neue Perspektiven. Wenn nicht mehr nur „die Andern“ das Nicht-Wir sind, sondern wenn wir anfangen, uns selbst als „die Andern der Andern“ zu betrachten, kann aus den ehemaligen Kolonialherren eine Provinz werden, „Provinz“ in der herablassenden europäischen Bedeutung. Ertragen wir das? Immerhin ging die Idee der vergleichenden Wissenschaften im Wesentlichen auch von Europa aus. Gerade das „Collège de France“, 1530 von Francois 1er, dem französischen König, als Gegenkraft zu den Universitäten in Paris gegründet (die Universitäten erstarrten gerade unter der dogmatischen Fuchtel der Kirche), strebte nach Vergleichen. Darin, meint Boucheron, drückte sich eine Unruhe aus, die Europa zu jener Zeit schon deutlich ergriffen hatte: eine Unsicherheit des Urteilens, da diese oder jene Wahrheit sich ausschlossen und doch keine zu widerlegen war. Er zitiert sodann den modernen Autor Camille de Toledo mit dem Vers: „Voilà où nous en sommes après le vingtième siècle. / L’Europe se flatte d’avoir honte. / Elle s’en flatte tant / qu’elle s’indigne de ne pouvoir, / encore une fois, universaliser sa honte.“  Boucheron zitiert George Steiner, der als das kostbarste Erbe Europas dessen Fähigkeit zur Selbstkritik bezeichnet.

Thomas Piketti, bekannt geworden durch sein Buch zum „Kapitalismus im 21. Jahrhundert“, nimmt an der Europarunde ebenfalls teil. Auch er vergleicht: die Besitzverhältnisse in den Bevölkerungen, die wachsende Ungleichheit. In seinem Beitrag bezieht er das auf die Europäische Union und beanstandet vor allem die steuerlichen Entwicklungen in der EU. Nicht nur, das die Europäer als erste in der Welt ab 1990 die Unternehmenssteuern stark gesenkt haben,  sie kürzten auch die Mittel für soziale Bedürfnisse wie Gesundheit, Wohnung, Bildung. Die Exportpreise ließen sich dadurch senken. Auf den internationalen Handel umgesetzt, bedeutet das nach den harten Gesetzen der Konkurrenz: in armen Ländern wie Nigeria oder Indien werden die armen Leute weiter arm, krank und ungebildet bleiben, während bei uns eine niedrigere Stufe der sozialen Absicherung noch erhalten bleibt.

Auch intern schadet die EU nach Piketti sich damit selbst. Das liege daran, dass der Rat in fiskalen Fragen das letzte Wort habe. Im Rat der Finanzminister vertritt jedes Mitglied nur sein eigenes Land, oder seine Regierung, darf nur in deren Interesse sprechen, darf gar keiner Entscheidung zustimmen, die einer europäischen Mehrheit zuträglich wäre, wenn sie zum eigenen Nachteil führt. Piketti erinnert dagegen an Entscheidungen der frühen 50er Jahre, wo auf Frankreich und Deutschland riesige Staatsschulden lasteten – er  beziffert sie mit 200% vom Bruttosozialprodukt. Diese Schulden waren schon 1955 verschwunden! Im Falle Deutschlands allerdings aufgeschoben bis zu einem „Friedensvertrag“; doch 1990 waren auch diese Schulden weg, dank der Inflation. Verglichen mit dem damaligen Vorgehen wirken die europäischen Staaten heute kleinlich. Man denke an den Umgang mit Griechenland: sind denn die heute 18-Jährigen verantwortlich für die Schulden, die die alten  Regierungen aufgehäuft haben? Und auch, wenn die Schulden wegen der niedrigen Zinsen heute nicht ins Gewicht fallen – sie könnten sich als explosiv erweisen, sobald die Zinsen wieder steigen. Ist aber das Ziel der EU nicht Harmonie in der Vielfalt, fragt Piketti, bei hinreichender Absicherung für jeden und jede?

Zur  Behebung solcher Missstände schlugen er und andere um 2000 einen neuen Wahlmodus für das Europäische Parlament vor: dessen Abgeordnete sollten gleichzeitig im heimischen Parlament sitzen, um so die Verbindungen zwischen den Ländern und der EU deutlicher, ihre Beziehungen enger zu gestalten. „Unser oberstes Ziel muss es sein, die europäische Souveränität und die nationalen Souveränitäten in Einklang zu bringen.“  Ein solches Parlament könnte eine europäische Unternehmenssteuer und eine Steuer auf sehr hohe Einkommen auf den Weg bringen, deren Ertrag gemeinsam nach europäischen Gesichtspunkten verwendet würde. Dadurch würde auch dem Konkurrenzdenken zwischen unseren Mitgliedsstaaten seine Aggressivität genommen.

Sehr viel weniger Wirklichkeits-orientiert kommt mir Antonio Negri vor, ein weiterer Autor meines Büchleins, geb 1933 und ursprünglich Professor für Philosophie in Padua. Sein Hauptkriterium ist und bleibt die Ausbeutung der Arbeiter, was in seinem Denken dazu führt, dass er die bestehenden Ordnungsstrukturen erheblich umwandeln will: Europa müsse sich von Neoliberalismus, von Nationalismus und den übrigen autoritären System lösen. Es müsste sich auf Kooperation stützen, Kriege verhindern, eine ökologische Sozialordnung errichten, Arbeitsplätze für die Jugend und für Migranten beschaffen. Wie das geschehen soll, bleibt sein Geheimnis. Mir scheint, er denkt zu theoretisch. Negri bin ich im Internet bei einem Vortrag in Italien begegnet, und ich habe begriffen, dass er mündlich immer noch seine Zuhörer ergreifen kann mit der Darstellung der Ausbeutung des Einzelnen....  Diese existiert und ist zu bekämpfen!

Schließlich die Psychoanalytikerin Elisabeth Roudinesco. Sie lehrt Geschichte der Psychoanalyse, veröffentlicht aber auch in verschiedenen Medien, wo sie zu Tagesfragen Stellung nimmt, wie etwa Adoptionsrecht oder Antisemitismus. 2014 erhielt sie einen Preis für ihr Buch Sigmund Freud en son temps et dans le nôtre. Wie steht sie zum heutigen Europa ? Sie sucht nach Fixpunkten in der Vergangenheit, zunächst bei Kant und seiner Schrift  Zum ewigen Frieden, und zitiert: Für Kant ist „Frieden kein natürlicher Zustand zwischen Menschen, er muss deshalb gestiftet und abgesichert werden.“  Oder soll sie sich eher an die « Déclaration universelle des Droits de l’Homme » von 1948 halten? Weiter und immer weiter schweift sie durch die europäische Geschichte, findet  Vorbildliches und Abschreckendes, zuletzt die hysterische Überhöhung der Identitäten. Um nicht pessimistisch zu enden, stützt sie sich auf Victor Hugo, der in seiner Friedensrede vor dem internationalen Friedenskongress von 1849 den Völkern Europas zurief : « Un jour viendra …..  Et ce jour-là, vous vous sentirez une pensée commune, des intérêts communs, une destinée commune….. « Ich persönlich erinnere mich durchaus an solche Momente, und bleibe zuversichtlich.

Eine Frage indes bleibt unerwähnt : Das Problem der vielen verschiedenen Sprachen in Europa. Das Buch ist auf Französisch geschrieben, nur der Beitrag von  Antonio Negri wurde aus dem Italienischen übersetzt.  Außer ihm scheinen alle von Paris aus zu denken und zu schreiben – in ihren Aufsätzen beziehen sie sich nicht selten auf französische Standpunkte. Bei Roudineso gibt es explizit ein Kapitel zum « Pessimisme francais ». Der Umstand, dass die Entwicklungen in unseren Ländern oft durchaus nicht parallel verlaufen – man denke gegenwärtig an Spanien oder an Polen oder Griechenland! – erleichtert die Europapolitik ganz und gar nicht. Umso mehr bedarf es eben jener Diplomatie, die in Italien vor einem halben Jahrhundert entwickelt wurde. In jener Periode wurde aus einem « Botschafter », den man aussendet, der Botschafter im heutigen Sinne, derjenige, der vor Ort residiert. An der EU-Regierung, die es  derzeit in reduzierter Form ja schon gibt, beteiligen sich - was den Rat angeht - persönlich alle Minister der nationalen Regierungen, und sind – bei der Kommission – alle Länder vertreten mit der Aufgabe, die gemeinsamen Ziele zu erarbeiten und zu verfolgen. Ohne Übersetzungen wäre das nicht möglich.

Eine Schlussfolgerung : Jeder Mensch in Europa müsste als Erwachsener mindestens zwei Sprachen verstehen und sprechen.

Zeitschrift für christlich-jüdische Begegnung im Kontext, Heft 1/2 2018 (September)

  

Brumlik, Micha (Hg.)

(2017)

Luther, Rosenzweig und die Schrift

Ein deutsch-jüdischer Dialog

Essays

Mit einem Geleitwort von Margot Käßmann

CEP Europäische Verlagsanstalt

295 Seiten, ISBN 978-3-86393-082-0

Auch als e-book erhältlich, ISBN 978-3-86393-544-3

 

 Rezension von Barbara Höhfeld

 

Im Lutherjahr erschien unter dem Titel „Luther, Rosenzweig und die Schrift“ ein Buch zu Luthers Übersetzungskunst: eine vielstimmige, kritische, auch klärende Essaysammlung über das Verhältnis zwischen dem hebräischen Original der Bibel und Luthers Übertragung, in der sich die Übersetzungsfrage rasch zu einer Auseinandersetzung zwischen Rosenzweigs eigener Auslegung der Schrift, dem Gewicht des deutschen Nationalismus damals und später, überhaupt zwischen Geschichte und Religion, Schuld und Sprache erweitert.  Herausgeber ist Micha Brumlik.

Der jüdische Religionsphilosoph  Franz Rosenzweig  (1886 – 1929) veröffentlichte 1926 einen Aufsatz „Luther und die Schrift“, der hier im Jahre 2017 zum Mittel- und Ausgangspunkt  für einen „deutsch-jüdischen Dialog“ dient. Richtig: nicht christlich- jüdisch, sondern deutsch-jüdisch – so steht es im Titel.  Unter „Schrift“ versteht er den Tanach, die jüdische Bibel, was nicht genau dasselbe ist wie das christliche Alte Testament.

An dem Gespräch beteiligen sich jüdische und nicht-jüdische Gelehrte verschiedener Sparten; unter ihnen nimmt Micha Brumlik als emeritierter Professor  für Erziehungswissenschaften, ehemaliger Direktor des Fritz-Bauer-Instituts  und jetzigem Senior-Professor am Zentrum jüdische Studien Berlin/Brandenburg, einen besonderen Platz ein. In seinem Vorwort skizziert er Rosenzweigs Epoche mit dem Blick des Nach-der-Shoah-Geborenen: er sieht Rosenzweigs Essay als „eines der deutlichsten, wenn nicht das deutlichste Zeugnis jener Kultur, die das deutsche Judentum wähnte, dem Protestantismus zu schulden.“ 

Es folgt Rosenzweigs Original-Essay; daran anschließend kommentieren Heutige das, was Rosenzweig im Essay sagt; ihre Untersuchungen umfassen den von Brumlik herausgestellten Gegensatz ebenso wie die weiteren Verzweigungen von Rosenzweigs Gedanken.

Rosenzweig hatte (u.a.) gründlich Hegel studiert und war 1914 freiwillig in den Krieg gezogen. Schon 1913 hatte er sich in intensiven Gesprächen mit Freunden, die fast alle zum Christentum – meist Protestantismus – übergetreten waren, entschlossen, selber Jude zu bleiben. Im Krieg begegnete er dem „Ostjudentum“, bei dem er eine Unmittelbarkeit entdeckte, welche die westlichen Juden verloren hatten.  Zusammen mit dem Rabbiner Nehemia Nobel gründete er 1919 das Frankfurter „Freie Jüdische Lehrhaus “. Auch setzte er sich gedanklich und praktisch mit dem Übersetzen auseinander. Daher beginnt sein Essay aus dem Jahr 1926 mit den Sätzen: „Übersetzen heißt zwei Herren dienen. Also kann es niemand.“ Eigentlich sei alles Reden schon Übersetzung, meint er, nämlich Übertragung des Ur-Eigenen in etwas, das ein anderer  verstehen kann. So würden wir – übersetzend - zu einem „Mut der Bescheidenheit“ gelangen, der nicht das „erkannte Unmögliche, sondern das aufgegebene Notwendige von sich selbst fordert“. Und das, erkennt er, gehe über Luthers Text weit hinaus. Luther habe bei seiner Arbeit  „die Wünschelrute seines Glaubens“ besessen, d.h. seine Wortwahl folgte seinem persönlichen Glauben, der noch eine mittelalterliche Färbung hatte. Heute aber, sagt Rosenzweig, ist der Mensch „kein Gläubiger, aber auch kein Ungläubiger. Er glaubt und zweifelt.“ Rosenzweig, der mit Buber an einer neuen Verdeutschung der Bibel für solche Ungläubig-Gläubigen arbeitete, setzt gegen Luthers „Glaubenszwang“  „eine andre Glaubenshoffnung“.

Danach schreibt Walter Homolka über den „Reformator und seine Rezeption im Judentum“, ein Titel, dem er die zweifelnde Frage „Martin Luther als Symbol geistiger Freiheit?“ voranstellt. Tatsächlich war Luther ja vielfach als Vertreter neuer Freiheit gefeiert worden, in reformierten ebenso wie in jüdischen Kreisen.  Andere vertraten das nicht mehr. Dieser Essay behandelt die Stellungnahmen zum deutschen Protestantismus unter den jüdischen Wortführern in Deutschland, vor allem im  19. Jahrhundert.

Micha Brumlik verspricht  sodann zwar einen „Dialog zwischen Übersetzern“, zielt aber rasch auf das „Deutsch-Nationale“, das er Franz Rosenzweig nicht nachsehen kann, wenn er ihm einen „nie gekündigten  deutschen Nationalismus“ vorhält. Für  Rosenzweig stelle Luthers Übersetzung „nicht mehr und nicht weniger dar als die entscheidende Synthese von Deutschtum und Judentum“, so dass auch „der jüdische Volksteil ergriffen“ werde.  „Bei alledem fällt auf, dass Rosenzweig sich an keiner Stelle mit dem Antisemitismus seiner Zeit auseinandersetzt, geschweige denn mit Luthers damals durchaus... bekanntem, aber .... wenig thematisiertem Antijudaismus“. Im Weiteren aber folgt Brumlik dem Weg, auf dem sich Rosenzweig in seinem Essay von Luther  entfernt:  Luthers Wort  habe sich vom Glauben  gelöst und sei „zum nationalen  Besitz“ geworden. Rosenzweig wolle mit seiner und Bubers Neu-Übersetzung die Schrift von dieser Verkettung befreien.

Irmela von der Lühe, durch und durch Philologin, untersucht Rosenzweigs „Grenzgänge zwischen Philologie und Religion“. Als  fürsorgliche Wegweiserin führt sie ihre Leser auf einen kenntnisgesättigten, abwechslungsreichen Rundgang. Sie zitiert Margarete Susman, eine Rezensentin von 1926, mit „das große Dennoch der Verlebendigung des Ewigen, das zu erstarren drohte und das nicht bloß totes Kulturgut werden darf ....“,  und findet in ihren Worten eine „eher seltene Ehrenerklärung für die Philologie“, die ursprünglich mal „eine Wissenschaft von der Entwicklung, Veränderung und Erneuerung der Sprachen“ war. Irmela von der Lühe gelingt es, Rosenzweigs Wunsch nach Erneuerung der Sprache in philologischen Kategorien nachvollziehbar zu machen.

Auch Klaus Wengst, evangelischer Theologie-Professor em., schreibt „Warum die Schrift anders gelesen werden sollte, als Luther sie gelesen hat.“  Auch er erkennt in Luthers persönlichem Glauben dessen Richtschnur beim Übersetzen, und so finde Luther drei Aspekte im Alten Testament: das spezifisch Jüdische („belanglos“), die Unterscheidung von „Gesetz“ und „Evangelium“ und schließlich  halte er alles, „was er im Alten und Neuen Testament an Evangelium und Verheißung“ finde, für „... ausschließlich von Jesus Christus gesprochen“.   Auf diese drei Aspekte geht Klaus Wengst in seinem Essay ein und endet mit: „Im wirklichen Gespräch, das diejenigen führen , die nicht im bisher von ihnen Erkannten Recht behalten wollen und nur Bestätigung suchen, sondern den je anderen als Anderen wahrnehmen ... wird sich das Wort der Schrift je und je neu erschließen, ohne jemals ‚Besitz’ zu werden“.

Elisa Klapheck, Rabbinerin, stellt sich vergebens „Luther als Targum“ vor. Targum heiße auf Hebräisch eine mehrdeutige Übersetzung, und dem entsprechend hofft sie: „Der heilige Text wird nicht durch eine bestimmte Übersetzung versiegelt, sondern durch den Targum für einen Diskurs über verschiedene Verständnismöglichkeiten geöffnet.“  Eben daran habe Rosenzweig gearbeitet.

Vergleichbar Gesine Palmer: ihr Untertitel „... wenn erst einmal die Regel gesichert ist“ bezieht sich auf ein Zitat Rosenzweigs, das sich im Original wie folgt fortsetzt: „die Ausnahme sowohl umstrittener  als auch fragwürdiger und darum lehrreicher und interessanter ist als die Regel.“ Die Autorin wünscht sich im übrigen, dass auch der Koran auf solche Weise gelesen werden sollte.

Christoph Kasten bespricht ausführlich Siegfried Krakauers Kritik, ja, Verriss der Buber-Rosenzweig’schen Bibelübersetzung. Er vermutet, dass Rosenzweigs Aufsatz „Luther und die Schrift“ auch als Erwiderung an Krakauer gerichtet war. Kasten bietet hier einen gründlichen Einblick in die weltanschaulichen Differenzen der 20er Jahre. Krakauer etwa stritt der „Schrift“ jeden „Anspruch auf Wirklichkeitsbegründung“ ab.

Christian Wiese, Universität Frankfurt/M., kehrt zum Verhältnis zwischen Juden und Christen zurück, auf die „Geschichte des innerchristlichen Widerstreits zwischen der Orientierung des Christentums an seinen jüdischen Ursprüngen und der seit der Frühzeit der Kirche  bestehenden Neigung ..., sich davon zu trennen“. Er zitiert Leo Baeck: „Das Judentum sollte nie vergessen, dass aus seiner Mitte das Christentum hervorgegangen ist .......“ -  „Und die christliche Kirche sollte nie vergessen, dass es für sie keine Bibel ohne die jüdische Bibel geben kann....“.  

Nachdem er im Vorwort Scholem zitiert, der 1961 die Buber-Rosenzweig’sche Bibelübersetzung „das Grabmal einer in unsagbarem Grauen erloschenen Beziehung“ genannt hatte, schreibt Brumlik: „ob aus ihr nach dem Holocaust mehr als nur Resignation folgt, wollen wir in diesem vorliegenden Band erkunden.“

kulturissimo, März 2018

Vom Staat ist die Rede:

Das verborgene Ungeheuer

Barbara Höhfeld

 

Der Staat macht die Gesetze. Der Staat richtet die Ämter ein, bei denen man sich seine Bescheinigungen abholen kann oder muss.  Ein Staat hat Grenzen. Außerhalb dieser Grenzen gelten seine Gesetze nicht.  Ordnung und Sicherheit – mehr brauchte ich nicht. Ich fühlte mich  frei.

Als ich 1991 nach mehr als dreißig Jahren aus Luxemburg wegzog, um  in die Bundesrepublik zurückzukehren,  schlug mir dort in vielen Begegnungen eine große Wut gegen den Staat entgegen.  Ich  wunderte mich. Für diese Deutschen, links orientiert wie sie waren, schien der Staat eine Person zu sein, die ihnen Unrecht getan hatte.  Ein Feind, den sie bekämpfen mussten. Nach und nach begriff ich, dass sie alle durch  eine Lehre  gegangen waren, die grob gesagt, bei Hegel anfing und bei Adorno mündete, oder bei den neuesten Marx-Interpreten. Dazwischen lagen die Nazis.  Ich las hier und da Bücher darüber, Hegel selbst blieb mir unverständlich, aber es gibt ja genug Interpreten.  Anscheinend hielt er, so lernte ich,  „die Geschichte“ für eine der Welt und ihren  Lebewesen eingeborene Entwicklung, die im „Staat“ ihren höchsten Stand erreicht hatte. Im „preußischen Staat“,  höhnten manche.  Die Bundesrepublik, in die ich kam, hatte schon vieles von ihrem autoritären Gehabe abgelegt, das sie auch nach dem Krieg noch gezeigt hatte (ich spreche von der BRD-West). Zumal in Frankfurt herrschte eine traditionelle Großzügigkeit. Ich fand keinen Sinn in den Anschuldigungen, lobte stets den „Rechtsstaat“.  Ich bemerkte, dass nur Juristen diesen Terminus verstanden; die meisten andern meinten, wenn sie überhaupt dazu eine Meinung hatten, der Staat wolle eben immer rechthaben.

Interessant scheint mir daher die Frage: was bedeutet „Staat“ heute?

In „Gespräche über den Staat“  (erschienen 2017 bei C.H.Beck) hat der Direktor des schleswig-holsteinischen Landtags, Utz Schliesky, fünf Männer unserer Zeit danach gefragt, was sie unter „Staat“ verstehen. Alle Fünf waren oder sind an der Staatslenkung in führenden Positionen in Deutschland beteiligt. Obwohl Schliesky, der Herausgeber, den konservativen Denkweisen näher zu stehen scheint als  anderen, zeigen sich doch beträchtliche Unterschiede zwischen den einzelnen Bewertungen durch die Befragten.  Keiner stellt den „Staat“ als solchen in Frage.  Der Herausgeber selbst sieht sogar in der EU eine Gefahr für den Staat: die EU befördere eine „Entstaatlichung“ !

Utz Schliesky hat  2002 mit dem Thema „Souveränität und  Legitimität der Herrschaftsgewalt“ habilitiert. Als Verwaltungs-Chef des schleswig-holsteinischen Landtags leitet er nebenamtlich an der Universität Kiel  ein Institut für Verwaltungswissenschaft.  Er ist also wahrlich ein Fachmann. Das Buch eröffnet er mit einem  knapp fünfzigseitigen  Kapitel über die Geschichte des Staatsbegriffs.  Auch hier kommt er bald auf die Gefahr der „Entstaatlichung“ durch die EU, die „systembedingt“ sei, „wenn man die Folie des Nationalstaats zur Beurteilung ... heranzieht“. Die „nationale Identität“ sei ebenso in den Europaverträgen wie in der Verfassung geschützt. Das oberste deutsche Gericht, das Bundesverfassungsgericht, spreche stattdessen von einer „Verfassungsidentität“, die es auf verschiedene Artikel des Grundgesetzes stütze. Laut Schliesky  würde das Gericht „europäische Hoheitsakte, die nicht  von den von den Mitgliedsstaaten  übertragenen Hoheitsrechten .... gedeckt sind, in Deutschland für unanwendbar erklären“.  Das führe zwar zu einer „Schwächung der Europäischen Union“ räumt Schliesky ein, doch gelinge es auf diese Weise, „ein Machtgleichgewicht im europäischen  Herrschaftsverbund erfolgreich auszutarieren.“ (Würde nicht umgekehrt eine Stärkung der EU die deutsche Vorherrschaft schwächen?)

Streng nach Alphabet ordnend, befragt Schliesky als ersten  Robert Habeck von den Grünen,  stellvertretender Ministerpräsident von Schleswig-Holstein. Gleich zeigt sich wie schon in der Einleitung und bei den folgenden vier Gesprächspartnern, dass „Staat“ und „Nation“  als Begriffe  anscheinend in Deutschland nicht streng zu trennen sind. Nachdem Habeck den “Staat“  als „den formalen Ordnungsrahmen, der eine Gesellschaft zusammenhält“, definiert, fragt Schliesky nach: „Ist er heute noch mehr als ein funktionales System?“  Habeck hält ihm die „Werte der Aufklärung“ entgegen, „die wir wie selbstverständlich die letzten 250 Jahre hingenommen haben.“ Auch danach betont Habeck die Nüchternheit, mit der wir den Staat betrachten sollen – auch wenn er selbst „in den letzten fünf Jahren zu einem Staatsdiener geworden“ sei.  Das Recht zählt, und gleichzeitig bedürfe es einer  „Leidenschaft für die Inhalte“. In der Politik gehe es nie um Wahrheiten, sondern immer um Meinungen.  Und er bedauert eine grassierende „Elitenverachtung“,  die darin besteht, dass die Leute einfach nicht mehr glauben, dass jemand „lauter ist“, also ehrlich.  Er deutet an, so scheint mir, als gehe hier ein Samen auf, der einst durch die Verachtung des Staates gelegt worden sei.

Aus entgegengesetzter Richtung kommt Professor Peter M. Huber, der nächste Befragte, ein Richter im 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts und Mitglied der CDU/CSU. Auch er will den Staat nüchtern und funktional betrachten, doch sieht er im  „Gemeinwohl“ einen hohen ethischen Wert: „der Einsatz für das Gemeinwohl (wird) heute vielleicht nicht immer im gebotenen Umfang beachtet und wertgeschätzt“. Etwas später ringt ihm der Fragende doch ein Bekenntnis ab, wonach die  Organisation des Zusammenhalts und das Meistern einer Zukunft im Interesse aller in der „deutschen Identität“  tief verwurzelt sei. „Als einzige der westlichen Nationen – das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen – nennen wir den Staat ‚Vater’“, ruft er aus.

Professor Huber wird doppelt so lang befragt wie alle andern.  Warum das so ist, konnte ich nicht herausfinden.

Danach ist Norbert Lammert (CDU) an der Reihe. Zur Zeit der Befragung war er noch der Präsident des Bundestages (bis September 2017). Lammerts wohltuender Humor tritt gleich zu Beginn  in den Vordergrund. Auf die zweite Frage .“Ist unser Staat heute mehr als nur ein funktionales System?“ erwidert er : „Ganz sicher, was man spätestens dann bemerkt, wenn er tatsächlich oder vermeintlich nicht funktioniert. Die Wahrnehmung ist nicht dieselbe, wie wenn ein Auto nicht funktioniert oder das Internet ...“.  Er findet das „nüchterne Verhältnis“ der „meisten Deutschen zu diesem Staat“.. „ziemlich gut ausbalanciert.“ Wie aber sollte man nach Lammert mit der Macht umgehen? Schielsky fragt: „Welche Bedeutung kommt der Macht in einem demokratischen Verfassungsstaat zu?“ Lammert antwortet: „Prinzipiell derselben wie in jeder anderen politischen Verfassung.  Nur geht eben der demokratische Staat mit der Legitimation und Kontrolle von Macht anders um.  Aber es ist nicht eine andere Macht. Das sind nur andere Rahmenbedingungen für Machtausübung.“

Später erläutert Lammert, warum er gegen Plebiszite ist: „Wenn schon Entscheidungen der Natur der Sache nach richtig oder falsch sein können, empfiehlt es sich eigentlich, Verantwortlichkeiten identifizieren zu können. Die sind aber bei Plebisziten nie identifizierbar und bei  Parlamenten immer.“ Und zum Nationalstolz oder dergleichen meint er, dass zwischen Identität und Abgrenzung ein großer Unterschied bestehe: Identität ja, Abgrenzung nein.

Über dieses Buch schreibe ich, wie immer, in der Hoffnung,  die Leser und Leserinnen zur eigenen Lektüre zu verlocken.  Auch ist hier natürlich gar nicht Platz genug, um alles zu beschreiben. Über den nächsten Befragten darum  nur so viel: Prof. Dr. Edzard Schmidt-Jortzing ist Jurist, war in der letzten Kohl-Regierung Bundesjustizminister und vermag seine nationale oder nationalistische Seite in dem Interview nicht ganz zu verbergen.  (Er definiert den Staat gleich zu Anfang als „Identifikationssubjekt für .... die  überpersonalen affektiven Bedürfnisse“ der Menschen.)

Es folgt ein weiterer Jurist, Prof. Dr. Andreas Vosskuhle, Präsident des Bundesverfassungsgerichts. Er hält sich an den „klassischen Staatsbegriff“, der sich aus drei Elementen zusammensetzt: Staatsgebiet, Staatsvolk, Staatsgewalt. Alle drei seien ständigen Veränderungen ausgesetzt.  Das solle man zunächst „nicht metaphysisch aufladen“.  Aus einer Frage nach dem richtigen Weg für die Wirtschaft etwa möchte er keine Verfassungsfrage machen, sondern zieht politische Debatten vor: „Lassen Sie uns lieber politisch über die richtigen Wege streiten“.  Was den Rechtsstaat angeht, so erlebe er gegenwärtig  „eine Phase vertiefter Reflektion über die Leistungsfähigkeit des Rechts. Dies führt aber nicht notwendig zu einer Krise des Rechtsstaates, denn der Rechtsstaat  zeichnet sich gerade dadurch aus, dass er seine Voraussetzungen thematisiert und rechtliche Lösungen für auftretende Probleme sucht.“

Vosskuhle gehört als einziger der Befragten keiner Partei an. So fehlt mindestens ein Sozialdemokrat in diesem Buch. 

Aber es fehlt auch eine Frau. Frauen sind keine Minderheit, sondern die Hälfte des Ganzen; Frauen sind von ihrer Körperkonstitution her ebenso wie durch ihre Sozialisierung anders als Männer, ordnen ihre Bedürfnisse anders und schauen anders auf die Welt. Was bedeutet ihnen der Staat?  Die Frage bleibt unbeantwortet.

In der Neuzeit machte sich Thomas Hobbes mit seinem Werk „Der Leviathan“ als erster darüber Gedanken (1651). Der Leviathan ist ein Ungeheuer, schon aus vorbiblischer Zeit, aber in Talmud und Bibel aufgegriffen, das unbesiegbar stärker ist als jede andere Kraft.  Nur der biblische Gott kann seiner Herr werden, wenn er will. Hobbes hatte die Idee, den Staat als absolute Ordnungsmacht einen „Leviathan“ zu nennen,  einer, der jegliche Freiheit der Menschen zermalmt, ihnen dafür aber Sicherheit und eine Ordnung bietet. Hobbes, der schlimmste Bürgerkriege erlebt hatte, schien ein solcher Leviathan erstrebenswerter als der Horror ständiger Kriege.  Bei Arnold Gehlen las ich die spottende Bemerkung, dass der Sozialismus den Leviathan in eine Milchkuh verwandeln wolle. Was dieser Philosoph, der  anstelle des Rechtsstaates gern wieder das Recht des Stärkeren eingeführt hätte, als kindische Angeberei abtut.

Andreas Vosskuhle fordert politische Auseinandersetzungen um den richtigen Weg. Es gilt also, im politischen Streit die Grenze zum Bürgerkrieg zu erkennen und sie mit Hilfe des Rechtsstaates einzuhalten und zu wahren. 

Wird uns das gelingen?

 

(Erschienen in "kulturissimo" im März 2018)

Februar 2018

Tabuisierte Fragen:

Wie umgehen mit den Rechten?

Barbara Höhfeld

 

Jahrelang genügte es, sie zu ignorieren, über sie zu spotten, sie  „Nazi“  zu nennen, sie als Schandfleck zu betrachten. Das reicht heute nicht mehr. Die Wahlergebnisse sprechen eine harte Sprache.

Ich begann zu fragen: Was ist heute überhaupt “rechts“? Wer ist „rechts“? Die Rechten selbst nennen sich selten so. Sie sagen meistens: wir sind Patrioten! Wir lieben unser Vaterland! In Deutschland sagen sie auch: wir halten uns an die Verfassung.  Dies müssen sie ständig betonen, weil ihre Inhalte eben die Verfassung meistens nicht spiegeln. Ihnen geht es nicht um Menschenrechte, sondern um Rechte für „Deutsche“.

Eine Zeitschrift aus diesem Umfeld heißt „Junge Freiheit“,  existiert schon einige Jahre und wurde von vielen untersucht, die ihr misstrauen. Auf einem Blog des „Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung“ fand ich jemanden, der sich fragte, wie weit jenes Blatt das Gedankengut von Carl Schmitt wiedergibt. Dieser Schmitt war der Chefideologe der Nazis; eine seiner Thesen: kein Mensch ist dem andern gleich, und darum dürfen sie auch nicht gleich behandelt werden. Oder: Parlamentarismus ist überholt. Auf dem Duisburger Blog las ich, dass ein Mitarbeiter der „Jungen Freiheit“ offen von einer „Neuen Rechten“ gesprochen hatte, „die er als Kern einer geistigen Gegenelite verstand, die in der Lage sein sollte, in einer Situation der ‚großen’ Krise Führungsposition in Staat und Gesellschaft zu übernehmen.“ Zur Begründung wird der Mitarbeiter zitiert mit: „Es geht um Einsicht, wirkliche Einsicht haben nur wenige. Das kann nur eine Elite betreffen, es ist absurd zu behaupten, dass plötzlich Millionen von Menschen die tatsächlichen Zusammenhänge begreifen.“ Und in einem anderen Zusammenhang schreibe der Mitarbeiter: „Es müssen sich, um eine Formel Enzensbergers zu benutzen, historische Minderheiten bilden, die notfalls gegen erdrückende Mehrheiten ihre Position behaupten und wenn der Fall eintritt, handlungsbereit sind.“

Die „tatsächlichen Zusammenhänge“ entsprechen dann der rechten Ideologie. Soweit eine Richtung der intellektuellen Rechten. Eine andere Richtung wären die Verfechter der Volksabstimmung für alles, sie lehnen die repräsentative Demokratie ab.  Ich nenne sie hier die „Plebiszitären“. Nach ihrer Auffassung soll „der Bürger“ endlich selbst bestimmen und nicht die Parteien! Sie stützen sich auf einen schon in der Weimarer Republik virulenten Hass auf „Parteien“ – die anderen natürlich, nicht die eigene, die sie als „Bewegung“  verstehen. Wie damals die Nazis: ihre „Bewegung“ organisierten sie nach dem „Führerprinzip“, nicht per Wahl.

Das können sie sich heute nicht erlauben. In Deutschland  hat es die 2015 gegründete Partei „Alternative für Deutschland“ ( AfD) letzten September mit 94 Sitzen in den Bundestag geschafft. Eine politische Linie kann ich dort noch nicht absehen; anscheinend begnügt sich die Partei vorläufig damit, dass sie auf alle anderen schimpft. Es gibt auch heftige interne Auseinandersetzungen. Doch schaut man in ihre Satzung, erkennt man eine Ausrichtung: In der Präambel steht: „Die europäische Schulden- und Währungskrise hat viele Menschen davon überzeugt, daß die bislang im Bundestag vertretenen Parteien zu einer nachhaltigen, transparenten, bürgernahen, rechtsstaatlichen und demokratischen Politik nicht imstande oder nicht willens sind. Wir formulieren Alternativen zu einer angeblich alternativlosen Politik. Dabei bejahen wir uneingeschränkt die freiheitlich-demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland, unsere abendländische Kultur und das friedliche Zusammenleben der Völker Europas.“ Man erkennt am „ß“ in „daß“ die alte Rechtschreibung aus dem letzten Jahrhundert,  in der „abendländischen Kultur“ den einstigen Kampf der Kirchen gegen den Islam und im „Zusammenleben der Völker“ den Nationalismus.

In der Satzung steht auch, dass sich innerhalb der  Partei Untergruppen bilden können, „Vereinigungen“ genannt: „Das die Vereinigung definierende gemeinsame Merkmal der Mitglieder darf sich nicht beziehen auf Abstammung, Nationalität, sexuelle Orientierung oder Geschlecht.“ Das müssen Tabu-Themen bleiben, damit nicht der Verfassungsschutz sich einmische! Auch sonst kommen Frauen nicht vor. Alle Funktionsbezeichnungen treten nur männlich auf und in einem Absatz heißt es: „Einschränkungen des aktiven oder passiven Wahlrechts durch sogenannte Quotenregelungen sind sowohl bei Wahlen zu innerparteilichen Ämtern als auch bei der Aufstellung von Kandidaten zu öffentlichen Wahlen ausnahmslos unzulässig.“ Die männliche Mehrheit darf sich die Frauen, die sie zur Wahl zulässt, nach Geschmack aussuchen.

Lange Zeit dachte ich, es müsste möglich sein, mit Rechten zu sprechen. Je tiefer ich aber in ihre Denkweise eindringe – und das nur im Internet und nicht einmal auf Hetzseiten – desto klarer wird mir: hier stehe ich vor einem Glauben, einer Art Religion, einer Haltung, die gegebenenfalls bereit ist, andere Menschen auszuschließen - nicht nur aus der Gesellschaft, sondern aus dem Leben.  Es geht um die Menschenrechte.

Wahrscheinlich bieten die Menschenrechte überhaupt die Trennlinie zwischen „rechts“ und nicht-rechts. In der häufigen Hetze der Rechten gegen Migranten wird es deutlich ausgedrückt: Die Flüchtenden von 2015 hätten niemals über die deutsche Grenze kommen dürfen. Hätten sie vor den Grenzpfosten verrecken sollen?

Ein Zwischengedanke: es ist hier auf der anderen Seite zu bedenken, nicht der rechten, sondern ganz offiziell, dass die Bundesrepublik Deutschland seit langem Waffen und sonstige Kriegsunterstützung in Kriegsgebiete liefert, und doch hat sich offenbar niemand überlegt, was aus den Leuten wird, auf die die Bomben abgeworfen werden. Seit Jahren landen  Migranten in Süditalien; doch die EU, Deutschland an der Spitze, ließ Italien allein mit dem Elend. Auf einmal wurden es zu viele; Italien, genervt nach vielfältiger Zurückweisung, ließ sie nach Norden ziehen. Als Merkel ihren Satz sagte: „Wir schaffen das“, erhielt sie vom Boulevardblatt BILD Zustimmung. Die deutsche Wirtschaft witterte Billiglöhner, d.h. Arbeiter, die unter dem Mindestlohn arbeiten würden. Andererseits gab es – und gibt es immer noch - die „Willkommenskultur“.

Aber zurück zum Thema. Es lassen sich noch mehr Ausrichtungen im Bereich der Rechten aufzählen, etwa die „Reichsdeutschen“, die glauben, dass es gar keine Bundesrepublik gebe, dass noch immer das „Reich“ bestehe und sie daher nur die Gesetze des „Reiches“ zu befolgen hätten. Letztes Jahr hat einer von ihnen einen Polizisten erschossen, der den Mann wegen verbotenen Waffenbesitzes belangen wollte. Oder aber die „Identitären“, das sind Nationalisten von Blut und Boden.

Welche Richtungen und Institutionen stellen sich dagegen? Wie lässt sich im Sinne der Menschenrechte Stellung beziehen? Wer bietet heute Definitionen und Interpretationen, die weiterhelfen?

 Bei meinen Recherchen stieß ich auf einen Professor der Geisteswissenschaften von der Columbia-Universität New York. Er heißt Mark Lilla und hat sich neben vielen anderen Themen mit der „politischen Reaktion“ befasst. „Reaktionär“ ist ein Schimpfwort, in dem die Abschätzung das stärkste Element ist. Was bedeutet es eigentlich? In seinem Buch „The shipwrecked Mind“ (2016) geht Lilla der Frage nach. Montesquieu habe den Terminus als erster gebraucht (in „Der Geist des Gesetzes“), und durch die Französische Revolution habe dieser seine Bedeutung verändert. Die Jakobiner hätten jeden, der nicht an die Ziele der Revolution, an den steten Fluss des Fortschritts glaube,  als „reaktionär“ abgestempelt. In seiner kenntnisreichen Einführung beendet Lilla seine Überlegungen mit dem Hinweis auf Don Quichote oder die politische Nostalgie. Um diese Nostalgie – eine Sehnsucht nach früheren, „besseren“ Zeiten - näher zu beschreiben, wendet er sich europäischen oder europäisch-amerikanischen Denkern zu – Franz Rosenzweig, Eric Voegelin und Leo Strauss – und schildert schließlich den Terror-Angriff auf Charlie-Hebdo, während dem er sich zufällig in Paris aufhielt. Abschließend sieht er in dem Protagonisten von Houellebeq’s „La Soumission“ den typischen Reaktionär der Gegenwart. Vergleichbar mit Figuren aus Thomas Manns „Zauberberg“ oder Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ beschreibe „La soumission“ den Untergang einer alten Kultur. „Wir scheinen vergessen zu haben“, schreibt Lilla in seiner Einführung, „dass Kräfte“ (wie die des starken Zukunftsglaubens aus der Vergangenheit heraus bei Don Quichote ebenso wie bei den Rechten oder einst bei den Jakobinern) „nur dann ihre Kraft entwickeln können, wenn sie durch den subjektiven Blick von Menschen gefiltert werden, durch ihre Gedanken und Bilder, die sie verwenden, um allen Dingen einen Sinn zu geben.“  

Ein jeder sucht nach dem Sinn seines Lebens, dem Sinn der Dinge und der Vorkommnisse. Wie schwierig diese Suche speziell für junge Menschen heute ist, zeigte Ghafoor Zamani kürzlich in einer ARD-Dokumentation mit dem Film „Sebastian wird Salafist“. Über drei Jahre begleitete er einen anfangs 16jährigen Deutschen bei seiner Bekehrung zum Islam und seiner weiteren Entwicklung. Der Filmemacher behandelte jeden der zahlreichen Interviewten mit großer Achtung, ohne jegliche Herablassung; er distanzierte sich dabei aber klar und deutlich von den Salafisten. Die Entwicklung dieses Jungen, die wir miterleben dürfen, wird auch ermöglicht durch aufmerksame Eltern, die ihren Sohn unabhängig von seinen religiösen Erfahrungen achten und lieben (in der ARD-Mediathek).

In Frankfurt fand jüngst ein öffentliches Gespräch zwischen den Kirchen und den Gewerkschaften unter dem  Titel „Was hält die Gesellschaft zusammen?“ statt. Anscheinend hatte es ein Gespräch zwischen diesen Partnern vorher noch nie gegeben, die Veranstaltung war stark besucht. Einig waren sich der Katholik, der Protestant und der Gewerkschafter darin, dass ein Zerfall der Gesellschaft droht, eine Vereinzelung, die bewirkt, dass jeder nur noch den persönlichen Vorteil im Auge behält und das gemeinsame Wohl außer Acht lässt. Sie wurden sich im Gespräch einig, dass „Würde“ ein wesentliches politisches Ziel sei, auch um den Zusammenhalt zu stärken. Die in der Verfassung garantierte Würde des Menschen muss in den Alltag umgesetzt werden, in den Arbeitsalltag ebenso in das, was man heute „das Spirituelle“ nennt.

Wenn ich mich umsehe, sehe ich überall einen Kampf zwischen den Kräften, die sich auf das Gemeinwohl richten, und solchen, denen nur am Wohl ihrer eigenen kleinen Gruppe liegt. Der Kampf ist noch nicht entschieden. Sein Ausgang hängt davon ab, welche „Gedanken und Bilder“ in den Köpfen der Menschen Vorrang gewinnen werden.


Erschienen am 8. Februar 2018 in „kulturissimo“ (Nr.165), monatliche Kulturbeilage des „tageblatt“(Luxemburg)