1987

1987

Einiges von der Freiheit und ihren Einschränkungen

Wenn man in der Bundesrepublik einem Menschen begegnet, der sich für eine soziale und gerechte Sache mit Eifer engagiert, mit Haut und Haar gewissermaßen, so darf man vermuten, daß dieser Mensch aus der DDR stammt. Ich nenne einige Namen als Beispiel: Wolf Biermann, Bettina Wegner, auch Rudi Dutschke, wenn sich an den noch jemand erinnert. Nicht aber Reiner Pfeiffer, der Medienreferent. Um, wie er, den Mächtigen, sein „Halt! Bis hierher und nicht weiter!“ entgegenschleudern zu können, juristisch versiert und dann ab in den Urlaub, dafür muß man sich sein Leben lang am Zynismus des Westens gestählt haben. Das schafft keiner von denen aus der DDR.

Uns Westdeutschen wurde immer erzählt, daß „drüben“ eine papierene Sprache herrsche, der Parteijargon des „Neuen Deutschland“, dem sich die Leute glücklicherweise durch Einschalten des Westfernsehens entziehen konnten. Begriffe wie Brigadier, Aufklärungseinsätze, Vaterländischer Verdienstorden kommen uns exotisch vor; wenn ich nach Berlin fahre, staune ich über die Reklame für „Plaste und Elaste“.

Weniger bemerkt wurde, daß die Menschen unter dem Druck der Parteiideologie, der Spitzelei und der Staatssicherheit auch gelernt haben, ihr Worte zu wägen. Es weiß ein jeder, was er sagt; man wählt seine Worte genau und besonnen. Auf diese Weise ist ein Deutsch entstanden, das an Reinheit und Präzision dem westlichen Deutsch oft überlegen ist.

Der DDR-Autor, den ich mit dieser Einleitung vorstellen möchte, heißt Heinz Knobloch. Er ist Journalist und hat ein Genre neuaufleben lassen, das als „republikanisches Feuilleton“ bezeichnet wird. Das Thema Freiheit gilt ihm sehr viel; er behandelt es auf eine eigene und hintersinnige Weise. Er schaut nämlich rückwärts, in die Geschichte und sucht dort nach Menschen, die für die Freiheit gekämpft haben. Er sucht an dem Ort, an dem er lebt, in Berlin: er wandert durch die Straßen mit der Frage: „Was passierte hier, als ich noch nicht auf der Welt war?“

Dabei folgt er einem Stadtplan mit dem Namen: „100 Jahre revolutionäres Berlin“ und gerät auf verschlungenen Pfaden an die Adresse der Mathilde Jacobs, derselben, an die Rosa Luxemburg ihre Briefe aus dem Gefängnis schrieb. „Liebste Mathilde“ schrieb sie, und diesen Titel hat Knobloch dem Buch gegeben, in dem er seine Nachforschungen über das Leben und den Tod der Mathilde Jacobs aufgeschrieben hat.

Anhand alter Adreßbücher, in den Archiven von Ämtern und Krankenhäusern forscht er Schritt für Schritt nach den Stationen im Leben dieser unauffälligen Frau. Listig verschränkt er die historischen Fäden so miteinander, daß der Leser nicht nur die Menschen Mathilde Jacobs und Rosa Luxemburg kennen und lieben lernt, sondern sehr viel über ihre Herkunft und ihre politische Arbeit und darüber erfährt, was die Deutschen an ihnen verbrochen haben. Was wurde ja alles registriert, abgeheftet, aufbewahrt, auch in Nazi-Deutschland. Knobloch findet die „Vermögenserklärung“, die Mathilde Jacobs ausfüllen mußte, bevor sie im „30. Alterstransport“ 1942 nach Theresienstadt geschafft wurde, in der „Aktenverwahrstelle“ seines Oberfinanzpräsidenten. Das Deutsche Reich „zog das Vermögen ein“, selbst wenn es nur aus Bettstellen, Tisch und Kommode bestand, und das Elektrizitätswerk rechnete zu viel bezahlte Stromgebühren ordnungsgemäß ab.

Des Autors Freiheit besteht darin, daß er ungehinderten Zugang zu allen Unterlagen erhält; der Portier grüßt freundlich und fragt nicht weiter. Knobloch beschreibt die „kleinen Leute“. Über den Mord an Rosa Luxemburg weiß jedermann bescheid; wer aber weiß etwas von dem an Mathilde Jacobs? Und doch hätte Rosa ihre jahrelange Festungs- und Gefängnishaft nicht überlebt, wäre da nicht Mathilde gewesen, die für ordentliches Essen, für Kleidung und - vor allem - für Kontakte nach draußen sorgte. Knobloch läßt sie aufleben, und mit ihr die Geschichte der Straßen und Häuser, die man heute noch sehen, noch begehen kann, eine strenge und hautnahe Geschichte, der jeder selbst nachgehen kann. Das Buch „Meine liebste Mathilde“ erschien 1986.

Seine peripathetische Geschichtsschreibung hatte Knobloch einige Jahre früher an Moses Mendelssohn ausprobiert, dessen Ankunft als 14jähriger Junge im Berlin des Königs Friedrich II. er generalstabsmäßig und zärtlich zugleich nachzeichnet. Durch welches Tor wurde er eingelassen? Wie erlangte er seine Aufenthaltsgenehmigung?

Doch Moses Mendelssohn, der sich im Eigenstudium (wer hätte einen Juden in die Universität gelassen?) zu einem bedeutenden deutschen Philosophen entwickelte, der eine Eleganz in die deutsche Sprache brachte, die sie bis dahin nicht gekannt hatte, dieser Herr Moses war in seinem Selbstverständnis vor allem ein Jude. Er hat zur Integration der Juden in die deutsche Gesellschaft den bedeutendsten, weil ersten Beitrag geleistet: er hat hebräische und jiddische Schriften ins Hochdeutsche übertragen, anfangs sogar gegen den Widerstand der Rabbiner. Bekanntlich gilt Mendelssohn als Vorbild für Lessings „Nathan den Weisen“.

Knobloch geht in seiner Lebensbeschreibung nicht nur darauf ein, wie weit der Preußenkönig Gleichberechtigung für jüdische Bürger zuließ - die war zu Mendelssohns Zeiten weiter vorangeschritten als in allen andern europäischen Ländern - sondern auch, wie die Philosophen und Schriftsteller der Epoche, die ja die „Aufklärung“ genannt wird, mit Moses Mendelssohn und seinen Erkenntnissen umgingen. Und so behutsam, so sorgfältig der Autor die Umstände, die Personen auch erforscht, eines übergeht er fast ganz mit Stillschweigen: das jüdische Leben des Herrn Moses. Was bedeutete ihm die Synagoge? Welches Verhältnis verband ihn mit Mitgliedern der jüdischen Gemeinde? Wie feierte er seine Familienfeste? Wir erfahren darüber nicht, Knobloch interessiert sich nur für nichtjüdische, meist deutsche Anhänger und Gegner des Philosophen. Und wenn dieser zum Lebensende auch eindeutig religiöse Fragen unter die philosophischen mischt (gegen Spinozas Atheismus versucht Mendelssohn, die Existenz Gottes zu beweisen), dann bleibt Knobloch nur seine liebevolle Nachsicht, um darüber hinwegzusehen. Wiedergutmachung ja - jüdische Religion nein.

An diesem Punkt treten dann doch die Schwächen des marxistischen Geschichtsschreibers zutage: er möchte deutsches Unrecht, begangen an Juden, aufarbeiten, abbüßen, dafür sorgen, daß es sich nicht wiederholt. Gleichzeitig aber schreibt er nur DEUTSCHE Geschichte, in die Herr Mendelssohn wohl als Deutscher, aber nicht als Jude - d.h. Angehöriger einer Religionsgemeinschaft - aufgenommen werden soll.

Der Luxemburger Anwalt und Intellektuelle Maître Gaston Vogel betonte kürzlich in einem Vortrag über Antisemitismus das Recht der Juden auf das „Anderssein“. Wie aber kann man „das Andere“ achten, wenn man es nicht wahrnimmt? Es ist eine Frage der Kultur und der Reife, ob einer den andern als Anderen erkennen kann, ohne in Angstzustände zu geraten. Denn das Andere als Anderes bedroht das Recht auf Eigenes, wenn man sich des Eigenen nicht gut bewußt ist.

Knobloch befindet sich noch in diesem Stadium, wo er sich nur mit dem Eigenen auseinandersetzt. Und das wird wohl auch mit der Situation der DDR zusammenhängen, mit ihrem Eingemauertsein. Dennoch: er ist auf der Suche. Unruhig wandert er durch die Straßen seiner Stadt und forscht.