Tagebuch Winter 22/23

Frankfurt, 14. April

Verschiedene Welten    -      von Alter und Demenz
 

Neulich sah ich den Film „Die Eiserne Lady“ mit Meryl Streep, die für die Rolle einen Oscar bekommen hatte. Überzeugend, wie die Schauspielerin die Person zwischen der mächtigen Politikerin und der späten Alzheimer-Kranken darstellte.


Und doch – als Demente steht die alternde Margret Thatcher eigentlich immer gleich da,  mit leerem Blick und ein paar Gewohnheiten, die ihr als Hausfrau geblieben sind: den Anzug ihres Mannes richten, etwas kochen, Geschirr spülen – warum sie, die sich nie als Hausfrau verstand, gerade diese Gewohnheiten bewahrt haben soll, wurde nicht deutlich. Sie wird von angestelltem Personal versorgt, jedoch tritt keine altvertraute Köchin, keine umhegende Kammerzofe auf. Der Ehemann bleibt ihr zugetan, geht aber eigene Wege. Niemand denkt an die Bedürfnisse der Dementen als Mensch. Es war im ganzen Film alles nur von außen geguckt.


Welch ein Unterschied zu  C.Angelmaiers Buch „Anderswelten“ über Alter und Demenz, in dem sie dieser anderen Welt nachforscht, aber vor allem auch von der liebevollen Fürsorge dreier Töchter für ihre Eltern erzählt, also von sich und ihren zwei Schwestern.
Magistra  C.Angelmaier ist eine Wiener Künstlerin-Wissenschaftlerin. Sie hat nicht nur Filme gedreht und manches andere Kreative ausprobiert. Sie hat sich auch mit dem Thema „Soziale Nachhaltigkeit“ befasst und eine Studie zu „Soziale Nachhaltigkeit und Wohnbau“ vorgelegt.
Wie kam sie nun auf das Thema Altersdemenz?


Ihre Eltern, Dorfbewohner im österreichischen Waldviertel, vermochten irgendwann nicht mehr allein ihren Haushalt zu bewältigen. Zwei ihrer Töchter, die abwechselnd regelmäßig zum Wochenende zu Besuch kamen, spürten Veränderungen. Auch wenn Mutter und Vater sich, jeder auf seine Weise, nichts anmerken lassen wollten, wurde irgendwann offenbar, dass nicht mehr alles seinen gewohnten Gang lief. Bis dahin kam die dritte Tochter, die jüngste, nämlich die Autorin, nur alle paar Monate zu Besuch, weil sie zuhause immer unter einer „düsteren Stimmung“ litt. Das änderte sich nun, auch sie beteiligte sich an der neuartigen Fürsorge. Nach einiger Zeit, in der sie den langsamen Wandel deutlicher erkannte, empfand sie das Bedürfnis, eine Chronik zu führen, welche schließlich in dem Buch „Anderswelten“ ihre veröffentlichte Gestalt erhielt. Es gelingt ihr ein Buch, in dem die Bedürfnisse der Eltern ebenso Berücksichtigung finden wie die der drei Schwestern.

Es geht nicht um Demenz allein, sondern um das Altern insgesamt.  Das geht oft Hand in Hand.
C.Angelmaier bezieht in ihre Chronik außer dem Empfinden aller Beteiligten auch wissenschaftliche Ergebnisse mit ein, und sie entdeckt eine Reihe von Büchern, in denen das Thema mit Humor und mit Offenheit für gegensätzliche Erfahrungen behandelt wird (die Autorenliste ist dem Buch beigefügt). Offenbar besteht in der Welt der Forschung ein Konsens darüber, dass letztlich jeder Demente bis zuletzt ein Individuum bleibt. Die Autorin fragte bei Freundinnen mit ähnlichen Erfahrungen nach, zitiert sie teilweise. So gelingt es ihr, mit ihrer Darstellung einen eigenen Weg zu beschreiten, indem sie gleichzeitig auf sich und auf die andern horcht und dabei eine Ordnung für das Geschehen entwickelt.  
Indem das Buch das Altern mit der Alzheimer-Krankheit verbindet, aber auch eine Veränderung der Persönlichkeit durch das Altern als Möglichkeit sieht, zeichnet es ein behutsames Abschiednehmen der Nachgeborenen von den Älteren. Ein ganz neues, ein genaueres Kennenlernen, wie es vorher nie möglich war. Das Buch kann überdies als ein Porträt des Dorflebens betrachtet werden, wie es sich am Ende des 20. Jahrhunderts bis Anfang des 21. allmählich verwandelte.
Ich behaupte nicht, es sei leicht zu lesen. Wer fürchtete nicht, ab einem gewissen Alter, Anzeichen von Demenz bei sich zu erkennen, weil man etwa seinen Autoschlüssel vergessen hat? Für solche Befürchtungen liefert das Buch Trost. Es zitiert einen Wissenschaftler mit ungefähr den Worten: Es fehlt Ihnen gar nichts, wenn Sie Ihren Autoschlüssel vergessen – nein. Aber wenn Sie nicht mehr wissen, wozu ein Autoschlüssel gebraucht wird, ja dann.....
Was das Buch ganz besonders lesenswert macht, ist die liebevolle Fürsorge, die es von Anfang bis Ende durchatmet. Die drei Schwestern gehen jede auf ihre Weise dabei vor, mit Respekt jeder für jede. Der Autorin Beschreibung haucht dem scheinbar so Unabänderlichen eine Seele ein, auch im Alter bleibt das Leben bis zuletzt lebendig. Oder kann lebendig bleiben, wenn die Umgebung es zulässt. Die „andere“ Welt wird zugänglich, manchmal wirklich erlebbar, und verliert von ihrer Bedrohlichkeit. Auch die Welt von Hühnerstall und Autofahren, von Haushalt und Geldbedarf, die praktische Welt, bewahrt ihren Sinn und ihre Notwendigkeit. Das Selbstverständliche bleibt selbstverständlich, das „Andere“ wird im Widerschein des Selbstverständlichen begreifbar. Darin liegt die Kunst  von C.Angelmaier.


„Anderswelten – über Alter und Demenz“ von Magistra C.Angelmaier, Wien.  KLAK-Verlag, Berlin; 2022, 178 Seiten

Der Text erschien bereits in der April-Kulturbeilage "kulturissimo" der Tageszeitung  "Escher Tageblatt" in Luxemburg.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Frankfurt, den 8. März

Und dräut der Winter noch so sehr / mit trotzigen Gebärden / und streut er Eis und Schnee umher / es muss doch Frühling werden.  (Goethe)

Das wenigstens gilt noch, trotz Klimawandel...

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Frankfurt, 11. Februar

Georges-Arthur Goldschmidt

Aufräumen, alte Sachen wegwerfen – das sind Tätigkeiten, die sich manchmal ergeben, wenn die Regale, die Schubladen zu voll werden. So fiel mir heute morgen ein altes Notizbuch in die Hand, in der Hauptsache angefüllt mit Adressen, die mir nichts mehr sagten. Beim Blättern stieß ich jedoch auf ein paar Seiten mit Notizen von einem Vortrag. Georges Arthur Goldschmidt – ja, ich hatte ihn einmal persönlich kennengelernt, sehr genau erinnere ich mich an ihn. Es muss 1989 gewesen sein. Ein französischer Schriftsteller und Übersetzer, der 1938 als Zehnjähriger von seinen Hamburger Eltern in einen Zug nach Italien gesetzt worden war, zu seiner Sicherheit. Nach einiger Zeit konnte er in Italien auch nicht mehr bleiben und kam nach Frankreich, in ein Schulinternat in den Alpen. Zur Zeit der deutschen Besatzung versteckte man ihn bei einem Bergbauern. Niemand durfte wissen, dass seine Muttersprache deutsch war; er lernte rasch Französisch.

Goldschmidt machte Abitur und studierte in Paris Germanistik. Da war der Krieg vorbei und er nicht mehr gefährdet. Dennoch dauerte es ein halbes Leben, bis er sein Deutsch wieder hervorholte und für Eigenes verwendete.

In seinem Vortrag verglich er die beiden Sprachen, und dies lese ich in meinen Notizen: „Die zu durchmessenden Räume sind im Französischen und im Deutschen nicht die gleichen.“i - „Die Beziehung zwischen dem Körper und der Schrift entspricht sich in den beiden Sprachen nicht.“ ii- „Von einer Sprache zur andern verwandeln sich die Dinge.“ - „Das Französische hat einen Bestimmungsort, das Deutsche kommt aus einem Körper.“iii - „Die Geografie hat einen enormen Einfluss auf Sprache und Kultur.“iv

Ich erinnere mich, dass mich diese Worte damals sehr beeindruckt hatten, und dass ich sie nicht alle verstand. Und eben jetzt, beim Übersetzen, führte mir der Satz „Von einer Sprache zur andern verwandeln sich die Dinge“ überdeutlich vor Augen: „Les choses changent d'une langue à l'autre“ - selbst wenn ich andere Worte für meine Übersetzung wählen würde, so würde der Satz doch nie derselbe wie im Französischen sein. Dagegen die Behauptung, das Deutsche entstamme einem Körper – oder dem Körperlichen? - das Französische nicht, leuchtet mir auch jetzt schlecht ein. Als ich mit 21 Französisch wirklich sprechen und lieben lernte, da hatte es auch Teil am Körperlichen. Das fiel mir erst kürzlich wieder auf, als ich Annie Ernaux las, die Nobelpreis-Gewinnerin von 2022: sie gebraucht zahllose französische Redewendungen, wie sie in verschiedenen Jahren unserer Jugend gerade in Mode waren, und sie wirkten wie körperliche Erinnerungen auf mich und ließen ihre Erzählung als wahrhaftig – oder soll ich gar sagen: als leibhaftig? - aufleuchten.

So kommt mir jetzt die Erklärung in den Kopf, das Goldschmidt die Körperlichkeit der deutschen Sprache vielleicht in die Erinnerungen an seine Mutter verwoben hat. Sie starb schon 1942, in Hamburg. Sein Vater überlebte danach das Lager Theresienstadt und starb 1947.

Die Geschichte von der Reise, die Georges-Arthur nach Frankreich führte, und von seinen Jugendjahren während des Krieges dort, hat er in „Die Absonderung“ geschrieben. Es war sein erstes Buch auf Deutsch und erschien 1991. Vorher hatte er sich schon einen Ruf als Autor und Übersetzer erworben; so übersetzte er unter anderm Peter Handke und Walter Benjamin ins Französische.

Goldschmidt hat noch sehr viel mehr über Sprachen im allgemeinem und über das Französische und das Deutsche im besonderen gesagt und geschrieben. Die in den Körper eingeschriebene Zweisprachigkeit hat ihn immer beschäftigt.

Ich werfe noch immer ungern etwas weg.......

 

i„Les espaces à parcourir ne sont pas les mêmes en allemand et en français“

ii„L'accès du corps à l'écriture n'est pas le même.“

iii„(Le français) fonctionne par la destination. L'allemand est issu d'un corps.“

iv„La géographie joue un rôle énorme dans la langue et la culture.“

Frankfurt, den 22.Januar 2023

Es geschehen Dinge, und ich weiß sie nicht einzuschätzen. Die Aufregung um Lützerath zum Beispiel. Die Zeitungen, die Nachrichten sind voll davon (waren letzte Woche voll davon).

Haben Sie, habt Ihr es mitbekommen? Die Regierungen von Nordrhein-Westfalen und vom Bund haben gemeinsam mit der Firma Rheinisch-Westfälische Elektrizitätswerke (RWE) darum verhandelt, dass die Firma in Zukunft weniger Braunkohle abbaut und zu Strom verarbeitet. Um CO 2 zu sparen, also um das Klima zu verbessern.Das heißt, weniger als bisher geplant war. Hätte die Firma so weiter gemacht wie bisher, dann wäre das Ziel, klima-neutral ab 2050 zu leben, nicht erreichbar gewesen (auch jetzt muss noch mehr geschehen, um es möglich zu machen). Die genannten Verhandlungen stellten einen Schritt auf dem Weg dahin dar. Bei den Verhandlungen wurde beschlossen, dass der Braunkohle-Abbau von Garzweiler schon 2030 eingestellt wird, statt 2038, und dass von den fünf zum Abriß vorgesehenen Dörfer vier stehen bleiben werden.

Soweit, so gut. Der Abriss des fünften Dorfes, nämlich Lützerath, stand also bevor. Alle Bewohner waren schon ausgezogen (entschädigt und anderswo untergekommen), die Häuser standen leer. Das erhöhte den aktuellen Symbolwert des Dorfes. Es signalisierte vielen Klimakämpfern, dass sie um das Dorf kämpfen müssten, denn dafür hatten sie die „Grünen“ doch nicht gewählt, dass noch immer wieder ein Dorf der Kohle zuliebe zerstört würde! Die Mengen an Braunkohle unter Lützerath wurden in zusätzliche CO 2-Werte umgerechnet und der Partei „Die Grünen“ unter die Nase gerieben. Eine Reihe von „Grünen“-Anhängern wandte sich sogar lauthals von der Partei ab.

Mir kommt es vor, als hätten die Aktivisten das Empfinden gehabt, dass es bald keine derartigen Demonstrationen mehr geben würde, die eine spezifische Aufmerksamkeit für das Klima wecken, und dass sich hier die letzte Gelegenheit bot, selber solche dramatischen Momente mitzuerleben. So nahmen Tausende aus allen Generationen daran teil. Und Dutzende von Mikrofonen streckten sich ihnen entgegen. Andererseits fühlten sich die Demonstranten auch sicher, dass die Polizei mit ihnen in allen Situationen behutsam umgehen würde. Dass die Polizisten und alle anderen „Gegner“ die Regeln des Rechtsstaates einhalten würden, wenn die Aktivisten sich nur an die Losung „gewaltfrei“ hielten, obwohl sie selbst gegen die Gesetze verstießen. Man ließ sich widerstandslos wegtragen.....Viele Einzelne........ Aus den abenteuerlichsten Positionen.....

Mir aber stand immer das Wort „Rechtsstaat“ vor Augen. Die kluge und tüchtige Luisa Neubauer, eine junge Sprecherin der Klimakämpfer, hatte ich bei einem Fernseh-Gespräch erlebt, wie sie, vom professionellen Gesprächspartner in die Ecke gedrängt, schließlich eine notwendige demokratische Aussprache – um Kompromisse zu finden -- überspringen wollte, dem Klima zuliebe. Leider ist aber demokratisches Aushandeln die Basis aller unserer politischen Entscheidungen. Glücklicherweise. Denn sobald wir auf demokratisches Prozesse verzichten, nähern wir uns diktaturähnlichen Ordnungen, in denen viele Mitbürger Verfolgungen ausgeliefert wären: Frauen zuerst, alle sexuell selbst Bestimmten, alle Nichtdeutschen, um nur einige Gruppen zu nennen.

Der offene Kampf um Lützerath ist jetzt vorbei. Hat nun der „Rechtsstaat“ verloren oder der Klimawandel? Ich glaube, dass beide gewonnen haben. Die Demonstrationen konnten ihre ganze Symbolkraft entfalten, während der staatlich geschlossene Vertrag mit RWE eingehalten wird. Vier Dörfer wurden gerettet. Aber 2030 braucht es möglicherweise wieder Demonstrationen, damit dann auch RWE den Vertrag einhält.

Wachsam bleiben!

Frankfurt, den 20. Dezember

Hab mich lange nicht gemeldet. Das lag daran, dass mir meine Beine wachsende Schwierigkeiten beim Gehen bereiten. Meine Neuropathie lastet auf den normalen Alterserscheinungen; ihr ist mit rein sportlichen Übungen nicht mehr beizukommen. Schmerzen kommen hinzu. Empfindlichkeiten gegen Schmerzmittel.

Dennoch halte ich Augen und Ohren noch offen für das, was in der Welt passiert: In der Bundesrepublik - wie bewährt sich die neue Regierung? (Recht gut, finde ich.) Was geschieht in der Ukraine? (Entsetzliches!  Unglaubliche Heimtücke! ) Wie entwickeln sich Inflation und sonstige Preissteigerungen? Wie und wo kann ich sparen? 

Gestern war Glatteis-Tag, in Frankfurt regnete es auf gefrorenen Boden. Meine Krankengymnastik-Praxis duldete ohne strafende Beiworte, dass ich meinen Besuch kurzfristig abmeldete: ich hätte zu viele Meter auf potentiell glatter Straße gehen müssen. Ob ich freilich die Stunde zu anderer Zeit nachholen kann, werde ich noch aushandeln müssen.

Das Telefon: immer wieder ein wunderbarer Kommunikationskanal für politische Diskussionen, für persönlichen Austausch mit den Liebsten, für Verabredungern.

Auch mein inzwischen schon altes, historisches Thema verfolge ich weiter - die deutsch-jüdischen Beziehungen, der Kampf gegen den Antisemitismus. Der Antisemitismus-Beauftragte hat im Namen der Bundesregierung eine "Nationale Strategie gegen Antisemitismus und für jüdisches Leben" herausgegeben. Nach meinem Gefühl geht diese Strategie nicht genug auf die jahrhundertealten Vorurteile und Reminiszenzen der Nichtjuden in Deutschland ein. Wenn sie in die Strategie die Shoa als unvergessliches Verbrechen einbezieht, so setzt sie, meines Erachtens,  stillschweigend eine Moralität bei den Nichtjuden voraus, auf die ich mich so nicht verlassen würde. Denn wer könnte  heute nicht sagen: ich habe damit nichts zu tun, das war vor meiner Zeit? Die allerwenigsten! Und die alt-überlieferten Vorurteile werden davon erst gar nicht berührt.

Immer wieder erlebe ich aber auch Glücksmomente: bei meinem Geburtstagsfest (im November), zu dem sich viele liebe Gäste einfanden. Oder beim Physiotherapeuten, wenn es ihm gelingt, Verspannungen aufzulösen, an die ich selbst nicht herankomme. Oder wenn ide Sonne scheint und mich mit lieblichen Ansichten verzaubert. Oder wenn mir ein Mittagessen besonders gut gelungen ist. Oder auch beim Lesen. Ja, ich lese viel, vor allem Zeitungen, für mehr reicht meistens die Zeit nicht. Der "London Review of Books" gelingt es immer wieder, dass ich beim Lesen alles um mich gerum vergesse. Das hängt damit zusammen, dass britische Akademiker lernen, sich nicht nur gut verständlich, sondern auch flüssig, eingängig, oft fast poetisch auszudrücken. (Komisch: ich wollte "lierarisch" schreiben, aber das funktioniert doch auf Deutsch nicht: "literarisch'" bedeutet unter der Knute unserer Hochkultur-Kritker, dass man erst recht nicht gut versteht. Jedenfalls war das vor 20 Jahren so. Mag sein, dass  sie in Deutschland inzwischen den Engländern was abgeguckt haben.

Ja, und so könnte ich einfach weiterplaudern. Wende mich stattdessen anderen Notwendigkeiten zu. Ich geh jetzt Linsen kochen. Da lege ich ein paar Zwiebelchen mit rein. Gekochte Zwiebeln passen gut zu Linsen. Bei einem rumänischen Schriftsteller, der einige Jahre Gulag hinter sich hatte, las ich einst: zum Überleben braucht man Kartoffeln, Zwiebeln und Seife. Da ist was dran. Auch frisch gekochte Kartoffeln munden immer wieder gut. Übrigens, die Linsen schmecke ich mit Salz, Pfeffer und Butter ab. Statt der Butter manchmal mit Olivenöl.

 

 

 

 

 

Frankfurt, 29. November

Nachtrag zu Iphigenie und Goethe:

Irgendwo las ich,  dass Goethe seine Schwester Cornelia gelegentlich "häßlich" genannt habe. Ich übernahm das nicht in meiner Darstellung, denn ich glaube, dass es nicht stimmt. Hätte man Goethe im Alter einmal gefragt: "War Cornelia häßlich?", dann - so stelle ich mir vor - hätte Goethe nach einem kurzen Schreck verträumt in die Ferne geschaut, hätte leise, fast unmerklich gelächelt, den Frager angeblickt und den Kopf geschüttelt.

Vor wenigen Tagen wurde ich 88. Nur wenige meiner Vorfahren wurden so alt; alle waren Frauen. Doch meine jüngeren  Brüder werden diese Zahl auch errreichen, und mehr, so hoffe ich.

Ich stelle mir oft die Frage: was kann ich weitergeben? Etwa an "guten Ratschlägen", wie sie sich im Alter manchmal einstellen? Es sind Fragen, die ich weitergeben möchte. Das Fragen, das Fragenlernen, war eine der wichtigsten Schritte in meinen erwachsenen Leben. Es gehörte früher nicht zum Lehrplan, ja, es wurde uns in Kindheit und Jugend abgewöhnt. Wir sollten hören und gehorchen. Es hat sich wohl heute etwas geändert; doch als ich 1991 in Frankfurt bzw. in Deutschland nach langer Abwesenheit ankam, gestand mir ein Student, dass man hierzulande besser nicht fragt, denn dann werde man als dumm eingeschätzt. Obwohl es in der bekannten Kindersendung "Sesamstraße" eine Marionette gab, die den Klügsten darstellte und zu sagen pflegte "wer nicht fragt, bleibt dumm", selbst das kam gegen deutsche Vorurteile offenbar nicht an. Hier meine Fragen:

Wer bin ich? Was will ich? Wer ist die Andere? Wer ist der Andere?

(Der Unterschied zwischen "der'" und "die" ist fließend.)

Diese Fragen sind zunächst dem Zeitalter des Individualismus geschuldet oder, wie Philosophen sagen, des "starken Subjektivismus".  Aber sogar das stärkste Subjekt merkt irgendwann, dass es den Andern braucht, dass es jemanden gibt, der Nicht-Ich ist.

So entstehen neue Fragen: was habe ich mit dem/der Andern zu tun? Was bedeutet er/sie mir? 

Und vielleicht merkt man im Lauf des Lebens, dass  das Leben überhaupt nur aus Beziehungen besteht, dass die Verhältnisse zählen.  Ja, "Verhalten" existiert nur im Bezug zu Anderen. Die Sprache weiß das schon: Verhältnis  -  Verhalten. Denn auch ein "starkes Subjekt" kann sich als solches nur gegenüber andern Menschen beweisen. Es besteht leider nur aus Konkurrenzdenken.

Schließlich gehören die drei Fragen von Rabbi Hillel ( 2. Jhdt.) hierhin:

"Wenn ich nicht für mich bin, wer ist für mich?"

"Wenn ich nur für mich bin, was bin ich?"

"Wann, wenn nicht jetzt?"

Was letztlich zählt, ist das Handeln. Im Handeln beweist sich das Subjet. Dem Individuum möchte ich zurufen: "Tu was!" Dann wird es  zum Subjekt.

Ein Subjekt trägt Verantwortung.

Und damit möchte ich für heute schließen.

Frankfurt, den 30. Oktober

Ich habe viele Bücher. Zu viele Bücher. Glücklicherweise gibt es die Öffentlichen Bücherschränke, in denen auf wunderbare Weise immer wieder Platz entsteht. Dort bringt meine Tochter, wenn sie mich besucht, die Bücher hin, die ich in der Zeit zwischen ihren Besuchen nach und nach aussortiere: zum Beispiel, weil ich sie doch nie mehr lesen werde, oder manchmal, weil ich sie doppelt habe. (Es kommt vor, dass ich ein Buch für so schlecht halte, dass ich es tatsächlich in den Müll werfe. Ich muss mich dafür überwinden, groß ist mein Respekt vor Büchern. Aber wenn ein altes Kinderbuch mit selbstverständlicher Verachtung für Mädchen daherkommt – nur, weil sie Mädchen sind – oder wenn es einfach blöd nationalistisch ist – nur als Beispiele - dann will ich das nicht weitergeben.)

So fiel mir dieser Tage Goethes „Iphigenie auf Tauris“ in die Hände, als Reclam-Ausgabe. Das Theaterstück habe ich doch auch in der Gesamtausgabe, das Heftchen kann ich weggeben, überlegte ich. Vorher schaute ich aber noch hinein.

Das Stück handelt von einer altgriechischen Königstochter, die - um das Kriegsglück ihres Vaters zu sichern -, einer Göttin geopfert werden muss. Auf dem Opferaltar selbst aber verschwindet sie in einer Wolke und wird darin fortgetragen. Fort auf eine fremde Insel, fern der Heimat. Dort begegnen wir ihr, sie lebt dort als Priesterin im Tempel der Göttin Diana. Das ganze Stück spielt „im Hain der Göttin“, auf modern: im Tempelgarten. In ihrem einführenden Monolog fallen schon bald die berühmten Worte:„Das Land der Griechen mit der Seele suchend“ , ihr Heimweh. Bisher las ich in den Kommentaren der Gelehrten, damit sei die Sehnsucht von Goethes Epoche nach dem idealisierten bildungsreichen Frieden des alten Griechenland gemeint, den auch Hölderlin verherrlicht hat. Ich lese weiter von Einsamkeit, von der Sehnsucht nach Familie und Geschwistern: „wo sich Mitgeborene spielend fest und fester mit sanften Banden aneinander knüpften.“ Sie klagt weiter: „Ich rechte mit den Göttern nicht, allein, Der Frauen Zustand ist beklagenswert. Zu Haus und in dem Kriege herrscht der Mann, Und in der Fremde weiß er sich zu helfen. Ihn freuet der Besitz; ihn krönt der Sieg! Ein ehrenvoller Tod ist ihm bereitet. Wie eng-gebunden ist des Weibes Glück! Schon einem rauhen Gatten zu gehorchen Ist Pflicht und Trost; wie elend wenn sie gar Ein feindlich Schicksal in die Ferne treibt!“

Jetzt, heute, dies lesend, staune ich über Goethes Verständnis, seine Einfühlsamkeit für die Leiden der Frauen. Und weil ich schon lange misstrauisch bin gegen die wolkigen Idealisierungen von Weiblichkeit, die sich hinter den Begriffen von Patriarchat und Männlichkeit wie in einem warmen Nest suhlen, frage ich mich: woher weiß er von diesen Widrigkeiten im Leben einer Frau? Wieso kann er sich so verständnisvoll in sie hineinversetzen? Das Bild einer Frau, die klagt, passt zu keiner der bekannten Geliebten oder Angebeteten des Dichters. Es passt nur zu einer Frau in Goethes Leben: zu Cornelia, seiner Schwester. Er hatte nur die eine. Sie wuchsen gemeinsam wie Zwillinge auf, bekamen denselben Unterricht, interessierten sich für alles Neue, dichteten, musizierten. Die Kinder gingen gemeinsam auf Besuche oder ins Theater. Um den Haushalt kümmerte sich die Mutter, aber auch nur von ferne, sie führte die Aufsicht über das Personal, die Vorräte und das Haushaltsbuch. Vielleicht lernte Cornelia von der Mutter das Klöppeln? Es ist nicht viel von Cornelia überliefert, sie starb früh; Goethe mied sie von dem Moment ihrer Eheschließung an, ließ sie fallen – für Cornelia musste es so wirken, als habe er sie im Stich gelassen.

Sie starb 1777 im Kindbett, litt aber schon länger unter Depressionen. 1779 begann Goethe an „Iphigenie auf Tauris“ zu schreiben, stützte sich dabei auf ein entsprechendes Stück von Euripides. Weitere acht Jahre befasste er sich damit, führte es auch öfter auf, in verschiedenen Fassungen kam es auf verschiedene Bühnen. Es war nicht sonderlich erfolgreich, doch das war ihm anscheinend nicht vordringlich. Er brachte es zuletzt vollständig in eine jambische Versfassung. Die, die uns heute so kunstvoll vorkommt.

Hat er darin und in den Jahren der Neufassungen seine Schuldgefühle verarbeitet? Darüber sprach er nie, jedenfalls scheint nichts überliefert. Sind aber nicht alle seine Verhältnisse zu Frauen vorgeprägt von dieser großen Liebe zu Cornelia, die er als Erwachsener nicht weiterführen konnte? Warum das so war, das begründet Iphigenie in ihrem Monolog. Nur der Beruf als Priesterin stand ihr offen in dem Denksystem des älteren Bruders. „....hält mich hier verborgen Ein hoher Wille, dem ich mich ergebe.“ Er weiß, dass sie ohne ihren Bruder überall eine Fremde sein wird. Denn ihm geht es ähnlich.

Und Goethes Stück wird damit enden, dass Iphigenie als Priesterin ihrem Bruder Orest das Leben rettet und danach den engsten Freund des Bruders heiratet.

Happy End. Goethe selbst konnte damit weiterleben. Cornelia nicht.

 

 

Frankfurt, den 28.Oktober

In Frankfurt sieht man derzeit ein Plakat, das einer Todesanzeige ähnelt: in der Art, wie sie in manchen  Ländern an die Hauswände geklebt werden. Schwarz und schlecht gedruckt, fordern sie die Nachbarn zum Mittrauern auf.  Auf diesen neuen Plakaten in Frankfurt steht ein Text, der zusammengefasst besagt: Egal was ihr denkt, sagt "Ja". Es geht immer noch um die Abwahl des Oberbürgermeisters. Das Plakat kommt mir vor wie eine Anzeige zum Tode der Demokratie. Welch einer Farbe auch immer ihr euch zurechnet - wählt nur den Oberbürgermeister ab! Gründe werden keine angegeben, doch wird gemunkelt, dass unter den Antreibern sich auch Immobilienbesitzer befinden, die gern sehr teuer vermieten. Der OB setzt sich aber für Sozialwohnungen, für "bezahllbare Mieten" ein. Hat sich mit Erfolg seit zehn Jahren dafür eingesetzt.

Statt die Demokratie zu betrauern, sollten wir sie schützen!

 

Frankfurt, den 12. Oktober

„Die Höhle von Steenfoll“ ist eine eher unbekannte Geschichte von Wilhelm Hauff, einem beliebten Schriftsteller aus dem 19. Jahrhundert. Bekannt waren vor allem seine Geschichtensammlung „Die Karawane“ oder seine Schwarzwälder Legende „Das kalte Herz“.

Wie ich gestern erzählte, hatte mir mein Vater zu Weihnachten 1943 ein Buch mit Hauffs Märchen geschenkt, die ich immer wieder gelesen habe – außer dieser einen Geschichte, „Die Höhle von Steenfoll“, einer „schottländischen Sage“. Jahrzehntelang mied ich sie, scheute, ja, fürchtete sie. Erst gegen fünfzig wagte ich es noch mal und sah, dass sie ihre Wirkung verloren hatte. Danach legte ich das Buch beiseite.

Gestern nun las ich „Die Höhle von Steenfoll“ mit der Absicht, herauszufinden, WAS mich als Kind daran so verstört hatte. Es geht darin um zwei Brüder, die ihr ganzes Leben zusammenbleiben, nicht heiraten, sich in ihrer großen Verschiedenheit perfekt ergänzen. Der Jüngere ist körperlich stark, sehr arbeitsam, aber nicht sehr helle, der Ältere klug, ideenreich, durchsetzungsstark. Beide zusammen erarbeiten sich im armen Schottland einen gewissen Wohlstand. Irgendwann merkt der Ältere, dass man mit bloßer Arbeit nie wirklich reich wird: er verfällt einem Zauberglauben. Nun ist er überzeugt, dass ihm ein Schatz zufallen wird. Aber wie? In einer nahen Meereshöhle mit zwei Ausgängen sucht er und hört Stimmen, die ihm befehlen, sich in eine frisch abgezogene Kuhhaut einwickeln zu lassen und so an einem einsamen Ort nahe der Höhle eine Nacht zu verbringen. Seine Schatzsucherei hat schon dazu geführt, dass den Brüdern oft das Notwendigste fehlt – nun müssten sie ihre letzte Kuh schlachten! Der Jüngere wehrt sich eine Weile, gibt zuletzt nach - gegen den Bruder kommt er nicht an. Er wickelt den Bruder fest in die Haut ein, legt ihn am Grunde eines schmalen Tales ab und überlässt ihn seinem Schicksal. Wilde Wassermassen, Blitz, Donner, finstere Wolken tun den Rest. Am Morgen „weiß“ der Bruder, wo er zu suchen hat, er befreit sich aus der Kuhhaut ---

Hier wird mir klar, dass ich den Umstand, dass der Mann sich selbst aus der Haut befreit, total vergessen hatte. Einzig und allein das fest Eingewickeltsein, die restlose Hilflosigkeit, hatte ich behalten. Dieses Gefühl war mir unerträglich. Unmöglich, sich dieser Geschichte noch einmal zu nähern. Das wurde mir deutlich. Was mir aber obendrein gestern dabei in den Sinn kam, war das Wissen, dass ich, mindestens im ersten Lebensjahr, „gewickelt“ worden bin, wie mir meine Mutter später erzählte, und wie ich es wohl auch bei meinen jüngeren Brüdern noch erlebt habe. „Gewickelt“ hieß, dass der Säugling so fest von Tüchern umschlungen wurde, dass er sich nicht mehr bewegen konnte. So konnte er sich auch nicht „freistrampeln“, so dass er sich womöglich erkältete. Man konnte das Kind mehrere Stunden sich selbst überlassen. Für überlastete Hausfrauen eine Erleichterung - und zu jener Zeit eine übliche Praxis.

Die Habgier führte die Brüder zuletzt in den Untergang. Das betraf mich aber nicht mehr. Ich war nun frei!

Frankfurt, 11. Oktober

In den vergangenen Jahren schrieb ich nach und nach Erinnerungen an unsere „Flucht“ auf: Kindheitserinnerungen von 1945. Es war die Rückkehr aus den Orten der „Kinderlandverschickungen“, in die während des Krieges Kinder aus den Großstädten kamen, um sie vor Bomben zu schützen, um ihre Ernährung zu sichern. „Auf dem Lande“ war man relativ sicher. Für die Heimkehr brauchten wir dann mehr als drei Monate.

Meine Erinnerungen erschienen in Fortsetzungen in der Vereinszeitschrift des Pensionärsvereins der EU-Beamten, der„Vox“.

Ich schrieb die Erinnerungen bis zur Ankunft in unserer Heimatstadt Dortmund auf – dann brach ich ab. Es wäre ein komplett neues Kapitel gewesen. Die Rückkehr in eine zerbombte Stadt, kaum wiederzuerkennen; der Beginn meiner Pubertät; das dürftige Essen; die sich ändernden Beziehungen zu meinen drei jüngeren Brüdern …... zu viel, zu gewaltig für eine Darstellung.

Schon die „Kinderlandverschickungen“ hatten meine Erinnerungsfähigkeit schwer beansprucht. Nach jeder Fortsetzung brauchte ich Erholung, ehe ich den notwendigen Abstand wiederfand, um weiter zu machen. Sobald ich schrieb, fielen mir ja neue Dinge ein, die jedes Mal ein neues Licht auf das Ganze warfen: Einzelheiten des Gebäudes, in dem wir wohnten, eines ehemaligen Kornspeichers, vielleicht aus dem 18. Jahrhundert, der in der Neuzeit als Wohngebäude ausgebaut worden war. Oder die Bedeutung des böhmischen Schusters im Dorf, wo es doch sonst keine Böhmen mehr gab – zumindest durften ihre Kinder nicht in die allgemeine Schule. „Böhmen“ ist das deutsche Wort für Tschechien; seit Jahrhunderten lebten in Böhmen verschiedene Ethnien nebeneinander. Wir indessen, meine Mutter mit ihren vier Kindern, gehörten nicht dazu, wir waren „Reichsdeutsche“. Wir Kinder lernten jedoch rasch den Dialekt.....

Heute Morgen fiel mir beim Aufwachen ein, dass ich die drei Bücher überhaupt nicht erwähnt hatte, die ich im Rucksack sorgfältig gehütet und als mein einziges Besitztum mit nach Dortmund gebracht hatte. Es waren drei Märchenbücher, die ich bis heute besitze. Ich stand auf und suchte sie heraus. Vertiefte mich in die erstbeste Geschichte, die von „Goldtöchterchen“ handelte, dem einzigen, vielgeliebten Kind seiner Eltern, das eines schönen Sommermorgens hinausläuft auf die Wiese, durch den Busch, an einen Teich kommt und von allen Lebewesen willkommen geheißen wird. Das Kind ist neugierig, und eine Ente bringt es tatsächlich über den Teich, und dort läuft es weiter und freut sich an allen Dingen. Gegen Abend wird es müde und schläft ein – genau wie das Gänseblümchen oder die Aster neben ihm. Aber ein Schutzengel kommt vorbei und nimmt das schlafende Kind auf den Arm und trägt es ins Elternhaus zurück..... Wie ich es jetzt lese, wollen mir fast die Tränen aufsteigen …...

Ich weiß, dass ich während der Flucht und lange Zeit danach all diese Geschichten wieder und wieder gelesen habe. Außer einer einzigen: es war „Die Höhle von Steenfoll“ aus dem Buch „Hauffs Märchen.“ Dieses Buch hatte mir mein Vater zu Weihnachten 1943 geschenkt, er hatte eine liebevolle Widmung hineingeschrieben. Diese eine Geschichte war mir nach der ersten Lektüre dermaßen unheimlich geblieben, dass ich nie wieder hineinzuschauen wagte. Erst als ich schon auf die Fünfzig ging und einige Therapien hinter mir hatte, traute ich mich, sie noch ein Mal zu lesen. Ich wollte wissen, was genau mich an dieser Geschichte so erschüttert hatte.

Die Verhältnisse nach dem Krieg belasteten alle Beziehungen in solchem Umfang, dass ich niemals jemanden fand, mit dem ich über meine Leseerlebnisse hätte sprechen können. Weder meine Mutter, noch die Tanten oder gar jemand anders las, was ich las, war beeindruckt von dem, was ich las, hätte was dazu sagen können oder mir zuhören mögen. Heute verstehen das die wenigsten, aber es war so. Diese Form von Nichtbeziehungen wäre gewiss einen Roman wert – aber wie kann ich das alles in seinem Zusammenhang, hinter dem sich doch Liebe verbirgt, die Sehnsucht nach, der Mangel an Liebe, wie kann ich das in einem Zusammenhang darstellen, der Leser und Leserinnen mitreißt, und der übereinstimmt mit meinen damaligen und meinen heutigen Gefühlen? In einem Zusammenhang, der im Leser, in der Leserin die eigene Liebesbereitschaft stärkt? Womöglich eine Kraft, eine Wand gegen die derzeit aufsteigenden Wut- und Hass-Wogen errichtet?

Ich arbeite daran. Vor 40 Jahren etwa schrieb ich ein Gedicht, das ich selbst nicht wirklich verstand:

„In der Serenissima / lebte ich drei Jahre / im Glanz der Wasser / in der Pracht der Paläste. / Dann ging ich freiwillig / kein Bleidach / bedrohte mich / kehrte heim / ins Reich der Gerechten / die niemand kennt / setzte mich nieder / inmitten von Abgas und Motorenlärm / setzte mich und wartete / auf das Zeichen der Liebe.“

Passt es nicht in den heutigen Zusammenhang?

 

Über die Höhle von Steenfoll muss ich noch etwas nachdenken!