Tagebuch Winter 23/24

Frankfurt, 25.Februar

Viele Menschen fühlen sich verpflichtet, was zum 7. Oktober  in Israel zu sagen. Ich war so entsetzt, dass ich mir als erstes vornahm, mir nicht die Bilder anzuschauen, die die Hamas-Barbaren bei ihrem Überfall selbst aufgenommen und gleich ins Netz gestellt hatten. Daran habe ich mich gehalten, ich habe sie nicht angeschaut.

Die Israelis dagegen drängten von vornherein darauf, dass jeder sich die Bilder ansähe, damit das ungeheuerliche Geschehen nie mehr totgeschwiegen werden könne, wie nach der Shoa. Das hieß: Alpträume, namenloses Entsetzen für alle Zeit, Rachegefühle. Die Verewigung des Antisemitismus. So war mein Eindruck. Dass auch in Israel viele Menschen gleich daran dachten, dass die Stellung der Palästinenser, der Umgang mit ihnen, irgendwie verändert werden müsste, merkte ich erst nach und nach. Ich wusste schon, dass sich viele Menschen in Israel eben darum seit langem Gedanken machten – aber jetzt auch noch? Mir wurde deutlich, dass die Lage jetzt noch viel komplexer würde. Die Möglichkeit für Frieden zwischen den beiden Völkern war objektiv in weite Ferne gerückt.

Ging es denn nicht vor allem um Frieden?

War anhaltender Frieden zwischen Israel und Palästina jetzt überhaupt noch vorstellbar? Konnten ein jüdischer Israeli und ein arabischer Palästinenser einander jemals wieder vertrauen? War das vielleicht letztlich das Ziel der Hamas, jede Vertrauensbasis zu zerstören?

Hingegen, was ist das Ziel der Gegner: der Siedler und der Regierung von Netanyahu?

Durfte ich das jetzt, im Krieg, noch fragen?

So habe ich in mein Webtagebuch noch immer nichts zum 7. Oktober geschrieben.

Im Februar 24 las ich im „Jerusalem Report“, einer Zeitschrift, die ich alle zwei Wochen erhalte und die in Jerusalem auf Englisch erscheint, einen Artikel, wie ich ihn dort nicht erwartete: ein orthodoxer Jude schrieb über das Verhältnis zwischen Religion und Konflikt. Er hieß Mordechai Beck, er gehört zum Redaktionsstab der Zeitschrift. Der Artikel begann mit einer ironisch gehaltenen Ablehnung der Messiaserwartung, die in der jüdischen Religion immer mal wieder auftritt, und zur Zeit sogar innerhalb der israelischen Regierung eine Rolle spielt. Die Minister für Finanzen und für Sicherheit, selbst Siedler in der Westbank, kämpfen entsprechend – alle israelischen Leser verstehen das, wenn sie sich dafür interessieren, es muss ihnen nicht gesagt werden. Nur der ironische Ton zeigte, dass dem Verfasser die Angelegenheit sehr ernst war. Er konnte daher gleichzeitig erwähnen, dass auch ihm der Messias wesentlich ist – dass aber Gott allein entscheidet, wann er oder sie kommt, um die Welt zu erlösen. Er zitierte Kafka, der geschrieben hat: „der Messias wird erst kommen, wenn er nicht mehr nötig ist …..Er wird einen Tag nach seiner Ankunft da sein....“

Es stehen noch andere Gedanken in dem Artikel, auf die ich gern eingehen würde. Ich habe den Text inzwischen ins Deutsche übersetzt, und wenn der Autor es mir erlaubt, möchte ich ihn in mein Webtagebuch einbringen. Einstweilen zeige ich ihn nur Freunden, um herauszufinden, wie ihn nicht jüdisch geübte Deutsche verstehen, ob es Missverständnisse gibt. Denn für das Thema interessieren sich jetzt viele, nur das vorausgesetzte Wissen fehlt eventuell. Mit jedem einzelnen der Freunde und Freundinnen kann ich dann drüber reden, was für mich auch immens interessant ist. Becks Artikel schenkt mir unerwartete Möglichkeiten, den Text selbst unter neuen Perspektiven zu betrachten. Das nicht Gesagte zeigt sich als wesentlicher Teil des Ganzen.....

Zum Schluss bezieht sich Beck sogar auf eine Rede von Moses, die in der Bibel steht, jedenfalls in der jüdischen, wonach Moses selbst das Israel fordert, wie es in der Moderne gegründet wurde! Sobald ich Herrn Becks Genehmigung habe, stelle ich den Text in mein Webtagebuch; alle Erläuterungen, die mir bis dahin notwendig und sinnvoll erscheinen, werde ich hinzufügen.

 

Frankfurt, 6. Februar

Gestern schien über Mittag die Sonne. Das gab dem Tag einen Wellenschwung - dagegen wirkt ein gleichmäßig düsterer Tag wie heute dämpfend aufs Gemüt. Einem endlosen Tunnnel gleich....

Die Gedanken wenden sich Erinnerungen zu: Als Schülerin ging ich rudern, weil meine Eltern im Ruderclub waren und weil es mir Spaß machte (heute sage ich mir, und weil es nichts kostete!): mit 17 durfte ich zum erstenmal an Wettkämpfen teilnehmen. Dabei ging es nicht um Schnelligkeit - wer kommt als erster an? - sondern um "Stil". Das gabs auch nur für Mädchen, immerhin. Dass Frauenrudern erlaubt war, dafür hatte schon die Generation meiner Mutter gesorgt. Wir fuhren im Vierer und sollten das Rudern perfekt vorführen. Doch ab 18 durften auch wir Rennen fahren. Da die andern drei nicht daran interessiert waren, spezialisierte ich mich auf den Renneiner. Da gab es nicht viel Konkurrenz. Ich musste mich dennoch in den folgenden zwei Sommern meist mit dem zweiten Platz begnügen: hinter der deutschen Meisterin, die als 25jährige mir als unerfahrener und nicht ganz ausgewachsener 18jähriger natürlich überlegen war. Einmal aber, als sie nicht dabei war, gewann ich.  Mir bleibt davon ein Foto in Erinnerung, auf dem ich mit einem Blumenstrauß in der Hand einsam mitten zwischen den abgestellten Booten saß. Die Einsamkeit überwältigte mich. Nach dem Abitur hörte ich mit dem Rudern auf. Von Dortmund zog ich nach Saarbrücken und studierte an der Universität des Saarlandes Sprachen.  Einen neuen Sport suchte ich nicht mehr. Ich wendete mich lieber dem Theaterspielen zu. Neue Erfahrungen..... Oder?

In Wahrheit beschäftigte mich vor allem das Studieren: am Dolmetscher-Institut wollte ich Übersetzerin werden. Ich hatte Französisch als erste Sprache, Englisch als zweite und nebenher noch Italienisch belegt. Unser Französisch-Lehrer Giacometti war ein hinreißender Mann, anspruchsvoll und sehr streng. Warum hatte ich Französisch gewählt? In Englisch war ich doch viel besser? Vermutlich, weil das Französische mich faszinierte: Meine Patentante hatte als junges Mädchen ein halbes Jahr in einem französischen Internat zugebracht und ihr ganzes Leben davon geschwärmt. Das war vor 1914 gewesen. Zwei Weltkriege hatte es seither gegeben, Frankreich galt als "Erbfeind". Mein Vater nannte einen  Franzosen einen "Zisemann".  Er hatte im zweiten Weltkrieg eine Zeitlang in Frankreich gedient und die Résistance fürchten  gelernt, den "maquis". Als ich mich mit einem Franzosen verloben wollte, sagte er abschätzig: "So einen Zisemann aus dem Maquis?" Er verbot es aber nicht. Vermutlich stand hinter meiner Wahl mein Widerspruchsgeist. Ich wollte es anders machen  als die Eltern. Im Grunde entschied ich mich schon damals für Europa....

Das Theaterspielen  hatte ich immer geliebt und den Beruf einer Schaupielerin als Berufsziel erwogen. War ich begabt genug? Dessen war ich mir nicht gewiss, und darauf kam es doch an. Zumal meine Mutter diesen Wunsch gleich abqualifizierte mit  "Die Karriere einer Schauspielerin geht durch das Bett des Regisseurs". Ich kam zuletzt zu dem Beschluss: meine Begabung reichte nicht. Später, als ich in  Luxemburg Frauentheater machte, wurde mir bewusst, dass ich wahrscheinlich besser Regisseurin geworden wäre. Aber das gab es 1955 noch nicht: eine Frau konnte nicht Regisseurin werden.

Der gleichmäßig bewölkte Himmel  neigt allmählich zur Dämmerung. Jetzt bin ich alt und bewege mich nur noch mit Rollator  oder gar mit Rollstuhl fort. Eine Erinnerung taucht auf: einmal, in "Peter und der Wolf", ein Musikstück, das wir mit Masken und Mimik begleiteten, spielte ich den Großvater und humpelte so realistisch, dass mir ein Zuschauer fürsorglich die Hand reichte, als ich nachher mit meinem Stock die Stufen von der Bühne hinabsteigen  wollte....

 

 

Frankkfurt, den 6. Januar

Das neue Jahr hat mit kanonenähnlichem Getöse begonnen, und ich frage mich, wieso der Lärm immer noch so beliebt ist, wo doch jeder Hund zittert und die Vögel nach oben fliehen, bis sie die Kraft verlässt. Eine Bekannte erzählte mir, dass sie in der Neujahrsnacht kurz vor Mitternacht mit ihrem Hund in einen Zug stieg und darin so lange herumfuhr ist, bis der Lärm vorbei war. Dank 49€-Tickelt umsonst.

Es passieren  andere unbegreifliche Sachen. Der Vizekanzler und Wirtschaftsminister der Bundeserpublik Deutschland wird in seinen Ferien von einem Mob derart bedroht, dass die Fähre, aus der er aussteigen wollte, erstmal wieder kehrt machen mussste, bis die Polizei den Landeplatz von den Randalierern geräumt hatte.

Ein anderes Phänomen hängt meines Erachtens mit solcher Missachtung zusammen. Das Wort "Bundesregierung" wird fast überhaupt nicht mehr benutzt: an seine Stelle ist das Wort "Ampel "getrreten. Gemeint ist damit eine Verkehrsampel, genauer ihre drei Farben, mit denen die Parteien, die für die Regierungsbildung koaliert haben, bezeichnet werden: rot, grün und gelb. Also ein Automat, aber einer, der immerhin zur Lebensrettung von Verkehrtsteilnehmern dient.

Eine Staatsregierung trägt die Verantwortung für den Staat und für das Leben aller Bürger. Sie ist kein Automat, sondern muss sich tagtäglich zu den politschen Ereignissen neu verhalten. Wie kommt es, dass wir nie mehr " Bundesregierung" in den Nachrichten hören, sondern nur noch dieses spottlustige Wort "Ampel"? Es gilt nicht als Spott, sondern soll Intelligenz des Sprechers unter Beweis stellen. Aber auf die Dauer lässt es den Respekt vermissen. Einer Staatsregierung sollte jeder mit Respekt begegnen, sie wurde vom Volk gewählt. Das Wort Ampel transportiert keine Verantwortung, es ist nur ein albernes Wortspiel, das mit der Zeit auch keine Intelligenz mehr ausstrahlt. Als würde man jemandem nach dem Mund reden. Wer könnte das sein?

Mir fällt nur die CDU und ihr Voritzender ein, oder noch schlimmer: die FDP. Sie ist Teil der Bundesregierung, hat zu Beginn den Koalitionsvertrag mit ausgehandelt und ihn unterschrieben. Die ersten zwei Jahre hat sie sich auch mehr oder weniger dran gehalten, bis sie in Landtagswahlen Stimmen verlor. Auf einmal besann sie sich auf ihre Wähler: große Firmen, besonders  die Autoproduzenten, sowie reiche Erben und andere wohlhabwende Mitbürger, die gern wenig Steuern zahlen. Wer würde sich einen BMW kaufen, wenn es in Deutschland überall Tempolimit gäbe? Nirgendwo. Also verweigert der FDP-Verkehrsminister standhaft eine Tempobegrenzung, wie sie in sämtlichen andern Ländern Europas üblich ist. Obwohl wir "Tempo 100" enorme Mengen CO 2 einsparen könnten. Eher sollen Kinder in Armut aufwachsen, als dass die Steuern für reiche Leute erhöht würde. Und so weiter. Das bedeutet, dass die FDP eigentlich Opposition betreibt, aber in der Regierung bleiben will, wie jetzt sogar eine kleine Mehrheit der Partei in einer Umfrage bestätigt hat. Lieber die beiden Koalitionspartner behindern und abbremsen, die mindestens dreimal so viele Wähler hinter sich haben als die FDP, der kleinste unter ihnen, und die echte politische Ziele befolgejn, wie sozialen Schutz und Umwelt- und Klimapolitik.

Anfangs gelang es Robert Habeck, eine Gemeinschaft zu dritt zu schmieden. Aber nach zwei Jahren scheut sich die de facto-Opposition aus FDP, CDU und CSU nicht, Habeck zu mobben, ihn persönlich mit übler Nachrede zu überziehen. Wenn ein Gesetz vom Kabinett in den Bundestag kommt, soll es von den Abgeordneten in seine endgültige Fassung gebracht werden. Obwohl die FDP Teil der Regierung ist,  im Kabinett sitzt und jederzeit ihr Veto hätte einlegen können, lässt sie das Gesetz in den Bundestag und beschimpft anschließend den offenbar gefürchteten Wirtschaftsminister Habeck, kräftig unterstützt von der Bildzeitung, weil der angeblich ein schlechtes Gesetz vorlegt. Warum hat die FDP das bloß nicht im Kabinett gesagt? Entsprechende Änderungen eingefordert?

Aber die Landwirte aufhetzen (gegen die von der FDP mit-beschlossene Gesetzesvorlage) und Habeck persönlich und körperlich bedrohen lassen!  So steht die Dinge derzeit in der Republik. 

Bitte, deutsche Presse: meidet des Wort "Ampel". Es  bedroht den Staat durch Respektlosigkeit!

 

Frankfurt, 13. Dezember

Übermorgen gehe ich auf Reisen: Pascale begleitet mich im  Rollstuhl nach Köln. Wir nehmen den Zug. Im ICE gibt es einen Platz für einen Rollstuhl nur in der 2. Klasse. Wir müssen uns vorher beim "Mobilitätsservice" ("Information 38") melden, dort wartet jemand, der mich in den Zug hebt.

Vor zwei Wochen ist in Köln einer meiner Brüder gestorben. Er war der Älteste von dreien, und ich war die ältere Schwester. Wir vier haben uns in der Kindheit so verbunden, dass die Bindung bis heute gehalten  hat. Wie kam das? Wahrscheinlich durch den Krieg: ich war fünf Jahre vor dem Krieg geboren, der jüngste im zweiten Kriegsjahr. Die Eltern hatten anderes zu tun. Der Vater war Soldat, und als zuhause die Bomben fielen, behielt die Mutter  den Jüngsten bei sich und schickte die drei Älteren aufs Land. Als aber zuhause Brandbomben durchs Dach fielen, da packte sie unser Hab und Gut in einen Möbelwagen und folgte uns. Ich sang immer gern: "Maikäfer lieg, Dein Vater ist im Krieg. Deine Mutter ist in Pommerland, Pommerland ist abgebrannt, Maikäfer flieg."

Jeder von uns viern lebte sein Leben, aber wenn wir vier zusammen kamen, verfielen wir sofort in lebhafte Gespräche, an denen zu beteiligen kein anderer sich traute. Die meisten verstanden uns gar nicht. "Warum regt ihr euch so auf?"- "Tun wir doch gar nicht!"

Die letzten Jahre haben wir noch viel telefoniert, er und ich. An Gespächsthemen mangelte es  nie. Er schaute viel Fernsehn. Worum ging es bei unserem letzten Gespräch? Um die politische Bedeutung von Schrebergärten? Möglich. Ich wusste ja nicht, dass es unser letztes war. Jetzt vermisse ich seine Anrufe.

Als ältere Schwester hatte ich immer einen Vorsprung. Tilmann holte den ein: er war ja der älteste Sohn, der "Stammhalter" der Familie, wie man damals sagte. So entwickelte sich eine Art von vorsichtiger Liebe zwischen uns, mit der Zeit.

Am Freitag wil ich mit den Brüdern und allen andern aus der Famiie von Tilmann Abschied nehmen, in vorsichtiger Liebe. "Maikäfer, flieg!"

 

 

Frankfurt, 10. Dezember

 

Welch ein geruhsamer Sonntag! Keine Termine, keine Verpflichtungen. Bis neun Uhr geschlafen, und beim Einsammeln ungelesener Zeitungen entdecke ich das Manuskript meiner schwäbischen Freundin, das zu lesen ich versprochen hatte. Ich schlage es in der Mitte auf und lese mich fest. Als es zuende ist, fange ich von vorne an.

Meine schwäbische Freundin kümmert sich seit fast zehn Jahren um einen tamilischen Flüchtling, erfahre ich, der Asyl in Deutschland sucht und seine Frau nachkommen lassen will. Zu der Zeit noch seine zukünftige Frau, wie ich nach einer Weile herausfinde. Der Text bleibt lebendig, indem er am Präsenz festhält, immer nur von einem Tag mit seinem Datum spricht. Jeder Satz bringt die Geschichte weiter, und der Satz sagt nur das Notwendigste. Das, was der Leser verstanden haben muss, um die nächsten Sätze zu verstehen. Es geht um einen Flüchtling und die deutschen Ämter. Statt Toleranz gibt es Duldung; statt „wilkommen“ heißt es „warten“. Meine Freundin gleicht das immer wieder aus, sie gleitet unmerklich in die Rolle einer Mutter hinein mit ihren stetigen Telefonaten zu wer? Wo? Wann? Was?; mit der Ermutigung zum Deutschlernen auf dem richtigen Niveau,  mit gemeinsamer Überwindung von Barrieren der Hoffnungslosigkeit. Nach Jahren lernt sie auch die Braut kennen, in Singapur, wohin sie zusammen mit dem Bräutigam reist, weil dort Hochzeit gefeiert wird. Gemeinsam mit jenen Teilen der Familie, die aus verschiedenen Weltgegenden kommen konnten, manche auch von Zuhause. Der Text endet 2022, als das Ehepaar – nach fast zehn Jahren! - in Schwaben endlich eine eigene Wohnung beziehen darf. Mich hat in dem Manuskript das Ämtergewirr und seine Ansprüche bedrückt: ich empfand es als Demütigung, obwohl die Freundin  das Wort nie gebraucht. Aber sie beschreibt anschaulich die Depression, unter der ihr Schützling schließlich alle Hoffnungen beinahe aufgibt.

Als ich heute morgen vom Manuskript aufblickte, war es Mittag und ich kleidete mich in dem Gefühl an, den Vormittag fruchtbar verbracht zu haben. Während des Frückstücks öffnete ich eine der Zeitschriften, die ich eingesammelt hatte: eine „London Review of Books“, und wie gewöhnlich öffnete ich die Zeitung von hinten, mit der rechten Hand. Wie gewöhnlich steht da auf zwei Seiten eine Geschichte, die eine unerwartete Situation entfaltet, so gut erzählt, dass man bis zum Schluss mitgerissen wird. Im Gegensatz zu sonst waren es vier Seiten und die Frage war anfangs nicht klar: es ging um Shakespeare und um italienische Höhlen, um künstliche Höhlen in kunstvollen Renaissancegärten. Beziehungsweise um englische Gartenbaukunst und was darin zum Ausdruck kommen soll. Um so etwas wie Geistesgeschichte. Um Zusammenhänge zwischen Italien und England, um Adel  (der Männer) und intelligente, gebildete adelige Damen, die ihr Denken in ihren Gärten zum Ausdruck bringen. Der Autor selbst fand keine Antwort auf seine Neugier. Da mietete er ein Auto, besichtigte alle Renaissancegärten in Italien, später in England und schrieb darüber eine Doktorarbeit. Zum Schluss empfand ich mich als schlauer geworden.

Waren das nicht schon zwei gewaltige Erlebnisse für einen Tag?

Nach dem Mittagessen war ich so müde, dass ich eine Stunde schlafen musste. Und dann Emails bearbeiten. Zwischendurch Bewegung, schließlich wird mein mangelhaftes Gehvermögen nicht vom Lesen besser. Bewegung kommt nur von Bewegung. Küchenarbeit ist auch immer rmit Bewegung verbunden. Gestern kochte ich eine große Portion Grünkohl mit Mettwurst. Davon aß ich heute etwas, zusammen mit getoasteten Baguettescheiben.

Ja, die Polyneuropathie hat mich fest im Griff, ich gehe nach draußen nur noch im Rollstuhl. Bis zu meinem Briefkasten im Erdgeschoß reicht der Rollator, wie auch in der Wohnung.

Ich bin froh, mein Webtagebuch fortzusetzen.

 

 

 

Frankfurt, den 13. Oktober

In einem meiner Blumenkästen auf dem Balkon wächst eine Pflanze, eine etwa kniehohe Staude, die seit dem Frühjahr stetig wächst und wächst. Seit kurzem erst treiben ihre vielen Spitzen auch Knospen; ich denke sie werden in wenigen Tage aufgehen. Sie blühen dann ein paar Wochen lang, dann welken sie und die ganze Pflanze wird braun. Ich schneide sie kurz über den Wurzeln ab. Im Frühjahr schlägt sie wieder aus, Den ganzen Sommer wächst sie vor sich hin, bis sie im Oktober....... Das macht sie nun schon einige  Jahr in meinem Blumenkasten und wächst dabei sachte in die Breite. Betrachte ich sie, empfinde ich eine Art Treue und bin dankbar.

Bei meinen Emails finde ich oft Mitteilungen von Instituten, Parteien, Vereinen. Damit bin ich diurchaus einverstanden, denn als taz-Leserin halte ich keine Lokalzeitung zusätzlich. So erfahre ich trotzdem, was so läuft. Vor und nach den jüngsten Wahlen in Hessen schrieb mich auch die SPD oft an, in der ich MItglied bin. Sie ist und bleibt die wichtigste Partei fürs Soziale, dafür haben die andern Parteien wenig oder gar nichts übrig. Auch die Grünen könnten in der Hinsicht noch dazulernen. Ohne soziale Rücksichten darf man keine Politik denken, wenn man Frieden erhalten will.

Die Botschaften sind immer an mich gerichtet, oft mit "Liebe Barbara" usw. Der nachfolgende Text enthält dann gewöhnlich nichts, was ich nicht schon weiß. Doch in diesen Tagen antwortete ich auf einige Nachrichten - und erhielt keine Antwort, von keinem einzigen. Z.B. antwortete ich Nancy Faeser auf ihren  Brief Folgendes:

"Liebe Nancy,

als Bundesinnenministerin kannst Du wohl am besten was gegen die Rechtsextremen tun, und tust es auch. Darüber bin ich sehr froh. Freilich genügen auf die Dauer keine Verbote, es muss sich auch was in den Köpfen  der Wähler verändern. Soziale Versprechungen reichen da offenbar nicht. Was sonst?

Eine Bekannte von mir, eine einfache Frau, die zuhause keine Bücher hat, aber kluge Sachen sagt und das Leben kennt, fragte mich, wie sie Mitglied in der SPD werden könnte.Sie wollte wirklich mitarbeiten. Ich habe mich beim OV Frankfurt -Sachsenhausen umgehört, und wir sind gemeinsam in eine OV-Sitzung gegangen. Da ich sehr alt bin  und auch gesundheitlich nicht mehr auf dem Damm - ich verfolge die OV-Politik mehr über Telefongespräche, Zeitung,  Fernsehen, die Bundespolitik vor allem über Internet - merkte  ich, dass ich fast niemanden mehr im OV kannte. Ich stellte meine Freundin vor und fragte, wer sie unterstützen möchte. Es fand sich niemand. Die Vorsitzenden waren nicht interessiert. Die Debatten fanden auf Akademikerniveau statt. D.h. es ging nicht um die Interessen der unterschiedlich Bevölkerungsgruppen, sondern um Strategie und Taktik innerhalb der Partei oder der Kandidaten für eine Wahl.

Die Bekannte verzichtete. Ich wähle noch immer SPD, weil sie die einzige Partei ist, die am Sozialen interessiert ist. Aber offenbar genügt das nicht mehr, um gewählt zu werden. So werden  "kämpfen", "schonungslos", "spätestens zur Europawahl" zu leeren Floskeln. Der "Kampf gegen Rechts" nicht minder.

Ich weiß es auch nicht besser. Man muss ganz offen darüber sprechen, und das geht zunächst nicht öffentlich, denn Vertrauen ist Voraussetzung.  Guck  ich mir idie neueste "Anstalt "an, dann scheint die "Demokratie" bzw. der Rechtsstaat irgendeinen Grundfehler zu haben. Sie können ihre Abschaffung nicht verhindern. Im Gegenteil, sie fordern dazu auf!

Leerformeln regen mich auf; die meisten Mitteilungen der Spd lösche ich, ohne sie gelesen zu haben. Ich verpasse trotzdem nichts. Deine MItteilung habe ich nun gelesen. Weil ich enttäuscht bin, schreibe ich. Wird das was nützen? Ich fürchte nicht. Es ist, als säße die Partei auf einer Rutschbahn im Schwimmbad: einmal unterwegs, kann man nicht mehr anhalten.

Mit aufmerksamen Grüßen

Barbara Höhfeld, Mitglied im Ortsverein Frankfurt-Sachsenhausen."

Auch die beiden Bezirksvorsitzenden der hessischen SPD schrieben mir nach der verlorenen Wahl. Ich antwortete:

"Liebe Genossen,

ich bin froh, dass Nancy Bundesinnenministerin bleibt. Wenn sie das nicht wäre, dann wäre sie auch eine gute Ministerpräsidentin für Hessen  geworden. Beides geht nicht. Ich glaube , das habt ihr nicht genügend bedacht. Und gibt es wirklich keinen unter Euch, d.h. den führenden SPD'lern in Hessen, die sich das zutrauen wollten? Dann fehlt eben das Personal. Vielleicht hätte Nancy einen oder eine von Euch, vielleicht auch mehrere, zu mehr Initiative angeregt, wenn sie in Hessen geblieben wäre. Für das nächste Mal: baut starke Leute auf. Bis jetzt, jedenfalls von Frankfurt aus, sehe ich mehr  Opportunisten als Politiker. Schade.

Gruß

Barbara"

Die Bezirksvorsitzenden antworteten nicht. Erwarten sie von einer Genossin nur Trost und Streicheleinheiten? Wär das Solidarität in ihrem Sinn ? Ich weiß es nicht.

Draußen scheint die volle Sonne auf meine Blumenkästen. Manches blüht, die Rosmarinblätter glitzern. Am meisten glitzern die Knospen meiner Staude.

 

 

Frankfurt, 29 September

Draußen, in der Mittagssonne, fliegen Insekten über meinen Blumenkästen – einige, nicht übermäßig viele. Immerhin, sie beleben die Luft. Eine Spinne hat einen Faden abgespult, der glitzert im Licht.

Das war zur Mittagszeit an einem traumhaften Spätsommertag. Später, kurz nach drei, begebe ich mich selbst auf den Balkon. Es ist mühsam, ich bin schwerfällig geworden. Aber es gelingt. Ich hieve mich auf einen der Gartensessel und folge dem Rat meines Physiotherapeuten: die Sonne genießen. Ein halbe Stunde lang genieße ich, dann begebe ich mich zurück ins Zimmer.

Ansonsten widme ich mich ernsteren Fragen. Der Aiwanger-Skandal hat mich vor zwei, drei Wochen sehr beschäftigt. Ich hab das zunächst nicht begriffen. Ein unvorstellbar vulgäres antisemitisches Flugblatt hatte ein sechzehnjähriger Gymnasiast in seinem Schulranzen; das wurde entdeckt, er kam mit einem Tadel davon und einer Strafarbeit: er sollte ein Referat halten. Als Erwachsener amtiert dieser Junge heute in Bayern als Minister und stellvertretender Ministerpräsident. Ich überlegte nicht genug, denn ich dache spontan an jemanden in meinem Alter – ich war aber sechzehn schon im Jahr 1950! Als ich rausfand, dass der Minister Aiwanger erst 1987 sechzehn war, die Flugblattgeschichte also nach dem Auschwitzprozess geschah, nach 1968, nach dem Film Holokaust, da war ich erst recht geschockt. Die Sache wurde damals vertuscht und jetzt, wo im Oktober die bayerische Landtagswahl bevorsteht, hat das jemand ausgegraben – und der Angegriffene hat sich öffentlich dafür entschuldigt! Trotzdem melden sich Leute, die behaupten, das sei nicht bewiesen und dürfe deshalb nicht in einer Zeitung veröffentlich werden (es war die „Süddeutsche“). Doch was für eine Entschuldigung! Als „Jugendsünde“, die man ihm nachsehen solle, als böswillige Attacke im Rahmen des Wahlkampfs usw. An die meisten Details erinnerte er sich angeblich nicht. Auch nicht daran, ob er das Referat gehalten hat oder nicht. Und worüber. Welch ein Mangel an Empathie, und an Wissen! An Verantwortung!

Als ich vor zwei Wochen zuerst für mich privat darüber schrieb, endete ich mit der Frage: will nicht jemand Klage gegen Aiwanger erheben? Jetzt ist mir klar: kein Gesetz verbietet Mangel an Empathie. Liebe deinen Nächsten steht in der Bibel, nicht im Gesetz. Obendrein steht es schon im Alten Testament: Jesus predigte das, weil er Jude war. Aiwanger hingegen hat nur Mitleid mit sich selbst. Da ist doch jemand, der ihn aus dem Ministeramt jagen möchte. So ein Bösewicht. Wie vielen Menschen er dauerhafte Angst um ihre Sicherheit in Deutschland, zumindest in Bayern, geweckt hat, nimmt er nicht wahr.