Tagebuch Winter 2021/2022

Frankfurt, 3. April

Blass geht die Sonne auf, blass steht der Himmel über den Häusern - statt des blühenden, sprießenden Frühlings scheint der Winter wieder die Herrschaft zu übernehmen. Wie tröstete sich noch Goethes Faust bei seinem Osterspaziergang? "Und dräut der Winter noch so sehr mit trotzigen Gebärden, und streut er Eis und Schnee umher, es muss doch Frühling werden."

Im Februar ist von mir ein Artikel im Luxemburger "Tageblatt" erschienen - ich schreibe ja nicht nur hier für mein Webtagebuch. In der monatlichen Beilage "kulturissimo" stand mein Beitrag zu einem Thema , das die Redaktion gestellt hatte: "Métamorphoses du paysage politique". (Metamorphosen der politischen Landschaft".) Ich verfasste ihn schon im Januar, also lange vor dem Krieg in der Ukraine. Hier ist er:

"

Frankfurt, den 20.1.2022


Was verstehe ich unter „Métamorphose du paysage politique“?
Von Barbara Höhfeld

Metamorphose.......  Das klingt organisch, das klingt natürlich und poetisch zugleich, da verpuppt sich die Raupe  und im Frühling fliegt ein Schmetterling  davon.
Wie sehe ich hier in Deutschland die „métamorphose du paysage politique“, das Thema der Redaktion für diesen Monat?  Nun, die größte Erleichterung, die mir die Wahl vom 26. September 2021 brachte, war, dass die CDU ihre Macht verlor. Bis zum letzten Moment hat sie sich das nicht vorstellen können, die CDU, dass sie die Macht verliert. Jetzt wird in aller Klarheit deutlich, was alles sie an Entwicklung jahrelang verhinderte: beim Klimaschutz, beim Schutz vor Pestiziden, beim Aussterben der Arten,  bei der Digitalisierung und vieles mehr. Sie förderte nicht nur Korruption und Profitdenken, sondern sogar den Rechtsextremismus.
Was machen nun die andern besser und wie? Ich las, dass sich das Umweltministerium und das Landwirtschaftsministerium verbündet haben, um Umweltschutz mit der Förderung von Landwirtschaft in Einklang zu bringen.  Ganz neue Idee, und so naheliegend. Der neue Landwirtschaftsminister verlangt, dass Landwirte mehr verdienen können müssen, dass also die Agrarpreise angehoben werden sollen. Sofort ging das Geschrei los: und was essen die Armen, die sich höhere Preise nicht leisten können! Standard-Arme sind in Deutschland die sogenannten Hartz-IV- Empfänger, Arbeitslose, denen der Staat im Monat 449,- € zahlt; darunter ziemlich oft alleinerziehende Mütter.  Die höheren Lebensmittelpreise würden hier berücksichtigt, war zu vernehmen.  So muss jede Veränderung mit ihren vielen Folgen austariert werden,  damit zumindest die „Geringverdiener“ nicht Schaden nehmen.
Der neue Wirtschafts- und Klimaminister Habeck begab sich zu einem Frühstück in die bayrische Staatskanzlei nach München, um mit dem dortigen Ministerpräsidenten über die Menge von Windrädern zu verhandeln, die auch in Bayern aufgestellt werden müssen, damit  unser Strom mehr aus klimafreundlichen Quellen fließt.  Die Bayern haben nämlich seit 2014 ein Gesetz, wonach nur ganz wenige Windräder auf bayrischem Boden genehmigt werden: von  ihrem Lärm fühlen sich dort zu viele Leute gestört! Das Gesetz wollen sie erst mal nicht ändern. Aber viele Ausnahmen zulassen. Habeck versteht sich aufs Verhandeln.
Am meisten beunruhigt mich die Aufgabe unserer neuen Außenministerin, durch geschickte Verhandlung  einen Krieg mit Russland zu verhindern. Vielleicht gab es diese Gefahr schon länger, sie trat nur nicht so deutlich zutage, dank Merkels Diplomatie; vielleicht hat Putin, der alte Fuchs, sie angesichts einer unerfahrenen jungen Frau auf der deutschen Seite etwas in den Vordergrund geschoben.  So dass sich flink die USA einmischen mussten – und Präsident Biden,  der eigentlich daheim andere Sorgen hat, leicht verschlafen daherredete, dass, wenn die Russen nur ein bisschen in die Ukraine einmarschierten, es nicht so schlimm wäre,  aber wenn sie weit einmarschierten, dann schon.....  Ja, ich machte  mir Sorgen, ob Baerbock , unvorbereitet, wie sie war, dieser Herausforderung  gewachsen sein würde. Aber sie hat bislang  keinen Fehler gemacht.  Es geht um Frieden -  bleibt nicht Frieden das oberste Ziel jeder Politik? Bisher hat Baerbock nichts falsch gemacht; es könnte sein, dass sie ein natürliches Gespür für Diplomatie mitbringt.
Im Fernsehen erlebte ich eine kurze Szene aus Brüssel: die europäischen Finanzminister trafen in der großen Halle des Berlaymont ein, und der französische Finanzminister rief über eine beträchtliche Entfernung hinweg dem deutschen Finanzminister  Lindner auf Deutsch eine  Begrüßung zu, etwa: „Hallo, Christian, wie geht’s?“ und „Tut mir leid, ich muss jetzt  Französisch reden!“  Daraus schloss der Journalist, dass die beiden sich duzen; ich schloss daraus, dass der Franzose sich über den Deutschen mokiert, weil der kein Französisch versteht. Ich schloss weiter daraus, dass Lindner auf internationalem Parkett  noch nicht sicher genug auftritt, so dass er solche Moquerie  provoziert und ihr ausgeliefert ist. Er wehrte sich in der folgenden Verhandlung dann mit einem  energischen „Nein“ gegen Pläne für Geldausgaben, auf die er offenbar nicht vorbereitet war. Ich weiß in diesem Moment nicht, wie die Sache ausgegangen ist – der europäische Geist  fordert jedenfalls mehr Geschicklichkeit, das ist mein Punkt.
Wie sich die politische Landschaft verändert, verändern wird, wage ich nicht vorherzusagen oder zu beurteilen. Der Bedrohungen haben wir genug: den Rechtsextremismus in Frankreich, die Strangulierung des Rechtsstaates in Polen und Ungarn, die Selbstherrlichkeit der Serben. Ich frage mich eher, was kann jeder tun, um den Frieden zu schützen? Oder müssten wir über den Frieden erst noch diskutieren, uns fragen, was wir damit meinen, und was genau wir dafür tun müssen?  Ich habe selbst noch „Krieg“ erlebt, ich kenne den Unterschied. So  wird mir der Vorschlag,  über eine „Metamorphose der politischen Landschaft“ zu reden, immer unheimlicher. Als ginge es um nicht mehr als den Wechsel eines Theaterprogramms, um eine neue Spielzeit. Dabei geht es doch um Krieg oder Frieden.
Oder hängt mein Unbehagen damit zusammen, dass ich gerade den Film „Die Wannseekonferenz“ angesehen habe?"

Soweit mein damaliger Text. Und am 24. Februar marschierte Russland in der Ukraine ein! Und es brach richtiger Krieg aus, der in diesem Fall obendrein hauptsächlich gegen die Zivilbevölkerung geführt wird!

Trotzdem - dem zum Trotz -  verlasse ich mein Winterhalbjahr und läute den Sommer ein.

 

 

Frankfurt, 10. März

Wie ein Film läuft die Erinnerung im Kopfe eines Freundes ab, der dieser Tage in die Ukraine gefahren ist, um einen Bus voll gespendeter Medikamente zu einer Klinik zu bringen: Auf der Fahrt durchquerte er Lemberg und sah auf der einen Straßenseite einen unabsehbaren Zug von Flüchtlingen, die im Schatten liefen, und auf der anderen Seite, in der Sonne, überfüllte Cafés und Restaurants mit Menschen, die mit Freuden zu speisen und zu trinken und sich zu unterhalten schienen. An der Grenze in Richtung Osten kam er ohne Umstände durch, auf dem Rückweg, gen Westen, musste er elf Stunden warten.

Als er wieder zu Hause ankam, nachts um halb zwei, ließ ihn die Erschütterung lange nicht los. Es war eben kein Film, sondern etwas Erlebtes.

Meine Tochter erzählte mir, dass sie im Fernsehen zahllose Kinderwagen auf einem polnischen Bahnhof bereit stehen gesehen hat, auf dem die Züge mit den Flüchtlingen ankamen. Die Flüchtlinge sind überwiegend junge Frauen mit kleinen Kindern; sie mussten ihre eigenen Kinderwagen zurücklassen, weil der Platz in den Zügen nur für Menschen reserviert war und ist. Es warten Menschen zu Hunderten und Tausenden auf den ukrainischen Bahnsteigen darauf, sich in die Züge zu drängen, solange sie noch fahren. Polnische Familien hatten eigene Kinderwagen gestiftet.

Bei uns hier, im Frieden, hör ich immer wieder von Freunden, dass sie durch stundenlanges Fernsehen in Schlaflosigkeit geraten, so dass sie sich schließlich verbieten müssen, weiter „Ukraine“ zu gucken. Ich habe mir an einem Abend eine Folge von dem Film angeguckt (ZDF Mediathek, 23 Folgen), in dem der jetzige ukrainische Präsident Selenski die Hauptrolle spielte: Er ist von Haus aus Schauspieler, ein Komiker, und in diesem Film spielte er einen Geschichtslehrer, der zum Präsidenten gewählt wird. Der Film war seinerzeit ein riesiger Erfolg, und es war auf dieser Grundlage, dass Selenski vor wenigen Jahren zum richtigen Präsidenten gewählt worden ist! Im deutschen Fernsehen gibt man den Film derzeit ohne Synchronisierung und ohne Untertitel – ich verstand kein Wort, doch die Menschen gingen so lebendig, so zugewandt, so geistvoll miteinander um, dass ich trotzdem mitlachen konnte, obwohl ich nicht alle Pointen verstanden hatte. Ich merkte, dass die Wort-Pointen nebensächlich werden können, wenn andere Pointen mit Mimik und Körpersprache dargestellt werden.... Ich würde hier gern jemanden finden, der sich mal auf die gleiche Erfahrung einlässt und eine oder mehrere Folgen anguckt, um seine/ihre Meinung zu hören. Jedenfalls werde ich mir noch weitere Folgen anschauen.

Und Spenden geben.

 

Frankfurt, 10. März 22

Wie ein Film läuft die Erinnerung im Kopfe eines Freundes ab, der dieser Tage in die Ukraine gefahren ist, um einen Bus voll gespendeter Medikamente zu einer Klinik zu bringen: Auf der Fahrt durchquerte er Lemberg und sah auf der einen Straßenseite einen unabsehbaren Zug von Flüchtlingen, die im Schatten liefen, und auf der anderen Seite, in der Sonne, überfüllte Cafés und Restaurants mit Menschen, die mit Freuden zu speisen und zu trinken und sich zu unterhalten schienen. An der Grenze in Richtung Osten kam er ohne Umstände durch, auf dem Rückweg, gen Westen, musste er elf Stunden warten.

Als er wieder zu Hause ankam, nachts um halb zwei, ließ ihn die Erschütterung lange nicht los. Es war eben kein Film, sondern etwas Erlebtes.

Meine Tochter erzählte mir, dass sie im Fernsehen zahllose Kinderwagen auf einem polnischen Bahnhof bereit stehen gesehen hat, auf dem die Züge mit den Flüchtlingen ankamen. Die Flüchtlinge sind überwiegend junge Frauen mit kleinen Kindern; sie mussten ihre eigenen Kinderwagen zurücklassen, weil der Platz in den Zügen nur für Menschen reserviert war und ist. Es warten Menschen zu Hunderten und Tausenden auf den ukrainischen Bahnsteigen darauf, sich in die Züge zu drängen, solange sie noch fahren.

Bei uns hier, im Frieden, hör ich immer wieder von Freunden, dass sie durch stundenlanges Fernsehen in Schlaflosigkeit geraten, so dass sie sich schließlich verbieten müssen, weiter „Ukraine“ zu gucken. Ich habe mir an einem Abend eine Folge von dem Film angeguckt (ZDF Mediathek, 23 Folgen)), in dem der jetzige ukrainische Präsident Selenski die Hauptrolle spielte: Er ist von Haus aus Schauspieler, ein Komiker, und in diesem Film spielte er einen Geschichtslehrer, der zum Präsidenten gewählt wird. Der Film war seinerzeit ein riesiger Erfolg, und es war auf dieser Grundlage, dass Selenski vor wenigen Jahren zum richtigen Präsidenten gewählt wurde! Im deutschen Fernsehen gibt man den Film derzeit ohne Synchronisierung und ohne Untertitel – ich verstand kein Wort, doch die Menschen gingen so lebendig, so zugewandt, so geistvoll miteinander um, dass ich trotzdem mitlachen konnte, obwohl ich nicht alle Pointen verstanden hatte. Ich merkte, dass die Wort-Pointen nebensächlich werden können, wenn andere Pointen mit Mimik und Körpersprache gespielt werden.... Ich würde hier gern jemanden finden, der sich mal auf die gleiche Erfahrung einlässt und eine oder mehrere Folgen anguckt, um seine/ihre Meinung zu hören. Jedenfalls werde ich mir noch weitere Folgen anschauen.

Und Spenden geben.

 

 

Frankfurt, 10. März 22

Wie ein Film läuft die Erinnerung im Kopfe eines Freundes ab, der dieser Tage in die Ukraine gefahren ist, um einen Bus voll gespendeter Medikamente zu einer Klinik zu bringen: Auf der Fahrt durchquerte er Lemberg und sah auf der einen Straßenseite einen unabsehbaren Zug von Flüchtlingen, die im Schatten liefen, und auf der anderen Seite, in der Sonne, überfüllte Cafés und Restaurants mit Menschen, die mit Freuden zu speisen und zu trinken und sich zu unterhalten schienen. An der Grenze in Richtung Osten kam er ohne Umstände durch, auf dem Rückweg, gen Westen, musste er elf Stunden warten.

Als er wieder zu Hause ankam, nachts um halb zwei, ließ ihn die Erschütterung lange nicht los. Es war eben kein Film, sondern etwas Erlebtes.

Meine Tochter erzählte mir, dass sie im Fernsehen zahllose Kinderwagen auf einem polnischen Bahnhof bereit stehen gesehen hat, auf dem die Züge mit den Flüchtlingen ankamen. Die Flüchtlinge sind überwiegend junge Frauen mit kleinen Kindern; sie mussten ihre eigenen Kinderwagen zurücklassen, weil der Platz in den Zügen nur für Menschen reserviert war und ist. Es warten Menschen zu Hunderten und Tausenden auf den ukrainischen Bahnsteigen darauf, sich in die Züge zu drängen, solange sie noch fahren.

Bei uns hier, im Frieden, hör ich immer wieder von Freunden, dass sie durch stundenlanges Fernsehen in Schlaflosigkeit geraten, so dass sie sich schließlich verbieten müssen, weiter „Ukraine“ zu gucken. Ich habe mir an einem Abend eine Folge von dem Film angeguckt (ZDF Mediathek, 23 Folgen)), in dem der jetzige ukrainische Präsident Selenski die Hauptrolle spielte: Er ist von Haus aus Schauspieler, ein Komiker, und in diesem Film spielte er einen Geschichtslehrer, der zum Präsidenten gewählt wird. Der Film war seinerzeit ein riesiger Erfolg, und es war auf dieser Grundlage, dass Selenski vor wenigen Jahren zum richtigen Präsidenten gewählt wurde! Im deutschen Fernsehen gibt man den Film derzeit ohne Synchronisierung und ohne Untertitel – ich verstand kein Wort, doch die Menschen gingen so lebendig, so zugewandt, so geistvoll miteinander um, dass ich trotzdem mitlachen konnte, obwohl ich nicht alle Pointen verstanden hatte. Ich merkte, dass die Wort-Pointen nebensächlich werden können, wenn andere Pointen mit Mimik und Körpersprache gespielt werden.... Ich würde hier gern jemanden finden, der sich mal auf die gleiche Erfahrung einlässt und eine oder mehrere Folgen anguckt, um seine/ihre Meinung zu hören. Jedenfalls werde ich mir noch weitere Folgen anschauen.

Und Spenden geben.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Frankfurt, 7. März

Lange habe ich mich nicht gemeldet - obwohl mir so viele Gedanken durch den Kopf tanzen. Darüber legt sich jedoch immer bremsend die Frage: wie ordne ich das?  Denn um verständlich zui sein, muss ich doch stets die Reihenfolge präsent haben. Dem stehen dann die Bilder im Kopf entgegen, die Gleichzeitigkeit fordern! Gestern gab es mal wiedert ein Stückchen Ordnung - que voici:

Frankfurt, 6. März 2022

Im Krieg spielt die Sprache eine erstaunlich große Rolle. Natürlich kommt sie gegen die Raketen nicht an. Aber keine Kriegspartei mag auf das Sprechen verzichten – mit Worten begründen, was geschieht, ist ihnen wichtig. Leider nur kann man ihnen nicht ohne weiteres glauben. Dass es sich gegenwärtig um einen akuten Angriffskrieg handelt, das bezweifeln weder die Ukrainer noch die westlichen Partner. Viele Russen indes scheinen eben dies anzuzweifeln. Weil sie in ihren Nachrichten anderes hören. Heute wurde gemeldet, dass in einer Stadt „ein grüner Korridor“ für fünf Stunden nicht beschossen werden sollte, damit Zivilisten sich in Sicherheit aus der Stadt herausbegeben könnten. Heute Abend sah und hörte ich den Bürgermeister der Stadt sagen: es gab keine Waffenruhe, es wurde immer weiter geschossen, darum hielten wir die Leute zurück. Der Sender schaltete sofort zum russischen Außenminister, und dieser antwortete: Wir hatten den Korridor freigemacht, aber die Ukrainer haben die Leute nicht gehen lassen.

In deutschsprachigen Nachrichten hörte ich gestern das Wort „einkreisen“. Die Russen wollen Kiew „einkreisen“ sagte ein Dolmetscher, der nicht deutscher Muttersprache war. Komisch, das Wort klingt so harmlos. In Wirklichkeit geht es doch darum die Stadt einzukesseln. Sie von aller Versorgung abzuschneiden. Aber auch deutschsprachige Reporter benutzten das Wort. Einer gebrauchte „umzirkeln“, ein anderer "umzingeln".. Ich überlegte. Vermutlich entspricht das ukrainische Wort eher dem „umkreisen“ oder „einkreisen“. Vielleicht meint es das wörtlich. „Einkesseln“ enthält die feindselige Absicht, die Vernichtung als Zweck. Oder, wenn der Polizei bei heftigeren Demonstrationen nachgesagt wurde: Ein Teil der Demonstranten wurde eingekesselt, keiner durfte raus, keine Frauen mit Kindern, und niemand auch nur zum Pipimachen. An solche Berichte erinnere mich – z.B. bei der Riesendemo anlässlich der Eröffnung der Europäischen Zentralbank in Frankfurt. Das „Einkesseln“ hat etwas Erpresserisches. Kann es sein, dass dieses Wort auf ukrainisch keine solche Aura besitzt, und wer des Ukrainischen mächtig ist, möchte eine solche Bedeutung vermeiden? Oder es gibt ein solch aggressives Wort auf Ukrainisch gar nicht?

Oder ist das Vokabular in meinem Kopf noch verseucht vom Nazi-Vokabular vor 1945? Von dort nämlich erinnere ich mich an das Wort „einkesseln“. Ich kannte einen ehemaligen Soldaten, der als Verwundeter noch mit dem letzten Flugzeug aus dem „Kessel von Rostow am Don“ gerettet wurde. Diese Worte habe ich nie vergessen....

Ein Krieg wird immer auch mit Worten geführt. Jedes Wort zählt. Die schwächere Seite tendiert stärker zum Schönfärben, zum Verdrehen. Das habe ich schon in meiner Kindheit erlebt. (Ich brauchte danach nur noch sehr lange, um es zu begreifen.) Gehört „Einkesseln“ in das Vokabular der Propaganda?

 

 

 

 

 

Frankfurt, 9. Januar

Vor kurzem erwarb ich den Roman „Innere Wetter“ von Elke Schmitter. Elke Schmitter war eine Zeitlang Chefredakteurin der taz, und ich bewunderte sie in allem, was sie schrieb und tat. Aus dieser Bewunderung heraus besorgte ich mir den Roman. Freilich bemerkte ich: es war nicht ihr erster – das wusste ich bis dahin nicht. Doch über den hatte Reich-Ranicki noch geschrieben: „Das ist Prosa, die mich im höchsten Maße fasziniert.“

Der neue Roman handelt von den Beziehungen in der heutigen Bundesrepublik. Ich lebe ja erst seit 1991 wieder hier, nach gut 30 Jahren im Ausland, und bin noch immer erschrocken, wie oberflächlich und geschichtsvergessen die Menschen (und die Dichter) sich hier oft äußern. Wie kann das sein? Ich erhoffte mir von Schmitters modernem Stück Familienliteratur einen scharfsinnigen, die Geschichte einbeziehenden Durchblick. Doch fand ich nur eine mehr oder weniger schwammige Verweigerung eines solchen Durchblicks. Schwammig insofern, weil sie zwar dargestellt wird, aber als unterhaltsame Nebensache. „Spielen wir den Nazi!“ als ein Pseudostreit zwischen Eheleuten – er Deutsch, sie Jugoslawisch –, die sich mit solchen Neckereien von ernsteren Streitigkeiten ablenken wollen.

Der Vater, Jahrgang 1937, wird 77, und seine drei Kinder, alle Anfang 1960 geboren, wollen ihn bei der Gelegenheit mit einem Besuch überraschen. Das ist das Thema von „Innere Wetter“: Das innerliche Befinden. Wie fühlt sich das Bübchen, jetzt, wo die eigenen Kinder sich schon selbständig machen; wie kommen die beiden Mädchen zurecht, von denen es die eine zu nichts gebracht hat und die andere sich mit der Organisation dieses Vatergeburtstags beschäftigt, neben den Beziehungen zum eigenen Mann und zur eigenen Tochter. Der Vater selbst, ein pensionierter höherer Beamter, lässt sie machen, schweigt, urteilt (wie wir aus der Darstellung seiner Gedanken immerhin erfahren), urteilt gnadenlos. Über die Familie seiner Eltern spricht er nicht, und niemand findet was dabei. „Auf der Flucht“ während oder nach dem Krieg sei alles verlorengegangen. Punktum. Mutter ist sowieso schon viele Jahre tot; ihr Mann vermisst sie ausdrücklich nicht. Die Kinder offenbar auch nicht. Sie konzentrieren sich auf ihr eigenes Leben. Alles flüssig geschrieben, enthält auch immer wieder Worte, die ich nicht kenne und die sich auf irgendwas Modisches beziehen – ich verstehe nur, dass dieses Wort gerade als Geheimkode fungiert, mit dem man seine Fortgeschrittenheit vor der Umwelt beweisen kann (gewissermaßen wie Prenzlauer Berg guckt auf Neukölln herab...). Nein, an der „Prosa“ hab ich nichts auszusetzen. Nur am Inhalt.

Das Buch bestätigt alle meine Vorurteile gegen „ BRD-West“: auf Äußerlichkeiten fixiert, an Geld interessiert, von Ehrgeiz und Konkurrenz getrieben, sich mit Arroganz behauptend. Keine Fragen.

Zunächst wollte ich Frau Schmitter schreiben, wollte wissen, wie das kommt. Sie sieht was, aber sie verschleiert es – wie ich auch in vielen Rezensionen entdeckte, wo offenbar kaum einer die deutsche Geschichte vermisst. Aber dann überlegte ich mir, wie man es macht, den Lektoren und Rezensenten aus der Hochkultur zu gefallen, wie man sich dem Markt nähert, um so ein Buch bei Suhrkamp herausbringen zu dürfen. Als Autorin, die auch nicht mehr die jüngste ist. Hat Schmitter unter diesem Gesichtspunkt nicht das Äußerste gewagt? Hat das systematische Verschweigen der Familiengeschichte verschleiert, so dass man noch etwas durch den Schleier hindurch ahnen kann? Hat das Verschweigen dadurch ersetzt, dass sich der Sohn Trost bei seiner serbischen Frau holt, die mit dem Verschweigen aufgewachsen ist und, besonders als Frau, von jeher gelernt hat, damit umzugehen?

Ich war enttäuscht, doch das lange Nachdenken hat mir geholfen. Gut Ding will Weile haben.

 

 

Frankfurt, den 6. Januar

Verzeihung, ich habe meine Leser vernachlässigt. Es ging mir nicht gut. In dem Jahr 2021 habe ich einen Alterungsschub erlebt. Ich gehe jetzt mt Rollator.

Da muss man sich erst dran gewöhnen, gucken, was man draus machen kann. Aber es geht tatsächlich besser, im dem Sinn, das ich besser mit den Beschwerden umgehen kann.