Tagebuch Sommer 2024

Frankfurt, den 12. Juli

Ich sammle Bücher aus meinen Vorräten, um sie zu einem öffentlichen Bücherschrank in der Stadt zu bringen. Dort ist immer Platz – jeder Passant kann sich sein Wunschbuch mitnehmen, das tun sie auch offenbar, und so wird immer wieder Platz für Neues.

Darum wähle ich manchmal dieses oder jenes Buch aus, das ich nicht mehr lese, oder denke, dass ich es nicht mehr lesen werde, weil es schon alt ist, sein Inhalt sich inzwischen von selbst versteht oder vielleicht für andere interessanter ist als für mich. „Schreibende Frauen“ hieß eines, das ich heute herausfischte. Es stammt aus meinen feministischen Jahren – aus der Zeit, da ich in Luxemburg Frauentheater machte. Es erschien 1988; 46 „Schreibende“ werden darin vorgestellt. Ich fragte mich; kenn ich welche von ihnen? Ich bin doch erst 1991 nach Deutschland zurückgekommen und wusste hier nicht bescheid.

Als Mitglied im Schriftstellerverband bekam ich scheinbar schnell Anschluss, ich brachte mich ein, ich nahm teil. Jedoch entstanden Freundschaften nicht schnell; mit meiner in Luxemburg erworbenen Aktivistenkultur kam ich in Deutschland nicht an. Man fürchtete dort nicht, den andern zu kränken oder zurückzuweisen. Nahm mich mal jemand mit in einen neuen Kreis, so sprach einfach niemand mit mir, man „kannte“ mich ja nicht. Es war nicht üblich, jemanden vorzustellen. Ich beschloss, mich einfach ins Gespräch einzumischen, und daran hatte offenbar niemand was auszusetzen..

Eine Frau mochte ich und hätte mich gern mit ihr angefreundet. Sie hatte ähnliche Interessen und Gedankengänge wie ich, auch Erfahrungen mit dem Theater. Aber offenbar entsprach ich ihren Erwartungen nicht, und sie ließ mich immer wieder fallen. Wir arbeiteten mal zusammen, mal zankten wir uns. Ich organisierte Lesungen mit zwei Schriftstellern, von denen einer ein “Biodeutscher“, ein anderer ein Migrant war. Sie warf mir daraufhin vor, ich würde deutsche Kollegen um die Gelegenheit zu einer Lesung bringen (es gab Honorar). Mir verschlugs den Atem. So hatten wir uns eine Weile wieder nicht mehr gesehen. Da lud ich sie zu meinem Geburtstag ein. Aber sie kam nicht.

Kurz darauf erfuhr ich, dass sie beim Fahrradfahren durch die Stadt anscheinend einen Herzschlag erlitten hatte und sofort tot war. Es war an meinem Geburtstag, und sie hätte zu dem Zeitpunkt gut auf dem Weg zu mir gewesen sein können. Ich begann zu trauern.

Die Trauer ergriff mich wieder, als ich heute das Buch „Schreibende Frauen“ durchblätterte und ihrem Namen begegnete. Nach fast dreißig Jahren stand alles wieder deutlich vor mir. Unser Zwist, der vielleicht auch nicht nur von den andern kam, auch von mir. Im Grunde von Verhaltensweisen, die uns gegenseitig fremd waren und im Grunde unverständlich blieben. Und wir fanden keinen Weg, eben darüber zu sprechen.

Ich las das Gedicht, das die Frauen in dem 88er Buch von ihr abgedruckt hatten. Ich erschrak. Es war so pessimistisch, so hoffnungslos, wie ich sie selbst nie erlebt hatte. Und war es nicht doch erst entstanden wenige Jahre, bevor wir uns kennenlernten?

In dem Gedicht sah sie sie sich als ein Haus, ursprünglich „Sandsteinquader auf Fels und Lehm“, das nun aber verfallen ist: „da bohrt der Wurm und man / sieht es nicht gleich das / Holz ist schon weich / stoß deine Fingerkuppe in die durchlöcherte Haut / …....... ein Klavier auf dem Staub liegt / alte Lieder in Fetzen nur /einmal blüht im Leben der Mai nur/ ….........“

Wir waren fast gleich alt. Offenbar war ihr die Hoffnung verloren gegangen. Ich selbst aber hatte gerade neue gefasst. Die Hoffnung, die weiterträgt. Ich hatte damals ein ähnliches Gedicht geschrieben:

„Wie eine Pyramide /steh ich im Sand / finster, verwittert / Gänge und Gräber bergend // Verschlungene Gänge / Gräber mit Schätzen / gebaut nach alten / und ernsthaften Plänen. // wer es verstünde / die Pläne zu lesen / Lampen hinein / ins Dunkel zu tragen // der würde Skarabäen funkeln sehen / der würde im Antlitz der Masken / eine Ahnung des Lebens erfahren.“

Auch zu ihr hätte dieses Gedicht gepasst. Wir waren beide ja erst Anfang vierzig! Aber wir haben uns unsere Gedichte nicht gezeigt. Wir wagten nicht, uns kennenzulernen.

So bleibt mir nur, ihr nachträglich mein Pyramiden-Gedicht zu widmen. Meine Trauergabe an Renate.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Frankfurt, den 27. Mai 2024

Bei Arte Mediathek gibt es momentan einen Film über das Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich, der eine Stunde und 18 min lang ist, und der mich begeistert. Der deutsche Titel ist gruselig: "Beziehungsstatus ungeklärt"; auf Franhzösisch aber steht da was mit "couple". Da der Film aus Frankreich kommt, aus französischer Sicht gedreht worden ist, wiegt der französische Titel schwerer. In französischer Perspektive sind die Deutschen überhaupt angenehm, freundlich und gut verständlich. Warum übersetzten die Deutsche "le couple" mit ""Beziehungsstatus ungeklärt"? weil die deutschen Journalisten momentan ein tiefes Zerwürfnis zwischen Deutschland und Frankreich fantasieren. Weil Macron die Möglichkeit von Bodentruppen in die Ukraine als Möglichkeit erwähnt hat, und dagegen sind die Deutschen total. Und Macron will was - aus deutschen Zeitungen konnte ich nicht verstehen was, und den Deutschen ist es wurscht, was Macron will. So klingt die Zeitung, auch die taz. In diesem Film wird gefragt, worin grundsätzliche Unterschiede bestehen, und das wird einfach und klar beantwortet. Zum  Beispiel bei Atomkraft: die wurde hierzulande von Anfang abgelehnt, als gefährlich, teuer und auch unnatürlich; in Frankreich sieht man eine wichtige Energiequelle darin, die Frankreich vom Ausland unabhängig macht. Wenn die Atommeiler auch immer mal wieder ausfallen und überholt werden müssen. Die Deutschen messen die Strahlungen Meiler in Cattenom seit Jahren und regelmäßig - weil die ja ganz nah hinter der Grenze stehen, haben aber noch nie was gefunden. Die Messenden wissen allerdings, dass der Radium-Anteil, den sie tatsächlich messen, noch Reste von Tschernobil sind!

Es wird auch über die deutsch-französische Brigade berichtet und die Franzosen sprechen von einem "grundsätzlichen" Problem: der Sprache. Hach, denk ich, ist Sprache was "Grundsätzliches"? Für die Franzosen ja. Die Brigade würde nur funktionieren, wenn alle Soldaten beide Sprachen beherrschen würden. Das ist aber so selten, dass man nicht drauf zählen kann. Das heißt, die deutsch-französische Brigade existiert, wird auch eingesetzt; aber sie holpert und stottert, dürfte in echtem Krieg zu nichts nütze sein. So erfahr ich als deutsche Zeitungsleserin eine ganze Menge von Gesichtspunkten. Obwohl der Film fast zwei Stunden dauerte, hörte er zu früh auf, fand ich. Er wurde auf deutsch gezeigt, bzw. ich sah ihn auf deutsch, und ich hatte nie das Geffühl, dass er auf Französisch klarer und verständlicher gewesen wäre, wie mir das umgekehrt oft erscheint. Ein weiterer Unterschied, der dargestellt wurde, war der deutsche Sparzwang, den franzsösiche Regierungen nicht so kennen. Da wurde Wissing, deutscher Verkerhsminister, interviewt, und der hatte dieses Grinsen im Gesicht, das er sich offenbar nicht verkneifen kann, auch wenn er nicht davon redet, dass er sich einfach weigert, eine Geschwindigkeitsbegrenzung einzuführen, nur weil der der FDP nützt. Aber der Sparzwang wird ja so hoch gehaoten, auch weil er der FDP nützt. Das passte in den französischen Film nicht rein, das Grisen, das schwebte also irgendwie über dem Film....

Den Film kann ich nur empfehlen!

 

Frankfurt, den 23. Mai

Ich bin gestürzt, und die Mediziner haben mich gerettet. Ich lerne wieder gehen.

Übermorgen sind in Frankfurt "Römerberggespräche", und sie handeln von morgens 10 Uhr bis nachmittags 17 Uhr von der "Deutschen Erinnerungskultur nach dem 7. Oktober": "Zwischen Staatsräson und universellem Recht". Da würde ich gern hingehen, aber noch bin ich nicht wieder beweglich genug für so einen Besuch. Ich ahb e aus dem Internet das Plakat kopiert:

"Deutsche Erinnerungs­kultur nach dem 7. Oktober

Zwischen Staatsräson und universellem Recht

 

SAMSTAG,   25. Mai 2024; 10 Uhr – 17 Uhr;  Schauspiel Frankfurt am Main

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DAS THEMA

Die Einzigartigkeit der Shoa und die besondere Verantwortung Deutschlands gehören zum Identitätshaushalt der alten Bundesrepublik: Aus dem millionenfachen Mord an den europäischen Juden und Jüdinnen ergibt sich der Schutz jüdischen Lebens als Ultima Ratio bundesdeutscher Innen- und Außenpolitik. Spätestens seit dem 7. Oktober, dem Massaker der Hamas in Israel und dem darauf folgenden Krieg in Gaza zeigt sich, dass diese – nicht zuletzt im Historikerstreit der Jahre 1986 und 87 – mühsam errungene Erinnerungskultur nicht mehr als unhinterfragbare moralische Ressource taugt. Wie universell ist ein moralischer Standpunkt, der sich aus einer Schuld ableitet? Welche moralische Verpflichtung erwächst aus dem singulären Verbrechen der Deutschen für Menschen, deren Zugehörigkeit zu diesem Land fortwährend in Frage gestellt wird. Was wäre also eine zeitgemäße Erinnerungskultur und gelungene Aufarbeitung in unserer pluralen Gesellschaft?  Und wie passen die besondere Verantwortung, die aus historischer Täterschaft erwächst, mit einer Sensibilität für das Leid und Elend der Gegenwart und Zukunft zusammen?

Moderation: Hadija Haruna-Oelker und Alf Mentzer

 

PROGRAMM

 

10:00 – Begrüßung

David Dilmaghani, Hessisches Ministerium für Wissenschaft und Forschung, Kunst und Kultur

 

 

10:15 – Dan Diner

Die Bindung des Gedächtnisses – Über Deutschland, Israel und die Crux historischer Ethik

 

 

11:15 – Meron Mendel

Israels Sicherheit als deutsche Staatsräson: Geschichte eines umstrittenen Postulats

 

 

12:15 – Esther Schapira und Nazih Musharbash

Der Nahostkonflikt auf deutschem Boden

 

 

 

 

 

13:15 – MITTAGSPAUSE

 

 

 

 

14:15 – Asal Dardan, Alena Jabarine & Hannah Peaceman

Trotzdem sprechen. Von Bündnissen und Brüchen und deutscher Erinnerungskultur

 

 

15:45 – Kai Ambos

Wer setzt die Grenze? Rote Linien des Völker(straf)rechts als Rahmen deutscher Israelpolitik

 

 

17:00 – ENDE

 

 

Die Veranstaltung findet statt in Kooperation mit dem Forschungsverbund „Die Herausbildung normativer Ordnungen“ an der Goethe-Universität Frankfurt.

 

Weitere Partner:..."

 

 

Vielleicht mag jemand hingehen?

 

 

 

 

Frankfurt, 9.April

Verzeiht mir, ihr Freund:innen, dass ich mich so lange nicht mehr gemeldet habe. Das Thema war schwierig, ist es immer noch, und es gingen mir dabei so viele Fragen durch den Kopf, über die man nicht unbedingt öffentlich redet.

Wie gestern Abend im ZDF, wo zwei hartnäckige Reporterinnen den Verteidungsminister in Verwirrung bringen wollten, und sie auf seine Antwort: es gebe Dinge, über die man nicht öffentlich reden dürfe, ohne die Sicherheit unseres Staates zu gefährden, selbst in Verwirrung gerieten. Das verstehen inzwischen sogar die, welche unerbittlich auf Transparenz pochen, aber sie können noch nicht damit umgehen.

 

Ich las, seit meinem letzten Eintrag,  den Roman  "Jerusalemstag" von Ruth Fruchtman aus Berlin. Als "Jerusalemstag"  bezeichnen die Israelis jenen Tag, an dem im Krieg von 1967 die israelischen Soldaten in die Jerusalemer Altstadt einmarschierten, sie wieder in Besitz nahmen, welche bis dahin in jordanischen Händen gewesen war. Endlich hatten die Israelis wieder Zugang zur Klagemauer! Genau zur selben Zeit gebar die Hauptperson im Roman von Frau Fruchtman in London ihren einzigen Sohn, ohne von dem Ereignis in Nahost zu wissen. Vierzig Jahre später erinnert sie sich daran, auch wie ihr Mann ihr erst zwei Täge später mit dem Frühstück die Zeitungen ans Bett brachte, die darüber berichteten.

Nun muss ich unterbrechen, weil mein "Pflegedienst" überraschend kommt.

 

10. April

Ja, Der Pflegedienst nennt es "Spätdienst", irgendwann zwischen 17 und 20 Uhr oder auch noch später. Ich wünsch mir wenigstens, dass sie nicht vor 18 h kommen. Meistens gelingt das. Sie halten mir Beine und Füße frisch, wo ich nicht mehr so leicht dran komme. Sie wechseln  sich jede Woche ab, und ich lerne die verschiedensten Menschen kennen: ältere, jüngere, Männer und Frauen.  Wie wird man Pfleger im Pflegedienst? Auf verschiedene Weise...

Ich erzählte von "Jerusalemstag", dem Roman  von Ruth Fruchtman. Die weibliche Hauptperson  mit dem Namen "Roma" blickt 40 Jahre später auf die Geburt ihres einzigen Sohnes zurück - was, David schon 40? Das kann doch nicht sein. Sie waren eine gewöhnliche jüdische Familie in London, nicht religiös, eher assimiliert. Jetzt lebt Roma allein in Berlin, David ist nach Israel gezogen, von ihrem Mann ist sie lange geschieden. David hat sich in der Pubertät von der Mutter entfernt. Während die Mutter in Israel nicht heimisch wurde - momentweise zugehörig, vertraut, doch  der Ablehnung  der Palästinenser kann sie nicht folgen, da wird ihr unbehaglich. Sie erlebt zu viel Unrecht, so versteht sie das Verhalten der meisten andern.

Ich selbst bin dem Wort "Narrativ" zum erstenmal im Zusammenhang mit Nahost begegnet; die Israelis nannten die Geschichte der Palästinenser, so wie sie von ihnen selbst erzählt wurde, ein "Narrativ", im Gegensatz zur "Geschichte" an sich und zur eigenen Geschichte. Und Roma, Fruchtmans Hauptperson, erlebt sozusagen beide Geschichten gleichzeitig, - das Wort "Narrativ" gebraucht sie nicht - vergleicht sie und erzählt das ab Davids Geburt, ab dem Tag, der in Israel heute Jerusalemstag heißt. Und diese Gleichzeitigkeit im eigenen Erleben  habe ich sonst noch nirgendwo gefunden, sie faszinierte mich über die ganzen 256 Seiten hinweg. Der Roman erschien 2017 auf Deutsch (im KLAK-Verlag); stellenweise hat er was Prophetisches an sich.