2009

2009

Erschienen im Gästebuch der SPD-F-Sachsenhausen


12. Februar 2009

Keine Frau auf dem Podium!

Ein kurzer Bericht von Barbara Höhfeld, Mitglied im Ortsverein F-Sachsenhausen

Das Thema lautete „Religion in der Schule – islamischer Religionsunterricht in hessischen Schulen?“ und die Diskussion fand heute abend im großen Saal der Fischerfeldstraße statt. Es kamen die verschiedensten Zuhörer: Junge, Alte, viele Frauen, Muslime, Katholiken und Protestanten, Sozialdemokraten – der Saal war voll und eine Fernsehkamera nahm das ganze auf. Vom Ortsverein Sachsenhausen war ich, glaub ich, die einzige. Eingeladen hatte der Arbeitskreis Migration der SPD.

Die neue hessische Schulministerin hatte sofort nach ihrem Amtsantritt zu einem „Runden Tisch“ über das Thema islamischer Religionsunterricht in staatlichen Schulen eingeladen. Es gibt ihn schon in Niedersachsen, aber in Hessen gab es ihn bislang nicht. Von solcher Aktualität befruchtet, entwickelte sich eine erregte und doch souverän ruhig gehaltene Diskussion. Teil nahmen daran sechs Männer, sowie ein FAZ-Redakteur als Moderator (brillant!). Keine einzige Frau. Dieses Manko wurde nur vom FAZ-Redakteur bedauert – man habe ihm gegenüber Beschwerden geäußert – doch weder die Veranstalter, noch die Diskussionsteilnehmer fanden diesen Umstand erwähnenswert. Das Frauenthema spielte in der Diskussion keine Rolle. Es ging um das Grundgesetz, zu dem sich einhellig alle bekannten, und nur der Vertreter der Humanistischen Union fand, dass § 7‚ Abs. 4 des Grundgesetzes seit 1949 überflüssig geworden sei. (Es geht darin um gewisse Rechte der Religionsgemeinschaften.) Andere meinten, durch die staatliche Aufsicht über den schulischen Religionsunterricht könnte „maligne Formen“ von Religion vermieden werden. Der Vertreter der katholischen Kirche behauptete hingegen, dass durch die Erwähnung von „Gott“ in der Präambel des Grundgesetzes eine Instanz „oberhalb der Verfassung“ eingerichtet sei, was er als eine „Entmächtigung“ bezeichnete. Er stellte fest, und keiner  widersprach, dass Christen auch nach dem Austritt aus der Kirche noch „Christen“ seien, und dass es daher eine christliche Mehrheit in Deutschland gebe und man von einem christlichen Land sprechen könne. Der islamische Vertreter fand denn auch, dass „alle hier in einem Boot“ säßen, außer dem Atheisten von der humanistischen Union natürlich, aber er war ja nur einer von sechsen.

Viele deutsche Behörden hatten in der Vergangenheit argumentiert, dass es keinen geregelten islamischen Relgionsunterricht geben kann, weil kein Ansprechpartner da ist, der die Verantwortung dafür übernimmt. Herr Kaymakci als Vertreter der „Islamischen Religionsgemeinschaft Hessen“ hielt sich für den geeigneten Ansprechpartner. Turuk Yüksel wies darauf hin, dass Kinder muslimischer Eltern im Islam als „geborene Muslime“ gelten, d.h. sie haben niemals die freie Wahl. Die „islamische Religionsgemeinschaft“ bestehe aus so vielen verschiedenen Gruppen, dass ja gar nicht klar sei, was sie überhaupt lehren wolle? Ob man dort auch die Hamas kritisieren dürfe? Diese Bemerkung wurde als ungehörig getadelt.
In Rheinland-Pfalz, genauer in Ludwigshafen, ist schon Religionsunterricht für Muslime eingeführt worden, in Absprache mit örtlichen Vereinen. Jemand aus dem Publikum gab zu bedenken, dass solch ein Vorgehen dazu führen könnte, dass künftig jedes Grüppchen von beliebigen Religionsgruppierungen nur einen Verein zu gründen brauche, um einen eigenen Religionsunterricht an staatlichen Schulen zu verlangen. Dagegen wurde die „Bringschuld“ des Landes Hessen angeführt, die Muslimen die gleiche Chance einräumen müsse wie anderen Religionen. Aus dem Publikum wurde immer wieder die Verknüpfung mit dem Thema „Integration“ gefordert, während die Theologen vom Podium meinten, man müsse Religion und Integration besser auseinanderhalten.

Abschließend sprach der Moderator versöhnlich von praktischen und grundsätzlichen Fragen, die heute abend erörtert worden seien und die am Runden Tisch der Ministerin weiter verhandelt werden könnten. Die Diskussion war zuende. Ein junger blonder Mann näherte sich vorsichtig einer Gruppe von drei jungen Mädchen mit Kopftüchern, er wolle eine Frage stellen. Ja, gern. Wie das denn sei mit den Bezuiehungen zwischen Männern und Frauen im Islam? „Das steht im Koran!“ beschied ihn eine der jungen Damen.






BARBARA HÖHFELD, ZIEGELHÜTTENWEG 1, 60598 FRANKFURT AM MAIN
BHoehfeld@aol.com                                                             www.barbara-hoehfeld.de



13. Februar 2009


Religionsunterricht? Aber welcher?

Ein kurzer Bericht von Barbara Höhfeld, Mitglied im Ortsverein F-Sachsenhausen und im AK Migration & Integration


Zwei Katholiken, ein Protestant, ein Muslim, ein Menschenrechtler und ein Atheist trafen sich gestern abend auf Einladung des SPD-Arbeitskreises „Migration & Integration“ in Frankfurt in der Fischerfeldstraße, um  über die Frage zu diskutieren, ob es islamischen Religionsunterricht in staatlichen hessischen Schulen geben solle. Die neue  hessische Kultusministerin hat eine gewisse Offenheit für diese Frage signalisiert.

Grundsätzlich fanden alle, dass es eine Sache der Gerechtigkeit wäre, da ja fast alle andern Religionsgemeinschaften das Recht hätten, „bekennenden“ Religionsunterricht (im Gegensatz  zum neutralen Religionskunde- und Ethik-Unterricht) in öffentlichen Schulen abzuhalten. Der Vertreter der Humanistischen Union (und später auch ein SPD-Mitglied aus dem Publikum) wollten den entsprechenden Artikel 7 des Grundgesetzes als nicht mehr zeitgemäß am liebsten abschaffen, aber sie waren hoffnungslos in der Minderheit. Der katholische Theologe beschwerte sich später sogar, die „Atheisten“ hätten die eigentliche Diskussion überlagert! (Tatsächlich hatten diejenigen, die Staat und Religion wirklich trennen wollen, die geringste Redezeit, jedoch den meisten Beifall.)

Die eigentliche Opposition zu der religiösen Mehrheit am Podium kam jedoch von „Sekularen Muslimen“ im Publikum, die zwar als Muslime geboren wurden (im Islam gilt das Kind muslimischer Eltern von Geburt an als „muslimisch“, es gibt keine Taufe), aber als Erwachsene selbst über ihre Zugehörigkeit und über ihr Leben entscheiden wollen.  Heiner Bielefeldt vom „Institut für Menschenrechte“ riet ihnen, sich zu organisieren und als eigener Verein Mitspracherecht zu fordern. Denn die Muslime in Deutschland müssen sich selbst organisieren, damit der Staat mit ihnen in Beziehung treten kann.

Eine solche Selbstorganisation ist der Verein „Islamische Religionsgemeinschaft Hessen“,  die auf dem Podium von Herr Kaymakci in makellosem Deutsch vertreten wurde. Sie bietet einen grundgesetzgemäßen, deutschsprachigen, von den Landesbehörden überwachten Religionsunterricht an.  Bisher ist noch nicht gewiß, ob diese Gemeinschaft für den evt. geplanten Runden Tisch zugelassen wird. Sie vertritt nämlich so verschiedene Gruppierungen wie Sunniten, Schiiten, Wahabiten und Aleviten. Niemand kann sich bei dieser Vielfalt einen einheitlichen Religionsunterricht vorstellen. Turuk Yüksel fragte: „Darf man in einem solchen Unterricht nicht nur Israel, sondern auch die Hamas kritisieren?“ Und er fragte: „Halten Sie eine Reform des Islam für möglich?“ Keine Antworten erhielt er auf diese Fragen, denn sie wurden als nicht zum Thema gehörig ignoriert. Alle wußten, dass eine Diskussion darüber den heftigsten Streit ausgelöst hätte.

Herr Kaymakci sagte auch, und meinte damit alle Theologen am Tisch: „Wir sitzen in einem Boot!“ Da widersprach ihm keiner. Besonders der katholische Theologe spielte ähnlich wie Kaymakci mit den Worten, wenn er z.B. behauptete: Religion könne man nur in Bekennendem Unterricht kennenlernen (nicht in „Religionskunde“), so wie man Tanzen auch nur durch Tanzen lernen könne. Welch ein Vergleich! Wird denn jemand, zumal Kinder, die Beziehung zur “bekennnenden Religion” nach dem Unterricht ebenso leicht beenden wie er einen Tanz beendet?

Auf dem Podium sass keine einzige Frau. Nur der Moderator erwähnte kurz, es habe wegen dieses Mankos Beschwerden gegeben. Das Thema der Frauenrechte wurde nicht berührt. Erst nach Ende der Diskussion sah ich einen jungen blonden Mann sich drei jungen Kopftuchfrauen nähern mit der schüchternen Frage, wie es denn mit der Beziehung zwischen Mann und Frau im Islam stünde? „Das steht im Koran!“ antwortete eine von ihnen selbstbewußt.

Da haben wir den Salat.













Drei Artikel, nicht nur über das Gastland China



Erschienen im Juli 2009 in « kulturissimo », der Kulturbeilage der luxemburgischen Tageszeitung « tageblatt » -

                       
China von seiner besten Seite

Barbara Höhfeld

Seit der Olympiade glaubt man, über China ein wenig bescheid zu wissen: über seine kühnen Neubauten, über den Glamour in den Städten, die Armut auf dem Lande und die strenge Zentralstaatlichkeit, die den Menschenrechten keine Priorität einräumen will.
Dieses Jahr wird die westliche Welt Gelegenheit haben, auch über das intellektuelle Leben und die Literatur in China etwas zu erfahren: auf der Frankfurter Buchmesse ( 14.-18. Oktober 2009) ist China zu Gast. Bei einer ersten Pressekonferenz im Frankfurter Literaturhaus stellten drei Personen den Stand der Planungen vor, und die drei Personen waren der Generaldirektor für Außenhandel und Direktor des Gastland-Planungskomitees ZHANG Fuhai,  die Schriftstellerin CHI Zijian und der Designer LI Jiwei. Sie erläuterten die Konzepte, nach denen das „Forum“ auf der Messe selbst, aber auch die Auftritte außerhalb der Messe geplant werden.
Die Fülle von Auftritten kann den Zuschauer schon jetzt schwindelig werden lassen. Im Musikalischen z.B werden  von der Peking Oper bis zur Uraufführung der „Büchersymphonie“ in der Alten Oper die verschiedensten Aspekte gezeigt. Die Symphonie soll unter Teilnahme aller derzeit in China berühmten Künstler eine Verschmelzung von moderner und traditioneller Musik erreichen, sie wird den Höhepunkt bilden, die Vorstellung dürfte jetzt schon ausverkauft sein. Im Architekturmuseum wird es eine Ausstellung von acht Architekten geben, in der Zentralbibibliothek eine Foto-Ausstellung über „China im letzten Jahrhundert“. Literarische Veranstaltungen beginnen ab Juni, so etwa in dem neu gegründeten „Konfuzius-Institut“, dem offiziellen chinesischen Kulturhaus in Frankfurt, und ein umfangreiches Filmprogramm wird vorbereitet.
LI Jewei sprach über seine Ideen für die Gestaltung des „Forums“, dem Herzstück des Gastland-Auftritts. Auf der Grundlage des  Mottos „Die chinesische Kultur als künstlerischer Raum“ teilt eine Papierrolle den Raum, der mit Schriftzeichen, mit Bücherwänden und einer durch ständige Tropfen genährten Wasserfläche ausgestattet ist, auf die noch mal Schriftzeichen elektronisch projiziert werden: “der lange Fluss des Lesens“. Der westliche Besucher soll eine Ahnung von den unausgesprochenen Assoziationen erhalten, „wo das Reale gleichzeitig auch immer auf das Irreale verweist, wo Ruhe in der Bewegung und Bewegung in der Ruhe herrscht und ein einziger Pinselstrich auf zehntausend Dinge unter dem Himmel verweist“.
CHI Zijian sprach über das „Fenster zur Welt“, durch das jeder Schriftsteller blickt und wo jeder und jede einzelne etwas anderes sieht. Nicht wegen der erblickten Szenerie, sondern durch die Tiefe, mit der ein Autor wahrnehme, entstehe Literatur. Aus Anlass der Buchmesse werden weit über hundert chinesische Autoren und Autorinnen nach Europa kommen. Deutsche Verlag kündigen jetzt (Juni) 61 Neuerscheinungen von chinesischer Literatur auf Deutsch für den Herbst an.
Ein Journalist fragte vorsichtig, ob mit „Auseinanderetzungen“ während der Buchmesse gerechnet werde. „Sebstverständlich!“ rief der Direktor der Buchmesse, Jürgen Boos, sofort, „dafür ist eine Buchmesse doch da.“ Er verwies aber auch auf ein noch vor Beginn der Messe angesetztes Symposium der Buchmesse  über China hin (vom 11.-12. September). Herr Zhan Fui antwortete auf die Journalistenfrage, ob auch Chinesen aus anderen Ländern auftreten würden: Wenn jemand Überseechinesen einladen wolle, so habe er nichts dagegen. China gehe davon aus, dass „chinesische Literatur“ die Literatur seines Landes sei.
Insgesamt äußerten die Journalisten sich sehr vorsichtig. Jemand fragte, ob nur „Mandarin“, also die offizielle chinesische Sprache zugelassen werden - in der Stimme des Journalisten klang ein leichter Vorwurf. Herr Zhang Fuai entgegnete souverän: in China werden offiziell 56 Sprachen gesprochen, und viele dieser Sprachen (auch tibetisch) werden auf der Messe vorkommen. Zu der schon genannten Frage nach den Menschenrechten ergänzte Herr Zhan Fuai: es gebe eben kulturelle Unterschiede zwischen China und anderen Ländern. So schlafe er in Deutschland immer schlecht, weil die Kopfkissen zu weich seien. Ein Chinese brauche ein hartes Kopfkissen!
Mit anderen Worten: obwohl das Politische auf der Pressekonferenz kaum angesprochen wurde, schien es doch ständig gegenwärtig. Nur scheinen die Journalisten nicht ernsthaft darauf vorbereitet zu sein, sich mit den Chinesen auf Augenhöhe zu verständigen. (Ich auch nicht.) So hörten wir zwar, dass seit neuestem in China private Verlage zugelassen werden, doch niemand fragte nach. Wir erfuhren ferner, dass es im Rahmen der Buchmesse auch ökonomisch orientierte Veranstaltungen geben werde, so eine Fachtagung „International Economist Forum“, wo „sechs chinesische und ausländische Ökonomen, darunter auch Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, Chinas wirtschaftliches Wachstum und dessen Interaktion mit der Weltwirtschaft erörtern“. Auch das Thema kam bei den Fragen nicht vor.
In den nächsten Monaten wird jeder, der sich dafür  interessiert, viel über China erfahren können: über das Kulturerbe Chinas und über seine Gegenwart. Die Vorbereitungen von seiten der Regierung, so versicherte Herr Zhan Fuai, seien auf höchster Ebene koordiniert; der Regierung liegt offensichtlich viel daran, sich in Frankfurt der Welt von der besten Seite zu präsentieren. Es stellt sich die Frage: was ist es, das China unter seiner besten Seite versteht? Ich bin sicher, es wird viel zu staunen geben, und das kann man schon jetzt unter www.fbf2009china.com verfolgen.

 
 
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Erschienen am 9. Oktober 2009 in „kulturissimo“, der Kulturbeilage zum „tageblatt“ aus Luxemburg


(FOTO: Ankunft von Bei Ling und Dai Qing, zwei chinesischen Dissidenten, die gegen den Willen der chinesischen Regierung zum Symposium „China und die Welt – Wahrnehmung und Wirklichkeit“ nach Frankfurt eingeladen worden waren und dort auch öffentlich sprechen konnten. )
                        

Auseinandersetzungen


von Barbara Höhfeld
Nächsten Dienstag beginnt die 61. Frankfurter Buchmesse, mit leicht rückläufigen Zahlen. Innovationen sollen die Krise wettmachen: eine neuartige Verknüpfung aller Medien gehört dazu, darunter am 13.10. im Radisson-Hotel eine Präsentation von TOC (Tools for Change in Publishing), in Zusammenarbeit mit O’Reilly Media, New York (O’Reilly hat mit „Web 2.0“ zu tun). In der www.gourmet-gallery.de soll es gutes Essen geben (ganz neu!), und vor allem kommt China mit 272 Ständen und unzähligen Veranstaltungen.
Chinas Besuch hat im Vorfeld von sich reden gemacht, es ging um Redefreiheit. Die Vertreter Chinas wollten den Auftritt von zwei Landsleuten verhindern und drohten, von dem am 12./13. September geplanten Symposium  fernzubleiben, wenn sie kämen.
Bei Ling war im Jahr 2000 des Landes verwiesen, in die USA abgeschoben worden, weil er (seit 1993) eine unabhängige Zeitschrift über chinesische Exil-Literatur herausgab, auch in China. 2001 gründete er in den USA das „Independent Chinese PEN-Center (ICPC)“. Dai Qing lebt in Peking, ist Umweltaktivistin und hat Veröffentlichungsverbot.
Rückblickend geschaut, erweist sich der „Eclat“ als ein Modell-Fall von ziviler Konfliktbewältigung. Wir, das Publikum, erlebten mit, wie sich die zwei Parteien ihre gegensätzlichen Standpunkte öffentlich an den Kopf warfen und anschließend das Gespräch wie geplant fortsetzten! Auf der Buchmesse müsse es Auseinandersetzungen geben, dafür sei die Buchmesse da, betonte Direktor Jürgen Boos.
Wieso bekämpfen diese klugen und selbstbewußten Chinesen die Pressefreiheit? dachte ich. Nun, offenbar setzt die Regierung in China andere Prioritäten als wir in Europa. „Menschenrechte,“ rief Zhang Yunling, „Sie reden immer von Menschenrechten, die haben wir auch! Doch mir ist wichtiger, die Korruption abzuschaffen! Dann geht es allen Menschen besser.“ Das Wohl der Gemeinschaft stehe im Vordergrund. Solange es noch Hunger in China gebe, hieß es, solange müssten alle Kräfte eingesetzt werden, um die Wirtschaftslage zu verbessern. Lernen und das Verarbeiten von Modernität auf eigene Weise werden angestrebt. Immer wieder pochten chinesische Vertreter darauf, dass sie an Frieden interessiert sind und in internationalen Kooperationen auch für seine Aufrechterhaltung sorgen, dass sie das Wachstum an Macht nicht mit einem Wachstum von Herrschaft verwechseln. Jede Nation suche eben ihren eigenen Weg. Kontrolle, offizielle Kontrolle, gilt dabei offenbar als unerläßlich. Mei Zhaorong, ein ehemaliger Botschafter, sagte in einem Nebensatz: „Bekanntlich ist unkontrollierte Macht gefährlich.“
Gewiss ist es nicht leicht, also in Wirklichkeit unmöglich, 1,3 Milliarden Menschen zentral zu kontrollieren. Wir hörten von Gegenden und Situationen, wo die Leute ihr Leben nach eigenem Kopf organisieren. Die eigentliche Modernisierung begann mit Deng Xiaoping vor etwa dreißig Jahren. Zu seiner Zeit entstanden die ersten „Sonderwirtschaftszonen“. Hier bekamen Händler und Produzenten zusätzliche Freiheit, hier durften Ausländer investieren. Dann wurde die Landwirtschaft der privaten Initiative geöffnet. Heute präsentieren sich die großen Städte in glänzendster Modernität, die Landbevölkerung strömt in die Stadt. „Wenn man einen Monat nicht in Peking war, findet man seinen Heimweg nicht mehr“, sagte einer, um zu illustrieren, wie rasch sich alles verändert. China ist sich seiner Umweltprobleme bewußt, und die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich wird nicht als Ziel betrachtet.
Auf der Buchmesse, im „Internationalen Zentrum“ zumal, werden Besucher Gelegenheit haben, selbst und live die Auseinandersetzungen zwischen außen und innen, zwischen Wirtschaft und Kultur, zwischen kontrolliert und kreativ mitzuerleben. Die Romane von Mo Yan, von denen es auf deutsch mindestens fünf zu kaufen gibt, erzählen in eleganter und spannender Form, was in China in den letzten 100 Jahren passierte. Diese Buchmesse bietet  uns eine nie dagewesene Chance, China kennenzulernen.
Mo Yan erzählte aus seinem Alltag. Er sei ein Macho, scherzte er, und so habe er, wie es ihm seine Frau aufgetragen habe, in Deutschland einen Dampftopf gekauft. Nachdem ihm die deutsche Presse einen „schwarzen Topf“ gegeben habe, besitze er nun sozusagen einen weißen und einen schwarzen Topf. Die chinesische Redensart „jemandem einen schwarzen Topf geben“ bedeutet: einen Unschuldigen beschmutzen. Er spielte damit auf eine Behauptung der deutschen Presse an, wonach er sich nicht im selben Raum mit einem der Dissidenten hätte aufhalten wollen. Es habe ihn aber überhaupt keiner danach gefragt! (Tatsächlich sah ich ihn in einer Pause im Gespräch mit Bei Ling.) Nun habe er per SMS seine Frau von dem Erwerb des Kochtopfes  informiert, und diese habe zurückgeschrieben: „Kauf noch einen zweiten!“ Das aber sei ihm zu viel, so habe er zu der Notlüge gegriffen, der deutsche Zoll würde das nicht erlauben. Das Publikum lachte.
Der deutsche Schriftsteller und Sinologe Tilmann Spengler, der nach Mo Yan sprach, bot ihm an, er könne noch einen Dampftopf mitnehmen, wenn er in wenigen Stunden nach Peking fliege. Das Lachen der Zuhörer beflügelte ihn, er wiederholte sein Angebot mehrmals.
Hatte Spengler zugehört? War es in Yo Mans Anekdote nicht vielmehr darum gegangen, seine Ansichten zu den Beziehungen zwischen Mann und Frau, zwischen Menschen und Ländern plausibel zu machen? Ein Kotau vor Deutschlands Dampftöpfen gegen den Tadel an leichtfertigem Journalismus? Nicht zufällig kam das Wort „Missverständnisse“ in den zwei Tagen des Symposiums am häufigsten vor.  
Am 18. Oktober wird der „Friedenspreis des deutschen Buchhandels“ an Claudio Magris verliehen. Damit wird endlich wieder ein Bildungsbürger alter Schule ausgezeichnet, ein Europäer, der Wissen und Gewissen in Einklang zu bringen versucht. Und das in Italien, im Berlusconi-Land!


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Erschienen am 9. November 2009 in "kulturissimo", der monatlichen Kulturbeilage des "tageblatt" (Luxemburg)

DREI BÜCHER
Bericht von der Frankfurter Buchmesse
Barbara Höhfeld

Wer auf die Frankfurter Buchmesse geht, sollte sich einen guten Rat stets vergegenwärtigen: nicht lesen! Sobald man sich auf einzelne Bücher einlässt, wird man verrückt. Es gibt einfach zu viele davon.
Ich habe dieses Jahr die Regel durchbrochen und doch gelesen. Nicht auf der Messe selbst, nein, dort sind lebende Menschen noch immer das Spannendste, das einem begegnen kann, aber morgens beim Frühstück oder abends vor dem Schlafengehen las ich, und lese immer noch, in drei Büchern abwechselnd. Das erste ist ein Roman von Mo Yan mit dem Titel „Die Schnapsstadt“ (Unionsverlag). Das zweite ist „Die Donau“ von Claudio Magris (DTV) und das dritte ein Buch aus Luxemburg, es heißt „Im Schatten eines Landes“ (von Bob Schommer, Verlag Simbapro). Durch die Brille dieser drei Bücher möchte ich von der Buchmesse 2009 erzählen.
Von Mo Yan berichtete ich hier schon im Oktober („Auseinandersetzungen“). Mehr als einmal hörte ich während der Buchmesse sagen, dieser chinesische Romancier verdiene den Nobelpreis für Literatur. Wo immer er auftrat, drängelten sich die Zuhörer,  der Applaus wollte nicht enden. Im Gespräch mit ihm ergab sich, trotz Dolmetscher, eine unmittelbare Verständigung, er wußte immer genau und anschaulich zu antworten
Der Triester Schriftsteller Claudio Magris erhielt am 18. Oktober den „Friedenspreis des Deutschen Buchhandels“. Zum 60. Mal wurde der renommierte Preis vergeben, der Sprache, Kunst und Wissen mit dem Frieden zusammenschließt. Magris will „das Individuelle mit der Gemeinschaft verknüpfen,“ Lebensqualität bedürfe es nicht nur für die eigene Person, sondern auch für den Anderen, forderte er und nannte es das „liberale Gefühl der Gemeinsamkeit.“
Am Luxemburger Stand traten Autoren auf, die für den „Letzerbuerger Buchpräis 2009“ in der Rubrik Literatur nominiert sind. Aus dieser Liste sollten die Kunden der Luxemburger Buchhandlungen ihren Liebling auswählen: außer Literatur standen Autoren in den Kategorien Kinder- und Jugendbuch, Bild- und Kunstbuch sowie Sachbuch zur Auswahl.  Die Liste lag bis zum 31. Oktober in allen Buchhandlungen des Landes aus, und das Ergebnis der Umfrage wird am 19. November zum Auftakt der „15. Walfer Bicherdeeg“ verkündet. In Frankfurt aber gaben die Verleger die Liste der Nominierten zum erstenmal bekannt, einige AutorInnen lasen Auszüge oder ließen lesen. Dabei lernte ich Bob Schommer und sein Buch mit den Erinnerungen an seine Kindheit in Belgisch-Kongo kennen.
Ein Hauptthema der Buchmesse war China: die Volksrepublik vor allem, aber auch Taiwan, Hongkong, die Exilchinesen, die Minderheiten. Anders als letztes Jahr die Türkei, die sich nicht die Sprachkenntnisse der Deutschtürken zunutze machte, traten auf den chinesischen Veranstaltungen sehr viele ModeratorInnen mit ausgezeichnetem Deutsch auf. Auch die Schriften über China waren überwiegend in Deutsch und Chinesisch abgefaßt, ohne den Umweg über das Englische. Das politische Ideal, dass nämlich die Festlandchinesen, d.h. die Offiziellen, mit den Exilchinesen, d.h. oft politisch Verfolgten, ins Gespräch kommen würden, erreichte man nicht – und dennoch geschah so viel: es spielte sich in den Köpfen ab und wird seine Wirkung erst in der Zukunft entfalten.
Ein anderes Hauptthema war das „geistige Eigentum“, genauer gesagt, seine Vergütung. Die „Content-Industrie“, d.h. der Buchmarkt, die Presse, das Internet hängen alle von der Kreativität der Individuen ab, doch niemand will ein solches Individuum gern bezahlen. Heutzutage wünscht sich der populistische Zeitgeist, dass im Internet alles umsonst zu haben sei – Leute wie die sogenannte Piratenpartei wähnen sich auf der Höhe des Fortschritts mit dieser Forderung. Zur Zeit starrt alles, ob Verleger oder Bundeskanzlerin, in die USA auf den Aussgang des „Google-Settlements“.
Wenn, wie letztes Jahr, die Kommissarin Viviane Reding am Luxemburger Stand aufgetreten wäre, hätte ich sie gern gefragt, warum sie in Brüssel nicht das europäische Urheberrecht verteidigt.  Aber sie kam nicht. Auch die Kulturministerin erschien dieses Jahr nicht, nur die Botschafterin aus Berlin. Sie versprach immerhin, künftig für die Luxemburger Autoren öffentliche Lesungen organisieren zu wollen. Der Luxemburger Stand bot bereits solche Lesungen: am Messe-Donnerstag, in (Lautsprecher-)Konkurrenz zu den benachbarten Österreichern. Sitze waren nicht vorgesehen. Es sammelten sich dennoch ein gutes Dutzend Zuhörer, bei der Sängerin Karin Melchert sogar mehr. Sie beschreibt in ihrem ersten Buch „Solo“, wie eine Frau ihr Schicksal selbst in die Hand nimmt. Jean-Paul Jacobs las Gedichte aus „Glanz und Elend der Poesie“, Marco Schank ließ seinen Verleger Gollo Steffen aus Schanks erstem Krimi „Todeswasser“ vorlesen. Bob Schommers Lesung aus „Im Schatten eines Landes“ handelte von Jägern und der besonderen Beziehung eines Kindes zu Tieren.
Ich unterhielt mich nachher mit Bob Schommer, er führt einen Reitstall in Luxemburg und stellte sich als „Weltmeister in amerikanischer Dressur“ vor.  1948 geboren, verlebte er seine Kindheit in der belgischen Kolonie Kongo zu einer Zeit, als Kinshasa noch „Léopoldville“ hieß. Im Buch schildert er des Kindes gleichberechtigten Umgang mit Schwarzen; er versucht, die nach der Unabhängigkeit von 1960 ausgebrochenen Aufstände und Massaker zu beschreiben, deren Zeuge er mit dreizehn wurde und die ihn traumatisiert haben. Im Grunde handelt das ganze Buch davon, wie es ihm persönlich gelungen ist, diese Traumatisierung zu überwinden. Die Lektüre hat mich tief beeindruckt, auch wenn ich das Buch eher autobiografisch als „literarisch“ einordne. Der Autor knüpft darin seinen Antikolonialismus an die traditionelle Redlichkeit der afrikanischen Stammesführer, die er zu seiner eigenen gemacht hat. Aus dieser redlichen Grundhaltung heraus gelingen ihm im „Europa“-Teil seines Buches auch gesellschaftskritische Anmerkungen, die jeder Luxemburger sogleich verstehen wird.
Die Verlagslandschaft Luxemburgs hat sich wieder verändert: neu erschien (mir) neben Simbapro auch der Verlag Synaisthesis.  Ferner zeigte Edition Schortgcn seine Bücher einerseits am Stand der „Letzebuerger Bicherediteuren“ („Kachen“ heißt einer seiner Bestseller), war andererseits zusätzlich auf einem anderen Stand mit seinen Kunstbüchern vertreten („Höhlen“). Kunstbücher fand ich ferner wieder bei Francis van Maele („Antic-Ham“, bunt wie immer) und bei den beiden Künstlern Willems (Buchbinderei, Buch-Restaurierung) und Delvaux (selbstgefertigte Originale).
Mit Kunst warteten selbstverständlich auch die Chinesen auf: mit handwerklichen Meisterwerken im Schnitzen, Sticken, Färben; Schattenfiguren entstanden vor den Augen der Besucher. Zweimal pro Tag traten auf einer Freilichtbühne Darsteller der Pekingoper auf: geschminkt, kostümiert, bei Tageslicht und ganz aus der Nähe übten sie noch immer eine mächtige Faszination aus.  Neben der Bühne saßen sechs Herren mittleren Alters mit hochgezogenem Mantelkragen – es war kalt, es nieselte – und schlugen ihre Perkussionsinstrumente mit unerschütterlicher Genauigkeit, während die Darsteller dazu tanzten und sangen. Das Publikum stand 40 Minuten lang davor und war gefesselt. Als die Spieler zuletzt ihre Masken abnahmen und sich verbeugten, schauten uns junge, modern frisierte lächelnde Gesichter an.
Vielleicht wurde auch irgendwo die chinesische Kunst des Kochens vorgeführt, ich hab’s wahrscheinlich verpasst. In dem Roman „Schnapsstadt“ kann ich das nachholen. Essen und Trinken spielen in China die alles verbindende Rolle, das habe ich gelernt. („Wenn ich mit meiner Mutter telefoniere,“ erzählte eine hochgebildetet Chinesin aus Deutschland, „sprechen wir oft zwei Stunden lang nur über Kochrezepte!“) Im Roman „Schnapsstadt“ führt Yo Man seine Leser in eine (natürlich fiktive) „Brauereihochschule“, wo in einer „Akademie der Kochkunst“ die ausgeklügelsten Rezepte gelehrt werden, sogar die Zubereitung von Menschenfleisch als Krone aller Leckereien. „Es sind nur Tiere, die Menschen ähnlich sehen“, wird den Studenten eingehämmert. Bei der Lektüre erinnerte ich mich an den schweren Seufzer des offiziellen Vertreters vom Symposium im September: „Könnten wir nur die Korruption abschaffen!“ Der Roman „Schnapsstadt“ handelt von dem Verhältnis des Volks zu den Funktionären und umgekehrt. Während sich der Autor im Roman „Das rote Kornfeld“ mit der Geschichte einer traditionellen Familie in der Zeit etwa zwischen 1938 und 1946 beschäftigt, beschreibt er in seinem dieses Jahr auf Deutsch erschienenen Roman „Der Überdruss“ die Geschichte Chinas in den letzten 50 Jahren, und das aus der Perspektive von Tieren – denn die Hauptperson wird als Esel, Stier, Schwein, Hund und Affe wiedergeboren und betrachtet daher die Vorkommnisse aus deren Augen.
Korruption tritt überall und in unerwarteten Formen auf. Der italienische Friedenspreisträger warnte vor dem Gift des Populismus, der das Demokratische innerhalb der Demokratien sich selbst auflösen lässt. Er nannte den Populismus „eine schwammige [...] Erscheinung, welche [ ...] jedes Gefühl für Recht und Unrecht, jeden Bezug zwischen dem Wohl des Einzelnen und dem Gemeinwohl aufgibt.“ Er zielte damit nicht nur auf das Italien von Berlusconi, sondern z.B. auch auf den französischen Präsidenten Sarkozy, der seine Hochzeit „wie eine Wahlkampagne“ organisiert habe. Gleichzeitig sagte er aber auch, er träume von einem europäischen  Staat, in dem es keine nationalen Probleme mehr gebe und jeder die Chance bekomme,  universell zu denken. Die Angst vor der Nivellierung bringe die Gefahr der Abkapselung mit sich. Diese und viele andere Gedanken hatten ihn bei seinem Donau-Buch geleitet: darin wird die Donau zu einem Lebewesen eigener Art. Vier Jahre vergingen, viele Reisen unternahm der Autor, das Buch erschien 1986, und es ging Magris damals auch darum, das Europa hinter dem Eisernen Vorhang kennenzulernen. Ich lese es heute wie einen Fortsetzungsroman! Die Donau ist für Magris das grenzüberschreitende Symbol der Gefühle und Ideen in Europa. Magris ist mündlich wie schriftlich ein unerschöpflicher Erzähler. Seine Abschlussarbeit beim Germanistikstudium schrieb er über „Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur“, er schrieb später über Triest und über das dortige Café San Marco, über „Utopie und Entzauberung. Geschichten, Hoffnung und Illusionen der Moderne“ und vieles andere.
Zur Verleihung des Friedenspreises in der Paulskirche war diesmal keine bedeutende Prominenz angereist: ein ehemaliger Bundespräsident, ein scheidender Bundesminister, ein amtierender Landesminister, eine Kommissarin aus Brüssel waren die „höchsten Tiere“ im Saal. Wohl waren alle Plätze besetzt – außer auf den Pressebänken. Dort blieb fast die Hälfte der Sitze leer.
Auch Proteste blieben aus. Ein Zeitungsverkäufer auf der Buchmesse wollte mich nachdrücklich zum Stand der Tibeter, zu Amnesty International in Halle 3 schicken. Ich bin nicht hingegangen, ich war erschöpft und erwartete nicht, dort etwas Neues zu erfahren. Es ist unmöglich, sich um alles zu kümmern.
Aber am Abend des letzten Tages organisierte ich in einem Städtchen in der Umgebung von Frankfurt einen chinesischen Abend mit der chinesischen Unternehmensberaterin Zeng Min aus Mainz, die uns das ferne China nahebringen wollte. Das gelang ihr in anderthalb Stunden, und ihr Erfolg rührte auch daher, dass sie ihr Publikum auf eine geistvolle Weise oft zum Lachen brachte. Ich fragte sie, was es mit diesem Humor auf sich habe. Bei Yo Man hatte ich ihn auch bemerkt. „Das ist nur eine Form des Umgangs miteinander,“ erklärte sie lächelnd; „Humor hat nichts mit Politik zu tun – und nichts mit dem Wetter.“
„Eine Frage des Umgangs miteinander“ – darin entdecke ich nachträglich das heimliche Motto der diesjährigen Buchmesse in Frankfurt.


Ach ja, Deutsch in der EU ...l

Erschienen im "Kurier Nr. 1" des Vereins der ehemaligen EU-Beamten in Deutschland im Sommer 2009:

 

Eine Zeitlang war ich Personalvertreterin, Mitglied des Personalrats der Kommission in Luxemburg. 1974 wurde ich sogar für fast ein Jahr zur Vollzeitarbeit dorthin abgeordnet (ich war Übersetzerin).
Es saßen kaum Deutsche in der Personalvertretung, und dafür gab es Gründe: Verkehrssprache war Französisch, und die wenigsten Deutschen sprachen und verstanden das Französische gut genug, um sich an Debatten zu beteiligen und dabei womöglich ihren Standpunkt durchzusetzen. Ein unüberhörbarer deutscher Accent  machte sie lächerlich, auch wenn die Franzosen ihren Spott gewöhnlich nicht offen zeigten.
Ein anderer Grund lag darin, dass viele deutsche Kollegen aus dem Beamtenstand zur EG herübergewechselt waren und „Beamte“ blieben. Franzosen und Italiener brachten einen politischen Geist mit, der sich zum Beispiel auch in einem Streik äußern konnte. Deutsche Beamte hingegen streikten nicht und blieben unpolitisch, das war ihnen selbstverständlich. So nannten sie das Organ der Personalvertretung auch nicht „Personalrat“, wie im deutschen Beamtenrecht, sondern „Personalausschuss“. Wir waren ja keine „Beamten“ nach deutschem Recht, wir waren, wie es im Statut hieß, „beamtete Bedienstete“.  Ich habe mal versucht, das Wort „Personalrat“ einzuführen, doch ist mir das auf die Dauer nicht gelungen. Natürlich kam es keinem in den Sinn, „Betriebsrat“ zu sagen – dann wäre man ja unter seinen Stand gegangen! In Brüssel wurde übrigens eine Interessenvertretung gegründet, die sich eher als Standesvertretung begriff denn als Gewerkschaft und der überwiegend Deutsche angehörten. In Luxemburg beteiligten sich die wenigen an Personalvertretung interessierten Deutschen denn doch lieber an den wirklichen Gewerkschaften, jenen, die mit den internationalen Gewerkschaften liiert waren und die Standesunterschiede nicht kannten.
1974 richtete der Präsident des Personalrats, ein  Franzose, eine Telefonlinie mit Personalvertretungs-Nachrichten ein, die jede Woche neu aufgesprochen wurden – auf Französisch. Ich beklagte, dass dies nicht auch auf Deutsch geschah. Ich klagte so lange, bis man mir sagte: dann machs doch. Also schrieb und sprach ich jede Woche die neuesten Nachrichten aus der Personalvertretung auf Band.
Ein Echo habe ich nie bekommen. Keinen Kommentar, keine Ermutigung, keine Klage. Damals habe ich das gar nicht erwartet. Erst heute kommt es mir seltsam vor.  Damals steckte ich ja selbst auch in diesem diffusen Gefühl, dass wir als Deutsche den Mund halten und froh sein sollten, dass wir überhaupt da waren. Einerseits. Andererseits wusste ich auch damals schon, dass sich auf Schweigen keine Zukunft bauen lässt.
Nach einer Weile habe ich mich vollständig aus der Personalvertretung zurückgezogen. Heute würd ich es „Burn-out“ nennen. Aber das ist eine andere Geschichte.

Barbara Höhfeld, Frankfurt am Main
www.barbara-hoehfeld.de