Tagebuch Winter 23/24

Frankfurt, 10. Dezember

10.12.23

 

Welche ein geruhsamer Sonntag! Keine Termine, keine Verpflichtungen. Bis neun Uhr geschlafen, und beim Einsammeln ungelesener Zeitungen entdecke ich das Manuskript meiner schwäbischen Freundin, das zu lesen ich versprochen hatte. Ich schlage es in dern Mitte auf und lese mich fest. Als es zuende ist, fange ich von vorne an.

Meine schwäbische Freundin kümmert sich seit fast zehn Jahren um einen tamilischen Flüchtling, erfahre ich, der Asyl in Deutschland sucht und seine Frau nachkommen lassen will. Zu der Zeit noch seine zukünftige Frau, wie ich nach einer Weile herausfinde. Der Text bleibt lebendig, indem er am Präsenz festhält, immer nur von einem Tag mit seinem Datum spricht. Jeder Satz bringt die Geschichte weiter, und der Satz sagt nur das Notwendigste. Das, was der Leser verstanden haben muss, um die nächsten Sätze zu verstehen. Es geht um einen Flüchtling und die deutschen Ämter. Statt Toleranz gibt es Duldung; statt „wilkommen“ heißt es „warten“. Heide, meine Freundin, gleicht das immer wieder aus, sie gleitet unmerklich in die Rolle einer Mutter hinein mit ihren stetigen Telefonaten zu wer? Wo? Wann? Was?; mit der Ermutigung zum Deutschlernen auf B1-Niveau , mit gemeinsamer Überwindung von Barrieren der Hoffnungslosigkeit. Nach Jahren lernt sie auch die Braut kennen, in Singapur, wohin sie zusammen mit dem Bräutigam reist, weil dort Hochzeit gefeiert wird. Gemeinsam mit jenen Teilen der Familie, die aus verschiedenen Weltgegenden kommen konnten, manche auch von Zuhause. Der Text endet 2022, als das Ehepaar – nach fast zehn Jahren! - in Schwaben endlich eine eigene Wohnung beziehen darf. Mich hat in dem Manuskript das Ämtergewirr und seine Ansprüche bedrückt: ich empfand es als Demütigung, obwohl Heide das Wort nie gebraucht. Aber sie beschreibt anschaulich die Depression, unter der Kamal schließlich alle Hoffnungen beinahe aufgibt.

 

Als ich heute morgen vom Manuskript aufblickte, war es Mittag und ich kleidete mich in dem Gefühl an, den Vormittag fruchtbar verbracht zu haben. Während des Frückstücks öffnete ich eine der Zeitschriften, die ich eingesammelt hatte: eine „London Review of Books“, und wie gewöhnlich öffnete ich die Zeitung von hinten, mit der rechten Hand. Wie gewöhnlich steht da auf zwei Seiten eine Geschichte, die eine unerwartete Situation entfaltet, so gut erzählt, dass man bis zum Schluss mitgerissen wird. Im Gegensatz zu sonst waren es vier Seiten und die Frage war anfangs nicht klar: es ging um Shakespeare und um italienische Höhlen, um künstliche Höhlen in kunstvollen Renaissancegärten. Beziehungsweise um englische Gartenbaukunst und was darin zum Ausdruck kommen soll. Um so etwas wie Geistesgeschichte, um Zusammenhänge zwischen Italien und England. Adel und intelligente, gebildete adelige Damen, die ihr Denken in ihren Gärten zum Ausdruck bringen ..... Der Autor selbst fand keine Antwort auf seine Neugier. Da mietete er ein Auto, besichtigte alle Renaissancegärten in Italien, später in England und schrieb darüber seine Doktorarbeit. Zum Schluss empfand ich mich als schlauer geworden!

 

Waren das nicht schon zwei gewaltige Erlebnisse für einen Tag?

 

Nach dem Mittagessen war ich so müde, dass ich eine Stunde schlafen musste. Und dann Emails bearbeiten. Zwischendurch Bewegung, schließlich wird mein mangelhaftes Gehvermögen nicht vom Lesen besser. Bewegung kommt nur von Bewegung. Küchenarbeitist auch immer rmit Bewegung verbunden. Gestern kochte ich eine große Portion Grünkohl mit Mettwurst. Davon aß ich heute etwas, zusammen mit getoasteten Bagettescheiben.

Ja, die Polyneuropathie hat mich fest im Griff, ich gehe nach draußen nur noch im Rollstuhl. Bis zu meinem Briefkasten im Erdgeschoß reicht der Rollator, wie auch in der Wohnung.

Ich bin froh, mein Webtagebuch fortzusetzen.

 

 

 

Frankfurt, den 13. Oktober

In einem meiner Blumenkästen auf dem Balkon wächst eine Pflanze, eine etwa kniehohe Staude, die seit dem Frühjahr stetig wächst und wächst. Seit kurzem erst treiben ihre vielen Spitzen auch Knospen; ich denke sie werden in wenigen Tage aufgehen. Sie blühen dann ein paar Wochen lang, dann welken sie und die ganze Pflanze wird braun. Ich schneide sie kurz über den Wurzeln ab. Im Frühjahr schlägt sie wieder aus, Den ganzen Sommer wächst sie vor sich hin, bis sie im Oktober....... Das macht sie nun schon einige  Jahr in meinem Blumenkasten und wächst dabei sachte in die Breite. Betrachte ich sie, empfinde ich eine Art Treue und bin dankbar.

Bei meinen Emails finde ich oft Mitteilungen von Instituten, Parteien, Vereinen. Damit bin ich diurchaus einverstanden, denn als taz-Leserin halte ich keine Lokalzeitung zusätzlich. So erfahre ich trotzdem, was so läuft. Vor und nach den jüngsten Wahlen in Hessen schrieb mich auch die SPD oft an, in der ich MItglied bin. Sie ist und bleibt die wichtigste Partei fürs Soziale, dafür haben die andern Parteien wenig oder gar nichts übrig. Auch die Grünen könnten in der Hinsicht noch dazulernen. Ohne soziale Rücksichten darf man keine Politik denken, wenn man Frieden erhalten will.

Die Botschaften sind immer an mich gerichtet, oft mit "Liebe Barbara" usw. Der nachfolgende Text enthält dann gewöhnlich nichts, was ich nicht schon weiß. Doch in diesen Tagen antwortete ich auf einige Nachrichten - und erhielt keine Antwort, von keinem einzigen. Z.B. antwortete ich Nancy Faeser auf ihren  Brief Folgendes:

"Liebe Nancy,

als Bundesinnenministerin kannst Du wohl am besten was gegen die Rechtsextremen tun, und tust es auch. Darüber bin ich sehr froh. Freilich genügen auf die Dauer keine Verbote, es muss sich auch was in den Köpfen  der Wähler verändern. Soziale Versprechungen reichen da offenbar nicht. Was sonst?

Eine Bekannte von mir, eine einfache Frau, die zuhause keine Bücher hat, aber kluge Sachen sagt und das Leben kennt, fragte mich, wie sie Mitglied in der SPD werden könnte.Sie wollte wirklich mitarbeiten. Ich habe mich beim OV Frankfurt -Sachsenhausen umgehört, und wir sind gemeinsam in eine OV-Sitzung gegangen. Da ich sehr alt bin  und auch gesundheitlich nicht mehr auf dem Damm - ich verfolge die OV-Politik mehr über Telefongespräche, Zeitung,  Fernsehen, die Bundespolitik vor allem über Internet - merkte  ich, dass ich fast niemanden mehr im OV kannte. Ich stellte meine Freundin vor und fragte, wer sie unterstützen möchte. Es fand sich niemand. Die Vorsitzenden waren nicht interessiert. Die Debatten fanden auf Akademikerniveau statt. D.h. es ging nicht um die Interessen der unterschiedlich Bevölkerungsgruppen, sondern um Strategie und Taktik innerhalb der Partei oder der Kandidaten für eine Wahl.

Die Bekannte verzichtete. Ich wähle noch immer SPD, weil sie die einzige Partei ist, die am Sozialen interessiert ist. Aber offenbar genügt das nicht mehr, um gewählt zu werden. So werden  "kämpfen", "schonungslos", "spätestens zur Europawahl" zu leeren Floskeln. Der "Kampf gegen Rechts" nicht minder.

Ich weiß es auch nicht besser. Man muss ganz offen darüber sprechen, und das geht zunächst nicht öffentlich, denn Vertrauen ist Voraussetzung.  Guck  ich mir idie neueste "Anstalt "an, dann scheint die "Demokratie" bzw. der Rechtsstaat irgendeinen Grundfehler zu haben. Sie können ihre Abschaffung nicht verhindern. Im Gegenteil, sie fordern dazu auf!

Leerformeln regen mich auf; die meisten Mitteilungen der Spd lösche ich, ohne sie gelesen zu haben. Ich verpasse trotzdem nichts. Deine MItteilung habe ich nun gelesen. Weil ich enttäuscht bin, schreibe ich. Wird das was nützen? Ich fürchte nicht. Es ist, als säße die Partei auf einer Rutschbahn im Schwimmbad: einmal unterwegs, kann man nicht mehr anhalten.

Mit aufmerksamen Grüßen

Barbara Höhfeld, Mitglied im Ortsverein Frankfurt-Sachsenhausen."

Auch die beiden Bezirksvorsitzenden der hessischen SPD schrieben mir nach der verlorenen Wahl. Ich antwortete:

"Liebe Genossen,

ich bin froh, dass Nancy Bundesinnenministerin bleibt. Wenn sie das nicht wäre, dann wäre sie auch eine gute Ministerpräsidentin für Hessen  geworden. Beides geht nicht. Ich glaube , das habt ihr nicht genügend bedacht. Und gibt es wirklich keinen unter Euch, d.h. den führenden SPD'lern in Hessen, die sich das zutrauen wollten? Dann fehlt eben das Personal. Vielleicht hätte Nancy einen oder eine von Euch, vielleicht auch mehrere, zu mehr Initiative angeregt, wenn sie in Hessen geblieben wäre. Für das nächste Mal: baut starke Leute auf. Bis jetzt, jedenfalls von Frankfurt aus, sehe ich mehr  Opportunisten als Politiker. Schade.

Gruß

Barbara"

Die Bezirksvorsitzenden antworteten nicht. Erwarten sie von einer Genossin nur Trost und Streicheleinheiten? Wär das Solidarität in ihrem Sinn ? Ich weiß es nicht.

Draußen scheint die volle Sonne auf meine Blumenkästen. Manches blüht, die Rosmarinblätter glitzern. Am meisten glitzern die Knospen meiner Staude.

 

 

Frankfurt, 29 September

Draußen, in der Mittagssonne, fliegen Insekten über meinen Blumenkästen – einige, nicht übermäßig viele. Immerhin, sie beleben die Luft. Eine Spinne hat einen Faden abgespult, der glitzert im Licht.

Das war zur Mittagszeit an einem traumhaften Spätsommertag. Später, kurz nach drei, begebe ich mich selbst auf den Balkon. Es ist mühsam, ich bin schwerfällig geworden. Aber es gelingt. Ich hieve mich auf einen der Gartensessel und folge dem Rat meines Physiotherapeuten: die Sonne genießen. Ein halbe Stunde lang genieße ich, dann begebe ich mich zurück ins Zimmer.

Ansonsten widme ich mich ernsteren Fragen. Der Aiwanger-Skandal hat mich vor zwei, drei Wochen sehr beschäftigt. Ich hab das zunächst nicht begriffen. Ein unvorstellbar vulgäres antisemitisches Flugblatt hatte ein sechzehnjähriger Gymnasiast in seinem Schulranzen; das wurde entdeckt, er kam mit einem Tadel davon und einer Strafarbeit: er sollte ein Referat halten. Als Erwachsener amtiert dieser Junge heute in Bayern als Minister und stellvertretender Ministerpräsident. Ich überlegte nicht genug, denn ich dache spontan an jemanden in meinem Alter – ich war aber sechzehn schon im Jahr 1950! Als ich rausfand, dass der Minister Aiwanger erst 1987 sechzehn war, die Flugblattgeschichte also nach dem Auschwitzprozess geschah, nach 1968, nach dem Film Holokaust, da war ich erst recht geschockt. Die Sache wurde damals vertuscht und jetzt, wo im Oktober die bayerische Landtagswahl bevorsteht, hat das jemand ausgegraben – und der Angegriffene hat sich öffentlich dafür entschuldigt! Trotzdem melden sich Leute, die behaupten, das sei nicht bewiesen und dürfe deshalb nicht in einer Zeitung veröffentlich werden (es war die „Süddeutsche“). Doch was für eine Entschuldigung! Als „Jugendsünde“, die man ihm nachsehen solle, als böswillige Attacke im Rahmen des Wahlkampfs usw. An die meisten Details erinnerte er sich angeblich nicht. Auch nicht daran, ob er das Referat gehalten hat oder nicht. Und worüber. Welch ein Mangel an Empathie, und an Wissen! An Verantwortung!

Als ich vor zwei Wochen zuerst für mich privat darüber schrieb, endete ich mit der Frage: will nicht jemand Klage gegen Aiwanger erheben? Jetzt ist mir klar: kein Gesetz verbietet Mangel an Empathie. Liebe deinen Nächsten steht in der Bibel, nicht im Gesetz. Obendrein steht es schon im Alten Testament: Jesus predigte das, weil er Jude war. Aiwanger hingegen hat nur Mitleid mit sich selbst. Da ist doch jemand, der ihn aus dem Ministeramt jagen möchte. So ein Bösewicht. Wie vielen Menschen er dauerhafte Angst um ihre Sicherheit in Deutschland, zumindest in Bayern, geweckt hat, nimmt er nicht wahr.