2007

2007

Ignaz Bubis

am 22.Mai 2007 an "d'Letzebuerger Land" geschickt:

(wurde leider nicht gedruckt, ohne Begründung. Seither arbeite ich nicht mehr für LL - 8/08)


Mögliches und Unmögliches


Das Leo-Baeck-Institut hat die Geschichte der deutschsprachigen Juden  bis vor kurzem als abgeschlossen betrachtet, als mit dem zweiten Weltkrieg beendet. Das Leo-Baeck-Institut widmet sich der Erforschung der deutsch-jüdischen Geschichte, es hat Zentren in London, Jerusalem und New York.
Nun beschloß das Leo-Baeck-Institut - wie bei einer Feier in  der Frankfurter Paulskirche am 16. Mai zu hören war - seiner Arbeit ein neues Kapitel anzufügen: die Geschichte der Juden in Nachkriegsdeutschland, Als erstes Ereignis in dem neuen Rahmen wurde im Frankfurter Jüdischen Museum eine Ausstellung über Ignaz Bubis eröffnet. Die Stadt verlegte die Vernissage zu dieser Ausstellung in die Paulskirche, weil sich über 600 Besucher angemeldet hatten, und die konnte man im Museum nicht unterbringen.
Wer war Ignaz Bubis? Er wurde 1927 in Breslau in eine jüdische Familie geboren und starb 1999 in  Frankfurt am Main. Begraben wurde er auf seinen ausdrücklichen Wunsch in Israel. Er hatte die Shoah, das Lager Auschwitz, überlebt, jedoch seine gesamte Familie verloren. Dennoch beschloß er 1956, in Deutschland zu bleiben. Im Katalog zur Ausstellung heißt es: „Ignaz Bubis hat wie keine andere jüdische Persönlichkeit das öffentliche Leben in der Bundesrepublik Deutschland mitgeprägt. Er wurde als <jüdischer Spekulant> angefeindet und als moralische Instanz verehrt. Der vorliegende Band führt die entscheidenen Stationen seines Wirkens vor Augen – eine politische Biografie, in der das fragile Verhältnis von Juden und Nichtjuden nach 1945 in seinen Möglichkeiten und Aporien exemplarisch Gestalt annahm.“
Das Mögliche und das Unmögliche – läßt sich mit diesem Gegensatz jüdisches Leben in der Bundesrepublik einfangen? Bubis vertrat die FDP im Frankfurter Stadtrat. Ein CDU-Abgeordneter aber schlug ihn 1993 als Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten vor. Bubis lehnte sofort ab. Aus den Reden, die am 16. Mai in der Paulskirche gehalten wurden, ging hervor, warum er ablehnen mußte.
Von Anfang an lautete sein Standpunkt: „Ich bin deutscher Bürger jüdischen Glaubens“. 1985 erlebte er eine erste Erschütterung dieses Standpunkts. In den Frankfurter Kammerspielen sollte ein Stück von Faßbinder mit dem Titel: „Die Stadt, der Müll und der Tod“ uraufgeführt werden. Es kam darin die Figur des „reichen Juden“ vor, und keiner dachte dabei nicht an Ignaz Bubis, der durch Immobilienspekulation in Frankfurt reich geworden war. Bubis, schon fast sechzig, und der Vorstand der jüdischen Gemeinde stiegen auf die Bühne, „besetzten“ sie und verhinderten die Aufführung. Bubis „stellte sich mit seinem Körper vor die Metapher des Reichen Juden“, wie Dan Diner es in seiner Rede ausdrückte. Jeder Jude, ab arm oder reich, werde durch diese Metapher getroffen. Bubis selbst sagte: „ich habe nichts dagegen, als Spekulant beschimpft zu werden. Aber sehr viel dagegen, ein ‚jüdischer Spekulant’ zu heißen,“ weil diese Bezeichnung die alten antisemitischen Hetzbilder aufgreift.
Das Stück blieb unaufgeführt. Bubis wurde Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland und bemühte sich weiter unermüdlich um Verständigung, um Dialog. „Er schlief nicht mehr als vier Stunden“, berichtete Wolfgang Schäuble, der als persönlicher Freund speziell für die Eröffnung nach Frankfurt gereist kam. In einer knappen und sehr herzlichen Rede sprach er von Bubis’ „Wächterrolle“, gegenüber den Deutschen ebenso wie gegenüber den Juden, deren Selbstbewußtsein er stärkte. Er habe viel bewirkt, und nun sei es an uns, diese Wirkung weiterzutragen.
Bubis trat, speziell seit dem Faßbinderstück, in seiner Eigenschaft als Jude an die Öffentlichkeit, und das war neu. Noch immer glaubten die meisten Juden in der europäischen Diaspora, dass sie durch Unauffälligkeit am besten geschützt wären. Bubis sah das anders. Unzählige Schimpf- und Drohbriefe erhielt er, gleichzeitig galt er vielen als moralische Instanz. Wer ihn einmal persönlich gehört und gesehen hat, weiß, wie überzeugend, mit welcher Wärme er auf Menschen und ihre Bedürfnissen eingehen und eine Beziehung unter Gleichen herstellen konnte.
Sein eigenes Selbstbewußtsein wurde durch die Walserrede von 1998 und ihre Folgen zuletzt doch erschüttert. Walser hatte bekanntlich von der „Moralkeule“ gesprochen, als die „Auschwitz“ gegen „uns“, die Deutschen, benutzt würde, und Bubis, der im Publikum saß, erschrak: er gehörte auf einmal nicht mehr „zu uns“, er sah sich ausgeschlossen aus der Gemeinschaft der Deutschen. Walser wollte das auch während der Diskussionen in den folgenden Monaten nicht einsehen, unbarmherzig vertrat er seinen Standpunkt gegen den alten Mann, der eben in dieser Unbarmherzigkeit die alten Bedrohungen wieder auferstehen sah. Nur wenige deutsche Intellektuelle versicherten Bubis öffentlich ihrer Freundschaft. Manche taten es privat, mit der Bitte um Geheimhaltung, so wurde berichtet.
Bevor er 1999 starb, glaubte er, dass er nun doch nichts bewirkt habe mit all seiner Arbeit. Aus Furcht vor Grabschändungen ordnete er an, dass er in Israel begraben werden wollte.
Schon 1993 wußte Bubis, dass die Spannungen in den deutsch-jüdischen Beziehungen für einen einzigen Menschen zu groß sind und dass darum das Amt des Bundespräsidenten noch warten muß, ehe ein Jude hineingewählt werden kann. So geht es in der Frankfurter Bubis-Ausstellung um die Geschichte der Konflikte zwischen Juden und Nichtjuden in Nachkriegsdeutschland. Der Suhrkamp-Verlag hat einen ansehnlichen Katalog herausgegeben.
Die Ausstellung dauert bis 17. November 2007

Barbara Höhfeld






Angst in Nahost

Frankfurt, den 9. Juni 2007

CHECKPOINT


Letztes Jahr habe ich versucht, über meine Besuche im Palästinenserland zu berichten, und bin dabei in meinen Ängsten stecken geblieben. Den Checkpoint Bethlehem überwand ich nicht, es ist, als wartete ich dort immer noch. Worauf? Auf eine Festnahme? Was hätte ich zu fürchten gehabt? Ich war doch bloß Touristin!
Seitdem habe ich – außer auf meiner Webseite – nicht mehr über Israel geschrieben. Denn jeder Satz über Palästina ist implizite auch einer über Israel, und jeder Satz über Israel ist implizite einer über die Schuld der Deutschen. Muß ich deshalb schweigen?
Ich will nicht schweigen. Es tut mir unendlich leid, was die Deutschen den Juden angetan haben, und ich setze mich dafür ein, dass es nicht wieder geschieht, wo immer ich kann.
Gerade auch deswegen will ich nicht schweigen. Und was habe ich zu sagen? Wenn es mir nicht gelingt, meine eigenen Ängste, wenn schon nicht zu überwinden, so doch plausibel zu beschreiben?
Ich will von dem Buch „Checkpoint“ erzählen, das Asmi Bischara im Jahre 2006 auf Deutsch herausbrachte. Asmi Bischara, ein arabischer Israeli aus Nazareth, vertrat bis vor kurzem (ich schreibe dies im Juni 07) seine Landsleute in der Knesset, dem israelischen Parlament. Bis vor kurzem, denn er ist jetzt zurückgetreten – und untergetaucht. Der israelische Staat wirft ihm „Landesverrat“ vor. Des gleichen Delikts war er schon 2001 angeklagt worden, er wurde damals freigesprochen. Das Buch „Checkpoint – Bericht aus einem zerteilten Land“ ist seine erste literarische Arbeit.
Poetisch geradewegs.  „Damals lernte meine Tochter gerade sprechen,“ so beginnt das Buch. „Die ersten Worte und Sätze aus Kindermund üben eine magische Wirkung auf die Dinge aus, die, benannt, einen neuen Reiz bekommen. Die Kindersprache ist wie ein Zauberstab: kaum rührt er die Dinge an, da wirbeln sie auch schon für ein paar wenige Augenblicke in unserem nicht ganz einfachen Leben goldene Sterne umher, und wir warten begierig auf das nächste Wort. Wenn das Warten zu lange wird, beginnt das Drängen, dann das Flehen: <Was ist das?> Wir wiederholen die Frage in der Hoffnung auf einen Namen, der dem Benannten Leben einhaucht und etwas Gewöhnliches außergewöhnlich werden lässt. <Sag doch noch mal, was du uns gestern gesagt hast.>  Doch sie, als begriffe sie unsere Sucht nach Magischem, quält uns mit Blicken, die weiteres Flehen verlangen. Dann folgt ein Lächeln, das Flehen und Hoffen in Umarmung und Küsse verwandelt und das ganze Haus mit Trubel füllt.“
Auf diese Weise, durch den Kindermund, führt der Autor und Vater das Wort für „Checkpoint“ ein, den Kontrollposten, der in dieser oder jener Form im ganzen Westjordanland und auch in Ostjerusalem vielhundertfach anzutreffen ist. Man weiß nie, wie lange man beim Checkpoint zu warten hat und ob im Auto ein Kind „Pipi machen“ muß oder ob gar einer krank ist – am wichtigsten ist es, unauffällig zu bleiben. Nicht aussteigen, zum Beispiel.
Bischara zeigt in immer neu beleuchtenden Skizzen den Alltag der Bewegungseinschränkungen für Palästinenser, und er spricht dabei nicht von Angst. Ja, er treibt sogar Scherz mit den Zuständen – wie nannte man sowas früher auf Deutsch? – Galgenhumor? Das Wort paßt nicht. Wer unter dem Galgen stand, war ein Verbrecher, prinzipiell. Bischaras Bericht betrifft ehrbare Bürger, er wahrt unter allen Umständen die Selbstachtung. Stolz und Ehre verlangen einen Respekt für den andern auch in der absurdesten Situation. Die jungen israelischen Soldaten, die voller Willkür über die Checkpoints herrschen, müssen als junge, unerfahrene, unter dem Druck eigener Ängste sich gehen lassende Menschen geschildert werden.
Bischara spricht in diesem Buch nicht über politische Fragen. Nur das Nachwort des Übersetzers verrät uns, dass er und seine Partei für einen binationalen Staat eintreten, in dem Staat und Religion getrennt wären – demnach sollte Israel aufhören, ein ausschließlich „jüdischer“ Staat zu sein. Nein, davon lesen wir nichts in seinem Buch „Checkpoint“. Aber indem wir mit den verschiedensten Menschen die verschiedensten Checkpoints durchqueren oder uns ihnen nähern oder ihnen fernbleiben oder nur in ihrer Nähe wohnen, verstehen wir besser, wer eigentlich hinter den Checkpoints lebt, woher die Menschen dort ihre Lebenskraft nehmen und wie sie sich einen Lebensmut bewahren. Und so erhält die Kindergeschichte am Anfang ihren tieferen Sinn.
Eine Braut soll von Jerusalem nach Ramallah gebracht werden, im Auto eines Landsmannes, der den Vorzug eines amerikanischen Passes besitzt. Sein Auto dürfte nicht aufgehalten, nicht untersucht werden. Die Soldaten ficht die Vorschrift nicht an, sie verlangen die Ausweise aller Autoinsassen zu sehen, auch die der Braut. Zu meiner Überraschung lese ich, dass eine Braut im Brautkleid und im Brautschmuck keinen Ausweis bei sich tragen kann,  in ihrer Kleidung gäbe es keinen Platz dafür! So denkt der Fahrer jedenfalls, der Amerikaner palästinensischen Ursprungs.  Während er nun fürchtet, nicht mehr rechtzeitig zur anberaumten Hochzeit fahren zu können, rettet die Brautmutter die Situation: Natürlich hat sie den Ausweis ihrer Tochter eingesteckt.  Das Leben geht weiter.
Bischara ist untergetaucht, er soll sich im „Ausland“ aufhalten (mit „Ausland“ ist alles außer Israel und Palästina gemeint). Angeblich hat er während des Libanonkrieges im letzten Sommer mit den libanesischen Hisbollahs Kontakt gehalten. Ich male mir aus, wie er jetzt lebt, in einem Versteck sich vor Verfolgern schützend. Und irgendeiner, der dringend Geld braucht, wird ihn schließlich doch verraten.
Da wird mir auf einmal bewußt, warum ich Angst habe: Die Checkpoints in ihrer offenkundigen Ungerechtigkeit – jede Kollektivstrafe ist ungerecht – fordern zum Engagement heraus. Engagement aber bedeutet hier: sein Leben einsetzen. Will ich mein Leben einsetzen?
In seinem Buch schildert Bischara ängstliche Leute am Beispiel der illegalen Arbeiter, Palästinenser, die sich ohne Genehmigung im Land Israel aufhalten, um Geld zu verdienen. Ein solcher Mensch versucht, unsichtbar zu bleiben, er wird zum „Gespenst“.
„Unser Gespenst sucht Arbeit. Es ist, wie es ist. Ein Mann mit orientalischen Gesichtszügen, entweder nervös oder ruhig, redlich oder unredlich, ehrlich oder verlogen, mit seiner Familie verbunden odeer auf der Flucht vor ihr, draufgängerisch oder gehemmt, jedenfalls immer voller Furcht davor, was der nächste Augenblick bringt. Diese Furcht zeigt sich unvermittelt in seinem Blick und in der Art, wie er sich umschaut. Er schafft es nicht, ein Gleichgewicht herzustellen zwischen dem Risiko einerseits, zu dem, neben dem alltäglichen Elend, auch Festnahme und Demütigung gehören können, und der Arbeitslosigkeit jenseits des Checkpoints andererseits. Er will ja nichts anderes als arbeiten, einfach sein täglich Brot verdienen und einen Lohn erhalten, den er seiner Familie schicken kann. Er vergleicht ständig den gegenwärtigen Augenblick mit dem, was war, und jedesmal sieht es schlimmer aus.“

Asmi Bischara: „Checkpoint – Bericht aus einem zerteilten Land“; Übersetzung aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich; 234 S.; Lenos Verlag, 2006

 

Privat erschienen in meiner Broschüre "Kleine Stücke von 2007"

Black Paris

Black Paris

Dreihundert Wörter  und ab in den Krieg!

"Black Paris" heißt eine derzeitige Ausstellung im Frankfurter Museum der Weltkulturen, und am 23. März gab es vom Französischen Institut noch einen Vortrag dazu: "Afrique et Imaginaire".

Die Ausstellung ist ansprechend, man sollte sie sich dennoch mit Führung ansehen, weil sich dann die Dichte der Exponate im Kopf etwas lockert. Der englische Titel verdankt sich dem Umstand, dass schwarze Amerikaner, zuhause ohne Rechte, nach dem Ersten Weltkrieg in Paris ihre ersten Freiheiten fanden und nützten. Die Pariser schwarze Diaspora bestand nicht nur aus Angehörigen französischer Kolonien, sondern auch aus amerikanischen Künstlern und Sportlern. So liierte sich Jean Cocteau in den zwanziger Jahren mit einem schwarzen amerikanischen Boxer, einem sehr schönen Mann. Und wer erinnert sich nicht an die Tänzerin Joséphine Baker, die ursprünglich auch aus Amerika kam!

Ich erfuhr, daß der berühmte Werbespruch meiner jungen Ehejahre "y a bon Banania" auf ein Französisch-Lehrbuch für afrikanische Landser zurück ging ("les tirailleurs sénégalais"), denen man vor ihrer Versendung an die Front dreihundert Wörter oder Begriffe beibrachte, damit sie auch die Befehle verstanden. Darunter "y a bon" anstatt "C'est bon" oder "c'est bien". Das scheinbare Kauderwelsch ("du petit nègre") war also von den Kolonialherren selbst erfunden.

Den Vortrag hielt ein Pariser Geschichtsprofessor namens Pascal Blanchard. Auf der Einladung war eine Übersetzung ins Deutsche angekündigt worden, doch wurde eine solche vor Ort als Störung des Rede-Schwungs empfunden und gestrichen. Professor Blanchard konnte daher ungehindert seinem infernalischen Redetempo frönen ("wenn ich zu schnell rede, heben Sie einfach die Hand!" - es nützte aber nichts). Die zwei, drei Zuhörer, die nach einer Weile stumm den Saal verließen, mußten sich eben der "winzigen Minderheit" zurechnen, die nicht (genug) Französisch versteht. Andere fanden sich damit ab, dass sie nicht alles mitkriegten.  Ich wunderte mich, wieso ein Lehrender so wenig Aufmerksamkeit auf seine Redeweise verwendet?  Will er gar nicht verstanden werden?

Er wußte unendlich viel, mehr als er uns in jeglicher Geschwindigkeit hätte mitteilen können. Er stellte immer wieder interessante Bezüge  zwischen den Sparten her - sei es die Baukunst, sei es die Unterhaltungsindustrie, sei es Politik im 20. Jahrhundert - , doch alles war aus französischer, aus weißer Sicht gesprochen. "Unsere" Kultur war die des weißen Frankreichs. "Wir" wurden durch die afrikanische Kunst bereichert usw. Als ich zum Schluß fragte, ob in dieser Geschichtsschreibung auch die Afrikaner selbst mal zu Wort kämen, erhielt ich zur Antwort: erstens - müsse ein Historiker objektiv sein, es gebe keinen 'französischen' oder 'afrikanischen' Standpunkt. Zweitens – befasse er, Blanchard, sich mit der Geschichte Frankreichs. Drittens sei es natürlich interessant, auch den Blick des andern mit einzubeziehen. Bei Begegnungen mit afrikanischen Schülern habe er bemerkt, daß die in bezug auf ein Bild etwas völlig anderes sahen als er - andere Ähnlichkeiten, andere Bedeutungen, ja, andere Formen.

Dabei blieb es.

Den schwarzen Landsern wurde übrigens viel versprochen und nichts gehalten, das erfuhren wir auch. Und dass in Paris das "Kolonialmuseum" gegenwärtig zum "Migrationsmuseum" umgebaut wird. Professor Blanchard hatte dagegen gekämpft, weil er fürchtete, dass nun die Erinnerung an die Kolonialzeit einfach ausgelöscht werde. Ein Rückblick auf das "schwarze Paris" aus den Zwanzigern und den Vierzigern, Fünzigern könnte doch einen Neuanfang für das heutige Paris ermöglichen, meinte er.

Ja, Paris in all seiner Buntheit braucht wohl einen neuen Anfang. Doch der Anstoss dazu wird eher aus den Vororten kommen als vom Katheder eines sehr weißen Professors. Wenn die bunten Menschen endlich selbst  die Lehrstühle eingenommen und die andern Machtpositionen in Politik, Fernsehen usw. im Verhältnis zu ihrem Anteil an der Bevölkerung erobert haben werden.


Barbara Höhfeld
Frankfurt, 12.4.2007

Erschienen in "kulturissimo", Kulturbeilage des "tageblatt", Esch/Alzette (Luxemburg), im Juni 2007

Aus Ostbelgien

                                                                                  Frankfurt, 3.11.07
Ruf vom Rande


Im Königreich Belgien kämpfen Flamen und Wallonen um die Vormacht, Brüssel versucht sich als eigene Grösse dazwischen zu behaupten – soviel wissen wir aus den Nachrichten. Zu Belgien gehört aber noch eine vierte Region:  zwischen Eupen und St. Vith die „deutschsprachige Gemeinschaft“ mit eigenen Ministerien. Etwa 90.000 Menschen leben in dieser Gegend, und anders als in der deutschsprachigen Schweiz oder dem dreisprachigen Luxemburg spricht man in Ostbelgien Hochdeutsch auch im Alltag. Wie schaffen es die Ostbelgier nun, sich dennoch von den Deutschen zu unterscheiden, sich eine eigene Identität zu bewahren?

Eine einfache Antwort wäre: sie vergessen ihren Dialekt nicht, sie lernen ganz selbstverständlich Französisch, und sie fühlen sich der belgischen Vielfalt verpflichtet. Eine komplexere Antwort bietet die neue „Anthologie ostbelgischer Gegenwartsliteratur“ aus dem  Verlag „edition KRAUTGARTEN“. „Krautgarten“ ist der Name einer zweimal jährlich erscheinenden, deutschsprachigen Kulturzeitschrift. Sie existiert seit 25 Jahren und hat sich in dieser Zeit ein „literarisches und künstlerisches Netzwerk aufgebaut“. Damit sind Beziehungen zu anderen Regionen gemeint, nicht nur zu den Regionen Belgiens, sondern auch zu den Niederlanden, zum Rheinland, zu  Luxemburg - den Nachbarn -,  und zu Österreich, zur Schweiz.  

Die Anthologie spiegelt den Netzwerk-Ansatz wider. Sie vermittelt eine Idee von den Sehnsüchten und Ängsten, Träumen, Erinnerungen und Errungenschaften der Menschen aus diesem Erdenfleck, einschließlich jener, die sich von anderswo hierhin geflüchtet haben. Dietmar Sous zum Beispiel, aus dem Rheinland gebürtig, hängt hier  ungestört seinen Erinnerungen an die deutsche Kindheit und seinem von dort mitgeschleppten Häme-Bedürfnis nach. In Belgien gibt’s ihm keiner zurück, das braucht er nicht zu befürchten. Auffällig der Unterschied zu Guido Thomé, einem Einheimischen (Empfänger des Literaturpreises des Rats der Deutschprachigen Gemeinschaft 1998). Er geht von vornherein nicht als „Sieger“ oder „Verlierer“ an die Dinge heran, er läßt sie reifen, wenn sie wollen. Und versteht natürlich was von gutem Essen. 

Auch die übrigen Autoren und Autorinnen bauen Brücken zwischen unterschiedlichen Kindheitserinnerungen, zwischen dem Trost aus der Natur und den Bedrohungen aus der Umwelt. Leo Wintgens (1980 und 1990 Preisträger der Deutschprachigen Gemeinschaft für „Sprache“ und 1989 für „Geschichte“)  bringt neben dem Dialekt auch innere Spannungen ein, über die niemand redete: wie die Söhne von zwei „Kriegerwitwen“ im Dorf mit Wissen der Lehrer von bestimmten Schülern ihrer Klasse verfolgt und gefoltert wurden und keiner daran etwas ändern konnte. Hier wird Häme nicht dargestellt als eigenes Bedürfnis, sondern als Mangel beim Andern und mit geheimnisvollem Hintergrund, der über den Einzelnen hinaus reicht.


„Mit leichtem Gepäck“ heißt die Anthologie, die von Alfred Strasser zusammengestellt wurde. Strasser lehrte früher „deutsche Literatur und Landeskunde“ an der Universität Lille und stammt selbst aus Österreich. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die österreichische Literatur des 20. Jahrhunderts sowie die Literatur Südtirols, Ostbelgiens und Luxemburgs. Die regionalen Besonderheiten in Gemüt und Form sind es, die ihn anziehen, ganz ohne nationalistisches Gehabe. So bietet die Anthologie durch ihre Verwurzelung im Deutschen, im Nicht-Bundesdeutschen, aber auch in Gebieten jenseits der ostbelgischen Grenzen, einen Blumenstrauß mit einem eigenwilligen und doch schmeichelnden Duft.


Eine andere Antwort auf die Frage nach der Identität Ostbelgiens bietet das lyrische Epos „Das Floß“ von Robert Schaus, ebenfalls im Jubiläumsjahr im Verlag Edition Krautgarten erschienen. Es berichtet aus der Provinz - und damit meine ich alle Gegenden der Nicht-Metropolen –, es schildert die Perspektive jener, die sich nicht an den Weltläuften aktiv beteiligt sehen, jener, die sich wenig auf Neues, aber auch nicht mehr gern auf die Überlieferung beziehen.
„Das Floß“ erschien mir bei der Lektüre –


als existiere die Welt nur noch
auf dem Bildschirm
in schwacher Erinnerung
in einigen Märchen und Mythen –
als bestünde die Wirklichkeit nur
aus Großmutter mit Kaffee und Kuchen
aus gleichgültigen Kindern
aus den unwillkürlichen Bildern im Gehirn des Erzählers –
und als wolle der Erzähler
nichts selbst erstreben
nichts selber tun als
zu beobachten, was seinen Trieb erregt
und seine Ängste
als fühle der Erzähler -
und alle andern mit ihm -
sich schuldig
werde vom Glockengeläut entlastet
um zuletzt in Schweigen zu verfallen.


Es ist ein schönes und ganz jetztzeitiges Gedicht mit bezaubernden Sprach-Trouvaillen. Am besten gefiel mir der Satz: „Auf die Frage nach einem Hafen liefen die Bildschirme leer.“ Anschaulich auch das Bild „Dem Hahn ragte ein spitzer roter Schrei aus der Kehle.“


Keine Orientierung, nur endlose Sehnsucht. Wer sich in solch geistigem Ödland wenigstens der Sprache zu versichern vermag, findet in ihr einen Halt. Robert Schaus gehört ebenfalls zu den Autoren der Anthologie, über die Bruno Kartheuser schreibt (er ist Herausgeber des „Krautgarten“, und selber ein Autor): „Dreizehn Autoren laden die  Leser dazu ein, literarische Gattungen in Tradition und Moderne zu entdecken, dem tieferen Fühlen einer Region nachzuspüren und sich durch das Prisma ihrer jeweiligen Individualität Welt zu erschließen.“

„Mit leichtem Gepäck“, Anthologie der ostbelgischen Gegenwartsliteratur;  edition KRAUTGARTEN, Neundorf 2007; gefördert von der Deutschsprachigen Gemeinschaft in Belgien; 209 Seiten, 20,-   €

 

Erschienen in "kulturissimo" (Luxemburg) vom 20. Dezember 2007 und in der deutschen Zeitschrift "Die Brücke" vom Januar 2008

Was ist ein "Memorizid"?


Zwei amerikanische Professoren für Politikwissenschaften, John Mearsheimer und Stephen Walt, gelangten zu der Überzeugung, daß „die bedingungslose Unterstützung Israels nicht im strategischen Interesse der USA“ sei. Sie wollten ihre Ansicht schon 2002 veröffentllichen, fanden dafür in den USA lange keinen Ort. Die erste renommierte Zeitschrift, die ihren Artikel druckte, war 2006 die „London Review of Books“. Es gebe „eine starke moralische Begründung für die sichere Existenz Israels, aber keine für bedingungslose Unterstützung“. wie die US-Regierung sie unter dem Druck einer effizienten Israel-Lobby betreibe, steht zusammengefaßt darin. Inzwischen haben sie ein Buch zu ihrem Thema veröffentlicht, das im November 2007 auch auf Deutsch herausgekommen ist. „Wir sind keine Antisemiten“ ist das  taz-Interview übertitelt, das anläßlich der Vorstellung des Buches geführt wurde (und aus dem obige Zitate stammen).
Ebenfalls 2006 und ebenfalls in England erschien Ilan Pappes „Ethnic Cleansing of Palestine“. Ilan Pappe gehört zur Gruppe der israelischen „neuen Historiker“, die seit einigen Jahren die Verschleierungen der offiziellen Geschichtsschreibung Israels beiseite zu räumen trachten, unter vielen und starken Anfeindungen. „Die ethnische Säuberung Palästinas“ ist im August 2007 nun auch auf deutsch erschienen. In zwölf Kapiteln legt der Historiker dar, daß 1948, schon vor dem Abzug der Briten aus Palästina im Mai 1948, aber auch noch danach, planmäßig arabische Dorf- und Stadtbewohner vertrieben, ihre Häuser zerstört und vermint wurden, damit sie nicht zurückkehren konnten. Es verschwanden über fünfhundert Dörfer auf diese Weise, und in dem Zusammenhang sind Massaker und Vergewaltigungen nachgewiesen.  Geleitet wurden die paramilitärischen Aktionen von Ben Gurion – Gründer und erster Ministerpräsident des Staates Israel - und einem Stab von Vertrauten, die sich regelmäßig in Tel Aviv trafen; die Ausführung übernahmen die schon seit den 30er Jahren von britischen Offizieren geschulten paramilitärischen Einheiten, vor allem die sog. „Hagana“ (hebräisch für „Verteidigung“), die Ilan Pappe als den „militärischen Arm“ der Jewish Agency bezeichnet.
1948 wohnten in den Städten Palästinas ebensoviele Palästinenser wie Juden; auf dem Lande dagegen bildeten die Juden eine Minderheit, weniger als ein Viertel, und daher mußten sie ihre Siedlungen wie Festungen ausbauen.  „Ihre introvertierte Abgeschiedenheit stand in seltsamem Kontrast zur Weitläufigkeit traditioneller palästinensischer Dörfer mit ihren Natursteinhäusern und leicht zugänglichen, unbehinderten Wegen in die umliegenden Felder, Obstplantagen und Olivenhaine“ beschreibt Pappe die Situation. Die UNO hatte einen Teilungsplan verabschiedet, jedoch keine Umsiedlungen vorgesehen. Die ansässigen Palästinenser waren zum Teilungsplan nicht gefragt worden, ihre Anführer hatten die Teilung schon 1918 grundsätzlich abgelehnt.
Die jüdischen Organisationen scheuten auch offene Gewaltanwendungen nicht, wie sie unter anderm 1947 mit dem Sprengstoffanschlag auf das Jerusalemer King-George-Hotel bewiesen, das den Engländern als Hauptquartier diente.  Über 80 Menschen starben bei dem Anschlag.  Die ethnische Säuberung großer palästinensischer Gebiete jedoch – z.B. von Galiläa und vom Negev - geschah in aller Heimlichkeit. Es gab fast keine Berichte darüber, die UNO reagierte nicht. Der jüdische Nationalfonds vor allem übernahm die Verwaltung des Grund und Bodens, der durch die Vertreibung der Bauern „frei“ geworden war. Es wurden jüdische Siedlungen mit neuen Namen gegründet. Eine speziell eingesetzte „Namenfindungs-Kommission“ sorgte für eine Hebräisierung der Geografie. Ilan Pappe nennt dies einen „Memorizid“. Die Auslöschung der Erinnerung an die arabischen Bewohner wurde systematisch fortgesetzt, auf allem bis heute konfisziertem Land.
Ilan Pappe, Lehrstuhlinhaber in Haifa, ist wegen seiner Forschungen so stark angegriffen worden, dass er nach England auswanderte, er lehrt jetzt Geschichte an der Universität Exeter. Man versucht sogar, ihm seine Lehrberechtigung in Israel zu nehmen. Der Historiker hat viele Jahre lang an dem Thema geforscht, jeden einzelnen seiner Sätze kann er  belegen. Er schreibt als Israeli, er schreibt gerade weil er die Existenz Israels stärken will. Stärke kommt nicht aus dem Verschweigen, so seine Überzeugung,  Stärke braucht Wahrheit, nur aus der Wahrheit erwächst die Glaubwürdigkeit. „Das Problem bei Israel war nie sein Judentum – es hat viele Gesichter und davon bieten viele eine solide Basis für Frieden und Zusammenleben; es ist vielmehr der ethnisch zionistische Charakter“ schreibt Ilan Pappe am Ende seines Buches.
Bewußt stellt der Autor den Vergleich mit der „ethnischen Säuberung“ im Jugoslawienkrieg der 90er Jahre her.  Der Begriff wurde zu jener Zeit streng definiert, und grade deshalb kann er ihn rückblickend auch auf das anwenden, was sich seit 1948 bis heute in Palästina abspielt: ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

„Die ethnische Säuberung  Palästinas“ von Ilan Pappe, Verlag Zweitausendeins, August 2007
Englische Originalausgabe: „The Ethnic Cleansing of Palestine“, published by arrangement with Oneworld Publications, Oxford; © Ilan Pappe
„Die Israel-Lobby“, von John Mearsheimer und Stephen Walt, 2007, Campus-Verlag, Frankfurt/M.

erschienen in "kulturissimo" (Luxemburg) am 20. Dezember 2007