Tagebuch Winter 2020/2021
Frankfurt, den 18. März
Aufräumen. Aufräumen. Ordnen.
Ein Prospekt fällt mir in die Hände – so nannte man früher eine Werbeschrift, eine Reklame. Früher – das war eine Zeit, wo die Firmen noch richtige Informationen bekannt machten. Das Werbeheftchen von der Firma Opekta enthält viele Rezepte. Meine Mutter machte Marmelade immer mit „Opekta“, vor dem Krieg und nach dem Krieg. Es war ein weißliches Pulver, mit dem jedes Obst zum Gelieren gebracht wurde, d.h. es gab der Marmelade diese gewisse Festigkeit, die sie braucht, damit man sie aufs Butterbrot schmieren kann. Und damals musste man möglichst „dünn schmieren“, um zu sparen.
Mein Prospekt stammt aus dem Jahre 1993 und enthält ein Preisausschreiben, bei dem die Gewinner sogar ein kleines Citroën-Auto als ersten Preis gewinnen konnten! Als zweiten und dritten Preis gab es eine Vespa; für den 4. bis 100. Platz lagen noch „Einmach-Sets“ der Firma Leifheit bereit. (Worin die bestanden, konnte ich nicht herausfinden.) Vor allem aber enthält der Prospekt Rezepte. Hier schreibe ich mal eins davon ab:
„Grapefruit-Gelée mit Ananas-Stückchen und Rum: 300 g Ananas, ohne Schale und Kernstück gewogen, 600 ml Grapefruitsaft, frisch gepresst, 1000 g Zucker, 20 g Gelierpulver OPEKTA für classic-Konfitüren, 2 El weißer Rum.
- Die Ananas etwa zur Hälfte in kleine Stückchen schneiden und den Rest musig zerkleinern und mit dem Saft mischen.
- Das Pulver mit 1-2 El Zucker vermischen, in das kalte Frucht-Saft-Gemisch einrühren und unter Rühren zum Kochen bringen.
- Den Zucker einrühren und erneut zum Kochen bringen. 5 Min. sprudelnd kochen lassen.
- Topf von der Kochstelle nehmen, danach den weißen Rum unterrühren. Heiß und randvoll in Gläser füllen und sofort mit Schraubdeckeln (Twist Off) fest verschließen.“
Vorher, bei der grundsätzlichen Beschreibung des Verfahrens, hieß es, dass die Gläser zum Erkalten auf den Kopf gestellt werden müssen. Danach wird das Glas wieder auf die Füße gestellt und etikettiert. Selbstverständlich wurden die Klebe-Etiketten in der OPEKTA-Packung mitgeliefert. Je nach Zuckermenge gab es verschiedene Pulver, ja, und 1993 fehlte auch nicht eine Anleitung zum Erhitzen der künftigen Marmelade in der Mikrowelle! Übrigens: das Rezept funktioniert auch ohne Rum.
Ich werde das Heftchen aufheben. Die Firma OPEKTA gehörte einst der Familie von Anne Frank; mit dem Geld, das sie aus diesem Geschäft gespart hatten, bevor sie es zwangsverkaufen mussten, lebten Anne, ihr Schwester, ihre Eltern in Amsterdam, im Versteck. Es ging sehr sparsam dort zu. Sie lebten, bis ein Denunziant sie verriet, und nur der Vater, Otto Frank, überlebte den Krieg. Ich weiß nicht, was bis heute aus OPEKTA wurde. Otto Frank veröffentlichte das Tagebuch seiner Tochter, und dieses Tagebuch ist eines der wichtigsten Mahnmale zur Erinnerung an die Shoa geworden. Darum hebe ich mein OPEKTA-Heft auf.
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Es geschieht viel, ja, jeden Tag ist was los, doch finde ich nicht oft die Zeit, das Geschehene zu verdauen und es ins Webtagebuch einzuordnen. Nun ist Frühlingsanfang nicht mehr weit - trotz der herrschenden Nacht-Kälte stecken manche Blumen die Köpfe heraus - und am nächsten warmen Tag wird die ganze Natur explodieren! So beginne ich beim nächsten Mal mit dem Sommerhalbjahr und rufe hier nur noch: Winter adé!
Frankfurt, den 18. Februar
Als pensionierte EU-Beamtin bin ich auch Mitglied im Verein der Ehemaligen, und weil dieser Verein zweimal im Jahr ein eigenes Nachrichtenblättchen herausbringt, schreibe ich manchmal für dieses Blatt, den deutschen AIACE- Kurier.
Gestern habe ich einen Artikel über Ludwig Börne hingeschickt. Seit Monaten hatte ich ihn geplant, in den letzten drei Wochen mich intensiv mit ihm befasst, und nun rumort mir diese Geschichte immer noch im Kopf herum. Bin ich Börne auf knapp zwei Seiten gerecht geworden? Das weiß ich nicht. Aber ich habe mich bemüht.
Kaum jemand weiß etwas über ihn, den meisten wird sogar der Name nicht bekannt sein. Ludwig Börne (1786 – 1837), das klingt irgendwie nordisch. Meyers Konversationslexikon von 1889, das ich von einem Großvater geerbt habe, widmete Ludwig Börne noch drei große Spalten, so wichtig wurde er zu der Zeit genommen. Ich habe die drei Spalten sorgfältig gelesen und staunte über die Differenzierungen: Börne galt dem Verfasser als aufrichtig und anständig, doch trug er auch Argumente gegen ihn vor, die sich gegen Grundsätzliches (ich übersetzte: Demokratisches), gegen Unruhestiftung wandten, oder was man bei Meyers so empfand. Die Tatsache seines Jüdischseins fiel dabei überhaupt nicht ins Gewicht.
Börne kämpfte seit Beginn des 19. Jahrhunderts vor allem für Freiheit. Er kämpfte mit der Feder, er gründete eigene Zeitschriften, schrieb aber auch in normalen Zeitungen und wich in den zwanziger Jahren zunehmend der Zensur und entsprechenden Verhaftungen aus, indem er sich in Paris niederließ, das er überaus liebte. Nach der Kindheit in dem fast noch mittelalterlichen Getto in Frankfurt, nach Erfahrungen mit den Werten „Liberté, Égalité, Fraternité“ der französischen Revolution, nach dem Rückfall Deutschlands in die sog. Restauration, d.h. in den mehr oder minder absoluten Ständestaat, der häufig den Juden die Bürgerrechte ganz oder teilweise verweigerte – ich sage „häufig “, weil sich ja das 19. Jahrhundert in Deutschland durch Kleinstaaterei auszeichnete – war Börne zu der Überzeugung gelangt, das „Freiheit“ im französischen Sinne die Voraussetzung für Gleichheit war und darum als oberste Forderung gelten musste. Mit großem Wissen, mit viel Witz und einer hinreißenden Eleganz des Stils eroberte er viele Köpfe, die durch die Ideen der französischen Revolution schon zum Nachdenken gekommen waren. Man sollte nicht vergessen, dass Börnes frühe Jahre auch noch die Zeit der „Aufklärung“ umfassten. In Berlin lernte er Hegel kennen. Goethe lebte noch. Börne mochte ihn nicht. Er wünschte, Goethe, dieser bürgerliche Dichterfürst, hätte sich für Freiheit und gleiche Rechte einsetzen sollen. Das tat er nicht. Er passte sich dem Ständestaat an.
In dem Maße, wie Börne durch das Schreiben zu Ansehen und Einfluss kam, wie seine Werke sich glänzend verkauften, wurde auch der Antisemitismus auf ihn aufmerksam. Doch alle Anfeindungen, die sich auf Börnes Judentum stützten, liefen ins Leere. Börne ignorierte sie, als unter seinem Niveau. Von Frankreich aus war das nicht mehr schwierig.
Im 20. Jahrhundert nahm der Antisemitismus, der die christliche Judenfeindschaft zum Teil ersetzt hatte, einen stärkeren Verlauf, und die Erinnerung an Ludwig Börne verlor sich. Erst nach dem 2. Weltkrieg wurden Börnes Ziele in Deutschland wieder aufgenommen, wurde an ihn erinnert und in Frankfurt z.B. der „Börne-Preis“ gestiftet. Ihn erhält jährlich jemand für hervorragende Leistungen im Bereich Essay, Kritik und Reportage. Im Jahr 2020 hieß der Preisträger Christoph Ransmayr, Schriftsteller und Essayist aus Österreich.
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Sobald mein Artikel im „Kurier“ veröffentlicht sein wird, füge ich ihn hier ein!
Frankfurt, den 24. Januar
Von den letzten Seiten des Romans von David Shahar <Eine Reise nach Ur in Chaldäa>. David Shahar wurde 1926 in Jerusalem geboren und wuchs dort auf. Mit 37 lernte er Paris kennen und lieben; dort starb er 1997. Er schrieb auf hebräisch; man nennt ihn auch den „israelischen Proust“, weil er, so sagen die Fachleute, einen ähnlichen Stil wie Proust habe. Die folgenden Zeilen habe ich aus der französischen Fassung dieses Romans übersetzt:
<„Aber wirklich, warum schreibst du so langsam?“
„Das ist eine metaphysische Frage,“ antwortete ich ihr mit einem Lächeln. „Ich schreibe langsam, weil ich schnell denke. Da liegt genau das Problem des Übergangs von einer Idee zum Handeln.“
„Du mit deinen lustigen Einfällen! Nie gibst du mir eine seriöse Antwort.“
„Wenn ich schnell schreiben würde, verstünde es doch niemand, man verstünde weder die Schrift noch das Thema. Außerdem möchte ich keinen leiden lassen. Die Buchstaben leiden, wenn man sie verachtet und sie missgestaltet, und das gilt auch für das Papier, auf denen man sie quält, und für den Stift und für das Auge, das sie liest. Man muss die Dinge spüren.“ Bei diesen letzten Worten stand ihm das Bild seiner Mutter vor Augen, wie sie ein Weißbrot auswählte, eine Handlung, die geschärfte und erfahrene Sinne erforderte: ein Auge, das die goldbraune Rinde des genau richtig gebackenen Brots erkennt, eine Nase, die seinen lauwarmen Geruch wittert, eine Hand, die die Kruste prüft und ein Ohr, welches das leise Knistern beim Drücken der Kruste genau einschätzt. Gleichzeitig erinnerte er sich an die Leiden, die sie ihm in seiner Kindheit zufügte, an seinen ohnmächtigen Zorn, wenn sie ihn zwang, mit dem Weißbrot zum Händler zurückzugehen, um das vorschnell ausgewählte Brot zurückzubringen und es gegen ein anderes einzutauschen, das den Feinheiten ihres Spürsinns entsprach. „Großer Gott,“ sagte er sich, „ erschreckend, wie ich mehr und mehr meiner Mutter ähnlich werde“, und um sich zu versichern, dass die Dinge doch noch nicht so schlimm waren, oder um Orita zu zeigen, das er genau so lustig wie Mufti sein konnte, stürzte er sich nach dem Rasieren auf sportliche Übungen: im Handumdrehen ergriff er den eisernen Stuhl und lief damit eine Runde über die Veranda, wie ein Läufer, der eine Fackel vor sich her trägt, die sich in einen Stuhl verwandelt hat. >
Warum sprach mich dieser Abschnitt so an? Er macht sich ein wenig lustig über den, auch meinen, Anspruch auf den Gebrauch einer präzisen Sprache. Ich bin ja noch immer Mitglied im „Literaturclub der Frauen aus aller Welt“, und dort wird zwar über das Thema nicht diskutiert, doch gibt es zur Zeit Frauen, die sich für das Thema „Präzision“ betont und ausdrücklich nicht interessieren. Augenblickserfolge sind gefragt, nicht aber Sorgfalt im Umgang mit der Sprache. Diese Gleichgültigkeit liegt gegenwärtig in der Luft, und darum werde ich konkret nichts dagegen unternehmen können. Deshalb kommt mir David Shahar gerade recht. Er geht von einem tiefen Respekt vor der Sprache aus, und versteht dennoch die Welt und ihre Sehnsucht nach Oberflächlichkeit. Es gelingt ihm, beide zu würdigen in diesem kurzen Ausschnitt.
Das ganze Buch ist übrigens auch auf Deutsch erschienen: 1985 im Athenäum-Verlag, übersetzt von Eva Moldenhauer.
Corona-Zeit = Behelfszeit. Vielen Menschen entgleiten ihre Existenzgrundlagen. Sie lernen zu improvisieren. Beweglichkeit wird gefordert, flexibel sein im Alltag, sich was einfallen lassen. Vermeintlich kommt es dabei auf Dinge wie Regeln und Vorschriften nicht immer an. Man passt sie den unmittelbareren Erfordernissen an. Ob das aber auch für jene jungen Leute zwischen dreißig und vierzig galt, die ich kürzlich auf der Fressgass in Frankfurt erlebte, wie sie sich aufs herzlichste begrüßten und mit lauter Stimme kurz von ihren Reisen berichteten – die einen kamen grade von Mallorca zurück, die anderen reisten zum Wochenende nach Davos? Warum sie sich das so lauthals verkündeten, wage ich nicht, mir zu erklären. Sie waren ja nicht allein. Ja, auf der Fressgass, zwischen Hauptwache und Alter Oper, gehen noch immer viele Menschen umher, oder fahren auf elektrischen Rollern oder manchmal in teuren Autos......
Sie liegt auf meinem Weg zur Krankengymnastik, diese hilft mir einmal die Woche sehr, mich halbwegs auf den Beinen zu halten. Aus medizinischen Gründen darf man ja raus.... Meine Beine machen mir Sorgen.
Frankfurt, den 17. Januar
Zum dritten Mal in diesem Winter leuchtet die Welt in Weiß und der Himmel hüllt sich in Nebel, und es schneit noch weiter. Zwischen den wehenden Flocken aber seh ich senkrecht stürzende Tropfen – Schneeregen. Bis heute Abend wird der Schnee wohl wieder geschmolzen sein.
In der ersten Nummer der „London Review of Books“ des neuen Jahres lese ich, wie in der Vergangenheit, ein Jahres-Tagebuch von Alan Bennett. Bennet ist ein großer Schriftsteller, wurde für seine Theaterstücke berühmt, ist auch selbst als Schauspieler aufgetreten, hat Filme gedreht – und nebenher lässt er seit einigen Jahren eine dreiseitige Version seines jüngsten, eigentlich privaten Jahrestagebuch veröffentlichen. Ich lese das immer gierig, und heute weiß ich auch warum. Er ist genauso alt wie ich, er stammt aus einfachen Verhältnissen, er hat gekämpft und kämpft weiter. Ein Vorbild. Grade weil er den Alltag in sein Denken und Schreiben einbezieht und dennoch eine genaue, anschauliche, sorgfältige Sprache führt. Dieses Mal, also für das Jahr 2020, endet er mit einem Eintrag vom 15. Dezember und schreibt Folgendes: „There were those in 1914 who believed that war was just what was needed – as a cleanser and a salutary shock. England would be the better for it. As we wait fort he final Brexit talks, the heirs oft these fools are still with us.“ Wenn Sie die zwei Sätze noch einmal gelesen haben, versuche ich mich an einer Übersetzung: „Im Jahr 1914 gab es solche, die meinten, dass Krieg genau das Richtige wäre – zum Reinigen und als gesunder Schock. England würde es danach besser gehen. Während wir jetzt auf das Ergebnis der abschließenden Brexit-Verhandlungen warten, sind die Erben jener Narren immer noch unter uns.“
Wie recht er hat!
Alan Bennet beschreibt auch, wie ihm das Gehen immer schwerer fällt, und ich finde genau meine eigenen Schwierigkeiten darin wieder. Mit dem Unterschied, dass ich mich immer noch verpflichtet fühle, wieder „normal“ gehen zu können und mehrmals die Woche zu entsprechenden Behandlungen laufe (ja, meistens nehme ich Bahn oder Bus, nur selten ein Taxi). Bennet, der in einem kleinen Einfamilienhaus wohnt, wo die Treppe eine Selbstverständlichkeit ist, fängt an, von einem Treppenlift zu träumen, was er sich aber gleichzeitig verbietet, aus ästhetischen Gründen. So berichtet er. Ach, wie gut ich ihn verstehe! Ja, davon träum ich auch: täglich zu meinem vierten Stock die Treppe zu Fuß hinaufzugehen. Derzeit schaffe ich gelegentlich und sehr mühsam noch einen einzigen Stock. Bei mir im Haus mit seinen 14 Stockwerken laufen ja zwei Aufzüge. Und auch mir helfen Menschen, wo ich es allein nicht schaffe, mich selbst zu versorgen. Noch muss ich meine Probleme nicht an Institutionen, an gleichgültige Fremde abgeben. Es ist aber auch sehr schön zu lesen, wie Bennett auf seine Familie, auf seine Umgebung selbstverständlich zählen kann. Diskret und wohltuend. Ja, Bennett zu lesen macht immer Freude. Kennen Sie „Die souveräne Leserin“? In der Erzählung stellt Bennett sich und den Lesern anschaulich vor, wie sich die Königin in eine begeisterte Bücher-Leserin verwandelt. Äußerst liebenswürdig und unterhaltsam.
Frankfurt, den 16.Januar
Sprache dient der Verständigung. Zunächst wollte ich schreiben: der Kommunikation. Doch bedeutet dieses Wort heutzutage oft nicht mehr als Monolog. Einer ruft hinaus, was er sagen will, kümmert sich nicht um Zuhörer, erwartet keine Antwort. Nur Lob nimmt er immer.
Verständigung also. Mitteilung natürlich auch. Der griechische Dichter Homer hat vor knapp 3000 Jahren ein Lied gesungen, darin eine Geschichte erzählt, und weil er oder irgendjemand die Worte dieses Liedes niedergeschrieben hat, können wir sie heute noch lesen: Die Odyssee. In einer älteren deutschen Übersetzung (von Voss) beginnt die Odyssee mit den Worten: „Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes, welcher so weit geirrt nach der heiligen Troja Zerstörung, seine Seele zu retten und seiner Freunde Zurückkunft. Doch die Freunde rettet’ er nicht, so eifrig er strebte...“ Er sprach seine Worte einer „Muse“ zu, einer göttlichen Person, die das Wirken von Sängern und Dichtern beschützte. Keiner war allein in Homers Welt, jeder legte irgendwo Rechenschaft ab. Das Leben der Menschen ließ sich nur im Dialog denken, im Gespräch.
Heute erzählen wir uns dem „Netz“. Doch das Netz ist keine Muse, es inspiriert wenig shcützt nicht und fordert keine Rechenschaft. Dem Netz ist alles egal. Wirklich? Es gibt die „Plattformen“, auf denen Leser/in ein „Gefällt mir“ hinterlassen darf, oder „Gefällt mir nicht“. Keiner sagt, was „Gefallen“ hier bedeutet wenn nicht „Zustimmung“ oder „Ablehnung“, ja oder nein. Ein Urteil. Ohne jegliche Abstufungen, Schattierungen oder Für- und Wider-Überlegungen. Wer so was Differenziertes im Kopf hat, schweigt lieber, wendet sich ab. Gespräche im alten Sinn werden seltener, oft unmöglich.
Ob Corona daran was ändert? Ich wohne inmitten von kleineren und größeren Geschäften, da stehen Bänke, auf denen die Leute sich manchmal niederlassen, ja auch eine Caféterasse direkt unter meinem Balkon, wo sich außerhalb des Lockdowns oft Leute treffen und miteinander sprechen, auch ohne sichzu setzen. Seit einiger Zeit nun reden die Leute in einem anderen, einem neuen Ton miteinander. Ich verstehe ihre Worte nicht, aber ihre Stimmen haben eine Dringlichkeit bekommen, die sie vorher nie hatten, und die Stimmen wechseln in längeren Abständen – das heißt, sie erzählen einander was und sie hören einander zu. Es ist ihnen wichtig. Es geht offenbar um genaue Umstände, die sie beide betreffen, wo vorher nur Small-talk üblich war.
Ein Professor Auerbach musste im Krieg vor den Nazis flüchten, wurde in der Türkei aufgenommen und lehrte dort an einer Universität deutsche Literatur. Er schrieb in jenen Kriegsjahren ein Buch, und darin setzte er sich unter anderm mit den besonderen Umständen von Odysseus’ Heimkehr auseinander. Als ich die Geschichte entdeckte, fühlte ich mich zutiefst angesprochen von der Frage: woran erkenne ich jemanden wieder, den ich mal gekannt habe? Wie gehe ich damit um? Wie ergeht es dem Heimkehrer selbst, dem zunächst niemand glauben wird, er sei Odysseus, den man für tot hielt? Welterfahren, versucht er auch nicht, jemanden davon zu überzeugen. Nur seiner alten Amme eröffnet er sich, die nach den zwanzig Jahren seiner Abwesenheit glücklicherweise noch am Leben ist. Und die ihn an seinem Muttermalen wiedererkennt. Auerbach holte aus diesen Szenen so viel Wirklichkeit, eine solche Bedeutsamkeit hervor, dass ich von seiner Interpretation vollkommen gefesselt war – und bei jeder neuerlichen Lektüre wieder bin. Dieses Wiedererkennen, diese Wiederherstellung von alter Nähe ergreift mich, wahrscheinlich betrifft sie mich. Wie vielen anderen ergeht es ähnlich? Eine Beziehung zwischen Menschen wird beschrieben.
Im heutigen Netz geht es gern zum Beispiel um Katzen. Bilder von Katzen vor allem, manchmal die Worte dazu, erhalten zahllose „Gefällt mir“. Viele fühlen irgendwas dabei und empfinden Glück.
Aber ersetzt das ein Gespräch? Erfüllt sich die Welt und das Leben im Kuscheln? Genügt Kuscheln zum Beispiel, um ein Kind groß zu ziehen? Oder es einfach aufwachsen zu lassen? Kann man ein Kind mit Kuscheln auf das Leben vorbereiten? Kann jemand mit Kuscheln seinen Lebensunterhalt verdienen? Kann man durch Kuscheln lernen, mit den Nachbarn auszukommen? Sich mit ihnen zu verständigen?
Ich denke, diese Katzen-Kuschel-Fantasien sind nicht mehr als eine Flucht vor der Wirklichkeit. Ein bequemes Ausweichen vor der Notwendigkeit eines „Nein“ zum Beispiel. Und eine Verschwendung von Lebenszeit, wenn man stattdessen lernen könnte, seine Gefühle auf anderen Wegen auszudrücken, zum Beispiel in einer Sprache, die unendliche Möglichkeiten von Genauigkeit und Schattierungen bietet. Die meisten Sprachen bieten das, man muss sie nur lernen, und weil Sprachen lebenden Wesen gleichen, sind sie in gewissen Grenzen immer neu variierbar – es gilt, diese Grenzen abzutasten, zu erkennen, sich zu eigen zu machen. Es sind die Grenzen der Verständigung.
Sprachen dienen der Verständigung.
Frankfurt, den 12. Januar
Im Morgendämmern sich noch einmal im warmen Bett umdrehen. Geräusche hören, die sich nicht einordnen lassen. Wohlig das Unbegreifliche unbegreiflich sein lassen – nicht alles erklären müssen! Nicht jederzeit als Wachsoldat neben der Vernunft stehen müssen. Sehnsucht nach Träumen?
Da fällt mir ein, dass wahrscheinlich draußen jemand Schnee vom Beton schabt. Es könnte geschneit haben diese Nacht.
Ja, und es schneit immer noch, wie ich kurz darauf beim Blick aus dem Fenster bemerke. Eigenartig, wie sich der vertraute Anblick unterm Schnee verändert. Hinter den Häusern dichter Nebel. Ich suche nach dem Fotoapparat.
Gestern Abend unterhielt ich mich in einem Telefongespräch lange über Feminismus. Den Ausdruck gebrauche ich ungern, er legt einen im Kopf der andern leicht allzu fest: als berechenbare Gesinnung, als Männerverachtung, als Kampfansage. Ich bin eine Frau – und das ist ein Mensch, der sich durch seine natürliche, das heißt auch unwillkürliche Fähigkeit, Kinder hervorzubringen, von andern Menschen, die diese Fähigkeit nicht besitzen, unterscheidet. Die neun Monate Schwangerschaft und die Geburt verändern die Selbstwahrnehmung einer Frau grundlegend. Sie wird nie mehr dieselbe sein wie vorher. Sobald das Kind geboren ist, stellt sich die Frage der Verantwortung. So ein Kind braucht Versorgung, sonst kann es nicht überleben. Die Gebärende hat nun in ihren Brüsten Milch, um damit das Kind solange zu nähren, bis es die Nahrung von Erwachsenen verdauen kann. Die meisten Männer stellen sich dieser Verantwortung zunächst nicht. Und wenn doch, dann wollen sie selbst und allein darüber bestimmen: über das Kind, über die Mutter. So entstand das Patriarchat.
Wir leben in einer Zeit und – in Europa – an einem Ort, wo sich diese Dinge langsam ändern.
Übrigens wird die Schwangerschaft der Frauen in einem Ritual gespiegelt, das die Männer für ihren Nachwuchs entwickelt haben: durch Initiationsriten wurden Jungen zum Mann gemacht. Ich hatte mich lange gefragt: warum gibt es solche Riten nicht für Frauen? Ich denke jetzt: Schwangerschaft ist die Antwort. Die ist in etwa ab 16 Jahren möglich – in dem Alter, in dem die Italiener eine Frau als „nubile“ bezeichnen, was ins Deutsche recht bürokratisch mit „heiratsfähig“ übersetzt wird. Es ist ein Männerwort: von dem Moment, wo ein Mädchen gebärfähig wird, kann ein Mann von ihm Nachwuchs erwarten, sie also hoffnungsfroh heiraten. Wer erinnert sich noch daran, dass ein persischer Schah sich ziemlich rasch von seiner ersten Frau wieder scheiden ließ, weil sie keine Kinder bekommen konnte? Unbrauchbar!
Die Zeiten ändern sich. Schön. Doch nicht alle sind einverstanden damit, dass Frauen selbständig über ihren Körper entscheiden dürfen. Dass für sie die gleiche Definition der Menschenrechte gilt und gelten muss wie für Männer. Dagegen erheben sich alle Arten von Fundamentalismen: die Evangelikalen in den USA, die Islamisten im Orient und bei uns die Völkisch-Nationalen, die Frauen wieder zurück an den Herd schicken wollen. In den Statuten der deutschen Rechtspartei AfD findet man schon die Handhabe dafür. Bei konservativen katholischen Bischöfen hat sich die altbackene Unterscheidung bis heute erhalten: der Mensch ist ein Mann, der, wenn er schwach ist, neben sich eine Frau haben soll, die ihn unterstützt; aber wenn er stark ist und trotzdem auch zu Gehorsam fähig, wird er Bischof..... Nun, ich versuche zu scherzen.
Eine andere Frage, auf die ich bislang keine Antwort gefunden habe, ist die der Erziehung. Seit vielen tausend Jahren haben kluge Männer über die Erziehung von Jungen nachgedacht. So kam es zu den Initiationsriten. Unsere heutigen Erziehungsgrundsätze orientieren sich aber immer noch an dem Bedarf von Jungen, scheint mir. Streng genommen: an dem Bedarf von Menschen. Aber was ändert das? In den romanischen Sprachen etwa gibt es keinen Unterschied zwischen „Mensch“ und "Mann". Idealerweise sollte ein Mensch, wenn er/sie erwachsen wird, selbständig für sich selbst einstehen und aufkommen können. Warum wird das oft nicht erreicht? Dass Vierzigjährige noch auftreten wie fünfjährige Kinder: Ich will das haben, was ich immer hatte! Darauf habe ich ein Recht!
Ich vertrete eine andere These: in der Erziehung kommt die Frage nach der Verantwortung nicht genügend vor. Diese uralte Frage, die sich einer Gebärenden spontan stellt, die scheinbar selbstverständlich auftritt und auf die die Frauen reagieren. In den wenigsten akademischen Fächern spielt Verantwortung eine Rolle. In der Philosophie läuft sie einzig unter Ethik. Ethik lässt sich nicht streng mathematisch-logisch beweisen, wie andere wissenschaftliche Theorien, also schieben z.B. BWL’er sie gerne ganz beiseite. Der Zweck eines Betriebs, so lernen sie, ist es, Gewinne zu erwirtschaften, nicht aber, auf Menschen Rücksicht zu nehmen. Für den Schutz der Menschen muss heute „der Staat“ sorgen, mit Vorschriften über Arbeitsschutz, Umweltschutz, Tierschutz, Mutterschutz.........
In meinen Augen bleibt die Frage nach der Erziehung von Mädchen offen, die vielleicht auch als eine Erziehung zur Verantwortung für ALLE gedacht werden könnte. Ich halte es nicht für Zufall, dass sich unter den Klimaschützern ganz besonders viele Mädchen und Frauen hervortun. Eine Aussicht, die mir Hoffnung macht.
Frankfurt, den 2. Januar 2021
Vom Willkommenheißen
Das Wort „Segen“ klingt angenehm in den Ohren, nicht wahr? Es reimt sich auf „Regen“ und ein solcher, im richtigen Moment, wird gern ein „Segen“ genannt, nämlich für Felder und Gärten – besonders im Mai sichert dieser Regen die Ernährung für den nächsten Winter.....sicherte, muss ich sagen; heutzutage quellen die Märkte das ganze Jahr lang von Früchten über. So werden die Tomaten im Garten häufig zum Hobby. Professionelle Tomatenanbauer indessen haben auf den Feldern ihre Bewässerungsanlagen.
Gleichzeitig ist „Segen“ aber auch ein religiöses Wort. Wer gibt einen Segen? Nach der Redensart „Na ja, meinen Segen hast du“ – eine zögernde Zustimmung, die etwa eine Mutter ihrem heranwachsenden Kind mit auf den Weg gibt, zu einem Ziel, mit dem sie nicht einverstanden oder zumindest nicht vertraut ist – handelt es sich um Alltag, nicht um etwas „Religiöses“. Ja, gehört Religion denn nicht zum Alltag? Heute nur noch selten, und die meisten Leute betrachten eine solche Vermischung eher als überholten Aberglauben, gegenüber welchem man jedoch tolerant zu sein hat.
Ein gewisses Gefühl für das, was „Segen“ bedeutet oder bedeuten kann, existiert also noch. Es ist etwas mehr als „Alles Gute!“ oder „Glückwunsch!“. Das Wort kommt nicht sehr häufig vor, ist aber nicht ausgestorben.
Auf Französisch heißt der Segen eine „bénédiction“, eine „gute Rede“ oder so ähnlich. Und dennoch stellt sich auch dort die Frage: Wer erteilt die "bénédiction“? oder: Wer darf das? ebenso wie im Deutschen bei dem Wort „Segen“. Darf ich segnen? Ich meine, habe ich die Macht, einen Segen zu erteilen? Kann ich das aus eigener Kraft, oder brauch ich eine zusätzliche Kraft dafür, die außer mir existiert? Immerhin geht es dabei um Zukünftiges, und niemand kann wirklich über die Zukunft entscheiden.
All diese Gedanken drehten sich jüngst in meinem Kopf, als ich über den Begriff „Willkommen“ nachdachte. Auch dies ist ein Wunsch, der sich auf die Zukunft erstreckt. Im Französischen heißt es „Bienvenu!“, ist also ähnlich konstruiert wie „bénédiction“ und bedeutet in etwa: „Gut gekommen!“, oder „gut, dass du kommst!“, und ist ein Wunsch, keine Feststellung. In beiden Fällen ist gemeint: möge (aus meinen Worten oder aus deinem Kommen) etwas Gutes ersprießen.
Da ich seit vielen Jahren Familie in Israel habe und oft dort gewesen bin (das Corona-Jahr war das erste seit fast 40 Jahren, in dem ich nicht hinreiste), kenne ich einige Worte Hebräisch, und zu diesen Worten gehört das hebräische Willkommen: „baruch haba“, gesegnet sei, der kommt. Das ist ein Singular, und darum existiert auch ein Plural: „bruchim haba’im“, gesegnet seien die, die kommen (übrigens gibt es beides noch mal in weiblicher Form). Den Plural kann man auch mit „Gesegnet sei, was kommt“ übersetzen. Wer segnet hier? Gemeint ist immer: „Möge Gott segnen, was kommt.“ Und doch spricht diesen Segen ein Mensch aus, der sich entschieden hat, in diesem Fall Gottes Segen herabzurufen. Die „äußere Kraft“, von der ich vorher gesprochen habe, steckt hier verborgen in der Verbform, und wer sie gebraucht, wird sich der vollen Bedeutung durchaus nicht immer bewusst sein. Damit meine ich: „Willkommen!“ kann jeder sagen, auch im Hebräischen, wenn ihm oder ihr danach zumute ist. Aber man denkt nicht immer darüber nach.
Wenn ich „Willkommen!“ sage, so verspreche ich dem Ankommenden damit auch, dass ich friedlich gesonnen bin. Wenn ich aber „Bruchim haba’im!“ sage, so rufe ich gleichzeitig einen Segen über dem, wer oder was kommt, aus, was bedeutet: dass auch der andere friedlich gesonnen sein möge. Bekanntlich gehören zum Frieden immer zwei. Mit diesem Segen gewinne ich einen kurzen Moment, in dem mir das oder der Neue, Unbekannte nicht als beängstigend erscheint, sondern als friedfertig, als positiv. Für einen Moment lang kann ich ihn, sie oder es mit allen Sinnen betrachten und einen Eindruck gewinnen. Sie wissen ja, der erste Augenblick entscheidet oft über Sympathie und Antipathie. Dieser Moment, unter dem Schirm des Segens, ermöglicht mir, mich auf die Zukunft vorzubereiten. Mich besser vorzubereiten, als wenn ich von Angst gelähmt wäre. Dieser Moment ist von Zuversicht erfüllt.
Darin kann die Kraft des Segnens liegen, wenn man denn meint, was man sagt und sich nicht mit Floskeln zufrieden gibt.
Frankfurt, den 12. Dezember
Als einen Akt von Freundschaft erhielt ich dieser Tage ein Päckchen mit einem Buch und zwei älteren Zeitschriften darin. Das Buch hieß „Ritual und Gewalt“. Es lag auch eine Karte der Absenderin dabei, die mir Lektüre zum Advent wünschte, weil sie mich kennte als eine, die gern liest.
Ja, glücklicherweise kann ich trotz meines vorgeschrittenen Alters noch gut lesen. Und ich lese viel, komme kaum nach mit dem Lesestoff. Es gibt so vieles, das ich genauer wissen möchte. Es muss danach aber auch alles im Kopfe verstaut werden, es soll sich ins Bestehende sinnvoll einordnen lassen, wofür ich doch immer wieder auch Extra-Zeit brauche. Kann ich da mit dem Thema „Ritual und Gewalt“ etwas anfangen?
Aus politischer Sicht habe ich mindestens die letzten 40 Jahre sehr angespannt und genau die laufenden Ereignisse verfolgt, ich wollte wissen, wo das herkommt, was es bedeutet, welche Ziele dahinter stehen. Da waren „Rituale“ ein grell schillerndes Thema, eng verknüpft mit jeglicher Sicht auf den Ursprung der Welt. Vor wenigen Jahren nahm ich noch an einer längeren Tagung zum Thema „Tabu“ teil – damit, so schien mir, hatte ich das Thema „Rituale“, deren Ursprünge und Verwirklichungen mitsamt ihrer Bedeutsamkeit, einmal umrundet. Ein Ritual ist zum Beispiel auch, wenn ich ein Buchgeschenk in buntes Papier einpacke, bevor ich es überreiche. Es ist ein Ritual, wenn ich, nach deutscher und sehr unpraktischer Sitte, einen Blumenstrauß von seinem Einwickelpapier vor der Übergabe befreien muss. (Wohin mit dem Papier?) Selbstverständlich gehören Weihnachtsfeiern in diese Rubrik. Ein gemütliches Sonntagsfrühstück. Das sind die harmlosen Rituale, die indes ihre Bedeutung haben.
Es gibt unter Ritualen auch solche, deren Ausführung heute verboten, ja tabuisiert ist, und bei denen ein Verstoß gegen das Verbot es umso „wertvoller“ macht, wie etwa Körperverletzungen bei Initiationsritualen. Beim Militär kommt so was manchmal vor. Bei den korporierten Studenten zeugen die sog. „Schmisse“ davon.
Rituale sind wahrscheinlich die ältesten Regeln zur Eindämmung von Gewalt. Wer das Ritual missachtet, wird sterben, wird für alle Ewigkeit bestraft. Oder was auch immer. Die Furcht vor der Strafe muss nur groß genug sein, dann funktioniert das – bei allen Menschen, überall auf der Welt. In dem besagten Buch stellt der Autor Zusammenhänge zwischen diversen Ritualen und diversen Gewalttätigkeiten fest. Nicht zufällig ist der Verfasser ein Ethnologe.
Soweit zu „Ritual“. Wie aber stet es mit „Gewalt“? Da begnügt sich der Verfasser mit allgemein verständlichen Bezeichnungen wie „Mafia“, „Al Quaida“, „Ehrenmord“, um nur einige zu nennen. Es kommt ihm nicht in den Sinn, etwa auf die Tatsache hinzuweisen, dass in der BR Deutschland, statistisch gesprochen, alle drei Tage eine Frau von ihrem jetzigen oder ehemaligen männlichen Partner getötet wird. Wahrscheinlich hätte unser Autor ein Problem, das zugehörige Ritual dingfest zu machen. Also vielleicht die noch immer tradierte Überzeugung in unseren Gesellschaften, dass eine Frau dem Mann gehört, der sie einmal „besessen" und über die er Verfügungsrechte erworben hat? In den USA bezeichnet man gegenwärtig eine Gruppe von Männern als „unfreiwillig zölibatär“ („incel“), die keine Frau finden, die sich freiwillig mit ihnen liieren will, weswegen sie nun dafür kämpfen, dass ihnen ein verbrieftes Recht auf den Besitz einer Frau zustehe. Solche finden sich heute unter den verschiedenen Sorten von Rechtsextremisten, auch in Deutschland, die für ein Patriarchat ähnlich wie im 19. Jahrhundert kämpfen. Davon steht in dem mir zugesandten Buch nichts. Es gäbe aber darüber sehr viel zu sagen. So sehe ich im IS nichts anderes als eine Gruppe von Männern, die allen Mitgliedern das Anrecht auf den Besitz (mindestens) einer Frau zusagt.
Darf ich diese Überlegungen als eine Antwort auf den anfangs genannten "Akt der Freundschaft" betrachten?
Vielleicht handelt es sich um eine schwierige Freundschaft. Um eine Verschmelzung von Sympathie und Wut. Aber, um mit Hillel dem Älteren zu fragen: Wer schützt mich, wenn ich es nicht tue? Ich beziehe mich damit auf die erste seiner berühmten drei Fragen: „Wenn ich nicht für mich bin, wer ist für mich? Wenn ich nur für mich bin, was bin ich? Wann, wenn nicht jetzt?“
Auf Artikel in den beiden Heften gehe ich vielleicht ein andermal ein.
Frankfurt, 16. November
Immer wieder frage ich mich, wie die Trump-Anhänger so reden können, wie sie es tun. Trump hat vom ersten Tag seines Amtes an gelogen, hat das Tag für Tag fortgesetzt. Das kann doch keinem entgangen sein? Wie ist das möglich, solch ständiges Selbstbelügen der Anhänger? Merken sie das nicht? Ist ihnen das egal?
Dieser Tage sprach ich mit einem Freund wieder einmal über Martin Buber und seine „Erzählungen der Chassidim“, die mir so viel bedeuten. So zitierte ich eine Geschichte, die wie folgt lautet: „Rabbi Pinchas pflegte zu sagen: Wenn einer singen will und kann die Stimme nicht erheben, und es kommt einer, mit ihm zu singen, so kann auch er die Stimme erheben. Das ist das Geheimnis des Haftens vom Geist am Geist.“ Das mit dem Singen, das habe ich selbst erlebt. Es gab eine Zeit, da hatte ich meine Stimme verloren, und mit Hilfe eines kundigen Menschen fand ich sie wieder. Ich lernte, nach den Regeln zu singen, ich sang sogar einige Male öffentlich in Begleitung einer Pianistin. Es war sehr schön, sehr aufregend. Ich singe immer noch gern, besonders auch mit anderen zusammen. Manchmal geschieht so etwas spontan. Aber es waren die Gesangslehrer, denen ich das verdanke, die sich so auf mich eingestellt haben, dass es mir wieder möglich wurde. Singen ist eine Gottesgabe.
Als ich nun wieder und wieder in den Fernseh-Nachrichten die Trump-Anhänger sah, die in wilder Begeisterung weiter für ihr Idol demonstrierten, ihm alles nachplapperten, was es von sich gibt, da kam mir plötzlich der Gedanke: wenn man in der frommen Geschichte anstelle von „singen“ das Wort „hassen“ gebrauchen würde, was natürlich das Gegenteil von fromm wäre und Rabbi Pinchas nie über die Lippen gekommen wäre, dann funktionierte das offenbar auch. Die Leute fühlen sich von ihrem Anführer in tiefster Seele verstanden, so halten sie weiter blind zu ihm. Es ist dieses „Haften vom Geist am Geist“, das den Menschen wesentlich ist, und wenn sie sonst nichts gelernt haben, dann bleiben sie auf der niedrigsten Stufe stecken. So dass die amerikanischen Verhältnisse, über die wir uns in Europa so wundern, vielleicht eher mit den mangelhaften Leistungen öffentlicher Schulen zusammenhängen – öffentlich, damit kostenlos, damit von geringem Anspruch. Oder überhaupt mit einem geringen Anspruch an das Lernniveau, das wohl auch von den Evangelikalen gewünscht wird. Nur nicht nachdenken, so kommt es mir vor. Man hat ja sein Maschinengewehr. Falls Gott grade nicht da ist, gibt es mir Sicherheit. Es wäre dann dieser Anspruch, um den es in dieser Präsidentenwahl ging. Zuversichtlich stimmt mich, dass offenbar in den Wahllokalen der ganzen Nation mit besonderer Aufmerksamkeit die Stimmen gezählt wurden, so dass nirgendwo Irrtümer oder gar Fälschungen aufgedeckt wurden. Jemand hat gesagt: „Es war die genaueste Wahl, die es je gab!“ Das bedeutet ja auch: eine Übereinstimmung der Gemüter über das ganze Land hinweg. Ein erstaunlicher Weg zu einer neuen Einigkeit hin?
Der Mensch ist ein Lerntier. Zum Lernen geboren. Dennoch ist er dafür auch auf andere Menschen angewiesen. Alle Menschen lernen von andern. Falls sie das nicht selbst verweigern, abwehren. Vielleicht weil ihnen die Zuwendung fehlte? Das "Haften vom Geist am Geist"?
Frankfurt, den 10. November
In den letzten Wochen hatte ich mich hauptsächlich auf ein Thema konzentriert: die gemeinsame deutsch-jüdische Geschichte. Sie gehört von Historikern geschrieben, von jüdischenund nichtjüdischen gemeinsam, und sie gehört in der Schule gelehrt. Wie sonst sollen denn Kinder lernen, was "jüdisch" bedeutet und dass Juden an der Entwicklung unseres Landes großen Anteil hatten und haben? Die Erwachsenen müssen solange in Nachhilfe gehe, damit keiner mehr einem jüdischen Landsmann unterstellt, dass er nach Israel gehöre. Alle Deutschen können, wenn sie wollen, nach Israel, in die Vereinigten Staaten, nach Frankreich oder sonst wohin auswandern!
Diese gemeinsame deutsch-jüdische Geschichte hat schon mit den Römern begonnen. Meine Zeit verbrachte ich hauptsächlich damit, mein Anliegen in einem allgemein verständlichen Text zusammen zu fassen, den ich der taz, auf die ich seit 40 Jahren abonniert bin, zum 9. November vorschlagen wollte. Vorgeschlagen habe. Ich erhielt wohl eine Eingangsbestätigung, aber sonst keine Antwort. Erschienen ist der Artikel auch nicht. Freunde meinten, er sei "überdurchschnittlich für Zeitungsniveau" oder "zu hoch auflösend". Besser hab ich es für den Moment nicht geschafft. Nun gebe ich diesen Text mit kleinen Änderungen in mein Webtagebuch. Hier ist er:
9. November: Zum Gedenken an die Pogromnacht vor 82 Jahren
Von Barbara Höhfeld
Das muss ich vorausschicken: ich spreche als Goy. So nannten die deutschen Juden früher die Nichtjuden. Seit dem Krieg nennt man uns auch „die Deutschen“, im Gegensatz zu „den Juden“. Ich will aber mit deutschen und von deutschen Juden sprechen. Die gibt es. Ignaz Bubis hat sich als deutscher Jude verstanden. Und vielen anderen, die gleicher Auffassung waren, bin ich begegnet. Es gibt jedoch eine völkisch, oder ethnisch, orientierte deutsch-nationalistische Minderheit im Lande, die will noch immer behaupten, dass Jüdischsein das Deutschsein ausschlösse. Diese Minderheit gehört zu jenen, die derzeit den Antisemitismus anheizen. Vor Gewalt nicht zurückschrecken. Das fängt bei gewissen Studierenden-Vereinen an (sog. „Burschenschaften“), zieht sich durch viele rechte Vereinigungen, Ordnungskräfte nicht ausgeschlossen, und endet immer wieder auf der Straße, in Attentaten. Es ist eine Schande.
Es lässt sich eine gemeinsame deutsch-jüdische Geschichte seit über tausend Jahren nachweisen. Sie ist nicht ruhmreich, nicht für die Goys. Doch erlaubte das deutsche Reich den Juden grundsätzlich, hier zu leben, sicherte ihnen Schutz zu – darum blieben sie hier, darum wurden sie zu deutschen Juden, zu einem Teil der Deutschen; sie kämpften hier im 19. Jahrhundert gemeinsam mit vielen anderen freiheitsliebenden Landsleuten für den Rechtsstaat, für eine erste Verfassung, was 1919 zur Republik, zum allgemeinen Wahlrecht, zur Weimarer Verfassung führte.
Andere Länder Europas gewährten solchen Schutz lange nicht (in Frankreich: nicht bis zur französischen Revolution). Darin liegt der Unterschied, und auf diesen Unterschied stütze ich mich. Denn ich will wissen, wie es zu Auschwitz kommen konnte, „Auschwitz“ als Sammel-Begriff für die tödliche Judenverfolgung der Nazis. Was geschah VOR 1933, dass solche Verbrechen überhaupt möglich wurden? Was geschah in den über tausend Jahren vor 1933? Wer weiß das? Davon steht in den Geschichtsbüchern nichts. Ich habe in einigen Schulbüchern nach dem Wort „Jude“ gesucht, es kam nicht vor, oder höchstens im Zusammenhang mit der Naziherrschaft. Auch „Antisemitismus“ erschien meistens erst im 20. Jahrhundert. Das reicht aber nicht, um zu begreifen, woher die Vorurteile kamen. Was geschah vorher?
Schauen wir uns die Geschichte von Köln an. Köln wurde als römische Stadt in der römischen Provinz Germania gegründet (Germania reichte östlich kaum über den Rhein hinaus); es war eine florierende Handelsstadt. Im Jahr 459 eroberte ein Frankenkönig die Stadt, ließ aber die römische Ordnung zunächst bestehen, so dass die Stadt auch weiterhin florierte. Schon im Jahr 321 war eine Anweisung vom römischen Kaiser an die Stadtregierung ergangen, dass künftig auch Juden aktiv an der Regierung teilhaben dürften. Es hatte sich nämlich gezeigt, dass unter den Vornehmen der Stadt, die eigentlich zum Dienst an der Gemeinschaft verpflichtet waren, sich nicht mehr genug Personen fanden, die diese mühsame Arbeit auf sich nehmen wollten. Normalerweise waren Juden zur Teilnahme an der Verwaltung des Gemeinwesens nicht zugelassen. Ihre Religion war im Römischen Reich grundsätzlich erlaubt. Sie brauchten nicht einmal der römischen Staatsreligion Respekt zu erweisen, wie das von anderen verlangt wurde, da die jüdische Religion eine solche Teilnahme an einer anderen Religion nicht gestattet. Allerdings durften die Juden darum auch keine öffentlichen Ämter bekleiden. Dieses Verbot wurde 321 für Köln aufgehoben. Das Dokument gibt es noch.
Jesus war Jude und wurde von einigen Juden als der von allen erwartete Messias ausgerufen. Doch wollten nicht alle das glauben und es entstand die Spaltung, die später auf der einen Seite zur Kirche führte. Die anderen blieben bei ihren überlieferten Gesetzen. Sie legten sie aus, immer neu, wie sie es schon lange taten. Sie konnten damit neue Situationen erfassen und einordnen. Der Prophet Jeremias etwa sagte den Juden, die es nach Babylon verschlagen hatte: „Baut Häuser und wohnt darin; pflanzt Gärten und esst ihre Früchte..... Mehret euch, dass ihr nicht weniger werdet. Suchet der Stadt Bestes...... und betet für sie....“ Danach richteten sie sich auch weitgehend in der Diaspora, innerhalb des Römischen Reichs.
Im westlichen Europa zerfiel das römische Reich etwa im fünften Jahrhundert. Da hatte sich das Christentum schon kräftig entwickelt. 380 war es im ganzen römischen Reich zur Staatsreligion erklärt worden. Da das Christentum aus dem Judentum hervorgegangen ist, bestand von Anfang an eine Konkurrenz zwischen beiden, wie man sogar im Evangelium nachlesen kann. Im fünften Jahrhundert nannte Augustinus die Juden „die Knechte“ der Christen, da jene den Messias nicht erkannt hätten.
Die Konkurrenz wuchs. Im Deutschen Reich wurde sie virulent mit den Kreuzzügen; der erste fand 1099 statt. Da begann die neu entstehende christliche Kaufmannschaft sich mit den Predigern in den Kirchen zu verbünden. Die einen stifteten Heiligenbilder und bunte Fenster für die Kirchen, die andere hielten mehr und mehr antijüdische Predigten. Damit schadete man den Juden als den Konkurrenten der christlichen Kaufmannschaft, außerdem als eigene Konkurrenten. Luther hat mit seiner Hasspredigt von 1543 vielleicht den Vogel abgeschossen. Die Katholiken standen dahinter nicht zurück. Der Kaiser gewährte den Juden rechtlichen Schutz und bekam regelmäßig Geld von ihnen. Allerdings erhoben Städte und Fürsten zusätzliche Steuern und Zölle für Juden. Manche schützten sie vor Überfällen und Beraubung, aber nicht alle und nicht immer. Mit den Jahrhunderten wurden den Juden jedoch fast alle Berufe verboten außer dem Kunst- und Geldhandel. Auch Trödel und Kurzwaren durften sie noch feilhalten. In vielen Städten durften sie überhaupt nicht wohnen (z.B. Hamburg), in andern nur im Getto (Frankfurt). Einmal, im 18. Jahrhundert, als im Frankfurter Getto ein Brand gewütet hatte, wohnten sie mehr als zwei Jahre unter den Christen, bis ihre Häuser in der Judengasse wieder aufgebaut waren. Sie hatten es mit der Rückkehr nicht eilig, doch die Stadtregierung drängte.
Im 19. Jahrhundert änderten sich sehr langsam, aber gründlich die Verhältnisse, verschieden in den deutschen Staaten. Die Bauern begannen, den jüdischen Viehhändlern zu vertrauen. Die Kirche verlor an Macht. Zu jener Zeit entstand auch der Begriff des Antisemitismus, er wurde im Politischen gebraucht. Er stützte sich unausgesprochen auf den Glauben, den die Prediger über die Jahrhunderte hinweg in den Köpfen, und Herzen, eingepflanzt hatten: dass die Juden von Grund aus böse seien, dass sie Macht über die Menschen ausübten, vor der sich der Mensch schützen müsse. Wollte man all diese falschen Glaubenssätze vernünftig hinterfragen, zum Beispiel mit: Wem nützen sie? so würde sich zeigen, dass sie immer und immer wieder zum Vorteil derer ausschlugen, die sie behaupteten. Die Historikerin Shulamit Volkov hat das treffend an einem Beispiel gezeigt. In den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts verloren Handwerker ihre Kunden, weil mehr und mehr Dinge billiger in Fabriken hergestellt werden konnten. Politische Gruppen, die das National-Völkische vertraten, bemühten sich nun um die Stimmen dieser Handwerker, indem sie ihnen versicherten, die „Juden“ seien schuld. Das hatten die Handwerker alle schon mal in der Kirche oder von den Eltern gehört, das war ihnen vertraut – und es wirkte wieder neu. Volkow nennt das einen „kulturellen Code“, eine Regel, die stillschweigend wirkt. Solche stillschweigende Übereinkunft stellte auch, bis heute, die in Berlin tätige Monika Friesel-Schwarz, Professorin für Kognitionswissenschaften und Linguistin, fest. Sie untersuchte, zusammen mit einem Kollegen, das Thema „Antisemitismus und Sprache im 21. Jahrhundert“ (2013). Sehr lesbar!
Zu diesen negativen Seiten der wechselseitigen Interaktion gehörten aber auch positive, wie Freundschaften, Nachbarschaften, geistiger Austausch – ich denke etwa an Lessings „Nathan der Weise“. Jakob Wasserman, in den 1920er Jahren so berühmt, dass seine Romane in allen Bücherschränken standen, war einer von jenen, welche die Sehnsucht nach einer Symbiose zwischen Deutschen und Juden in hoher Vollendung zum Ausdruck gebracht haben. Ja, das gab es damals Es wäre Aufgabe der goy’ischen Historiker zusammen mit den jüdischen Historikern diese gegenseitige Durchdringung des Denkens und Fühlens zu erforschen und zugänglich zu machen, damit ein neuer Frieden gefunden werde. Lehrt die gemeinsame deutsch-jüdische Geschichte!