Tagebuch Sommer 2023

Frankfurt, den 17. Juli

Wie gesagt, letzte Woche verschrieb mir eine Expertin für Schmerzbehandlung neue Pillen. Nach 4 Tagen habe ich ihre Anzahl schon von drei auf zwei pro Tag reduziert, und ich nehme sie mindestens 1 Stunde vor oder nach der Mahlzeit. Da reagiert der Magen weniger heftig.  Dennoch: es bleibt ein ständiges Gewicht auf dem Magen. Und die Schmerzen beim Gehen werden nur wenig geringer. Am ärgsten beunruhigt mich eine steigende Amtriebslosigkeit. Auch die Konzentrationsfähigkeit sinkt.

Gegen all das spricht, dass man "seinem" Arzt hundertprozentig vertrauen sollte. Wenn das die Regel ist, dann wundert es mich nicht mehr, dass Menschen in Vollpflege oft nicht mehr ansprechfähig sind - sie werden einfach ruhig gestellt und stellen dadurch keine Ansprüche an die Pflegenden. Jedenfalls scheint mir, dass die Ärzte niemanden mögen, der  nicht an sie glaubt, und der verhandeln möchte. Das ist wohl  der einzige Nachteil der Feldenkrais-Methode, so kommt es mir vor: dass einer, der seinen Körper gut  kennt, rasch spürt, was ihm nicht bekommt.

Und dennoch nicht weiß, wie er seine Scmerzen lindern kann...

Was anderes. Am Donnerstag hielt Tilman Tarach einen Vortrag in Frankfurt, genauer im Sigmund-Freud-Institut. Auf das jüngste Buch von Tilman Tarach wurde ich durch eine Rezension in der taz aufmerksam (am 1.4.23 von Klaus Hillebrand); es heißt "'Teuflische Allmacht - die verleugneten christlichen Wurzeln von Antisemitismus und Antizionismus". Nun bin ich seit mehrereen Jahren auf der Suche nach den Ursachen des meist unbewussten Misstrauens gegen Juden. Nachdem ich das Buch ganz gelesen, und nochmal studiert hatte, musste ich einräumen: Tarach hat recht. Er hat eine unglaubliche Menge von Daten gesammelt, die über fast zwei Jahrtausende hinweg beweisen, dass die Christen systematisch eine Welt von Vorurteilen gegen Juden  aufgebaut haben, und niemand sonst. Die Frage, warum sie das wohl getan haben, stellt er nicht. Auf sie ist er auch bei seinem Vortrag nicht eingegangen. Mir leuchtet nach uind nach ein, dass er den christlichen Funktionären dadurch Chancen böte, Gespräche über Meinungen und damit über deren Vielfalt zu ermöglichen, d.h. sich herauszureden. So beschränkt sich Tarach auf reine Tatsachen: Bibelzitate, Zitate der sog. Kirchenväter, die Erfindung der Spanier von der "Reinheit des Blutes", die bei Juden nicht gegeben wäre usw. Vor allem auch Zitate von Hitler und Stürmer - und andere Nazigrößen - die sich auf die Bibel beziehen, um ihren Judenhass als christlich und damit rechtens zu beweisen. Hier ein Bibelzitat aus dem Johannes-Evangelium. Dort sagt Jesus angeblich: "43. Warum versteht ihr nicht, was ich sage? Weil ihr nicht imstande seid, mein Wort zu hören. 44. Ihr habt den Teufel zum Vater und ihr wollt das tun, wonach es euren Vater verlangt. Er war ein Mörder von Anfang an. Und er steht nicht in der Wahrheit; denn es ist keine Wahrheit in ihm. Wenn er lügt, sagt er das, was aus ihm selbst kommt; denn er ist ein Lügner und ist der Vater der Lüge." Er spricht angeblich diejenigen jüdischen Glaubensbrüder damit an, die ihm selber nicht trauen wollen. Aber dafür gibt es nirgendwo Bestätigung.

Mit diesem Zitat haben viele christliche Prediger gearbeitet.

Es ist  bekannt, dass Jesus sich sein Lebtag als Jude verstanden hat und als Jude gestorben ist. Auch hat er nur den Juden gepredigt. Tarach  berichtet, dass sich erst im 2. Jahrhundert nach Jesus' Tod zum ersten Mal das Wort "Christus" nachweisen lässt, was auf Griechisch soviel wie Messias heißt.

Am besten, meine Leser schauen sich das Buch selbst an. Es ist sehr flüssig geschrieben.

Im Sigmund-Freud-Institut geb es letzten Donnerstag eine vielfältige Diskussion.

Ich erfuhr, dass es im "Offenen Kanal" Offenbach Schüler gibt, die unter der Amleitung der Lehrerin Beatrice Busch-Fervert Filme über jüdische Mitbürger drehen. Sehr sehenswert.

 

 

 

Frankfurt, den 16. Juli

Alt und gebrechlich werde ich. Es nimmt einfach zu, und die Zeit vergeht, ohne dass ich noch viel tun kann, was nicht alltagsnotwendig ist - Dinge, die ich ein wenig abfällig "Intendanz" nenne, wie waschen, putzen, Rechnungen bezahlen. Offen gesagt, überwache ich das mehr, als ich es selber tue.

Stattdessen "wichtigere" Dinge tun: schreiben, nachdenken, Beziehungen pflegen. Manchmal fange ich auch wieder an zu singen: so schöne klassische alte Lieder wie "Ich kehre wiederum zu deinen Strahlen......", wo oft eine einzige Silbe über ganz viele Takte reicht: "Geliebter A-a-ugenscha-a-a-a-a-a-in...." . Das stammt noch aus einer Zeit vor Mozart und Beethoven, ist in Moll geschrieben.

Aber nur manchmal verfalle ich ins Singen. Nur wenn ich auch sonst ruhig atme. wenn ich die Stimmbänder geklärt habe, mit den hübschen Übungen, die ich bei meinen Gesangslehrern und bei Feldenkrais gelernt habe. Die Stimme altert nicht, im Prinzip, wenn man gelernt hat, sie nicht zu strapazieren. Dann singe ich und kann nachher sogar ein klein bisschen besser gehen.

Letztens war eine meiner Töchter für 10 Tage zu Besuch. Wir hatten uns vorgenommen, etwas "Intendendanz" zu betreiben, zum Beispiel suchten wir  - ich im Rollstuhl, den ich seit einem Monat gemietet habe - den Sanitätsladen auf, um jetzt, wo mir die Krankenkasse einen Rollstuhl genehmigt hat, einen "richtigen" zu bestellen, einen "ergonomischen", in dem ich ungestört sitzen kann. Vielleicht sogar einen mit elektrischem Antrieb? Ich warte noch auf das genaue Angebot des Fachmanns.

Der Nachteil eines Rollstuhls besteht darin, dass ich immer jemanden brauche, der ihn fährt. Ich bin nicht sicher, dass der elektrische Antrieb sicher in meinen Händen ist. Aber im übrigen  brauche ich Hilfe auf jeden Fall. Es kommt neuerdings eine Pflegerin für die "Grundpflege". Seit einigen Wochen kaufen andere für mich ein. Nur das Kochen klappt noch, zumindest für mich allein.

Meine Tochter hatte auch einen Termin für uns bei einem "Schmerzzentrum" verabredet.  Wir wurden von einer tüchtigen Anästhesistin  empfangen, die mir neue Schmerztabletten empfahl. Die bisherigen hatten unangenehme Nebenwirkungen, obwohl ich sie gar nicht jeden Tag nahm, sondern höchstesn zwei halbe Tabletten pro Woche! Nein, die Ärztin wusste genau, was mir fehlte. Sie verschrieb mir bessere Pillen für dreimal am Tag. Ich nahm gleich am Abend die erste,und spürte alsbald wieder mehr Kräfte in den Beinen. Im Beipackzettel stand, man könne - oder solle? - die Tabletten als eine Art Brücke über die Mahlzeiten nehmen. Bisher nahm ich sie immer gleich nach den Mahlzeiten. Das ergab sich gewohnheitsmäßig auch am nächsten Tag, und sofort bemekrte ich, dass mein Magen das gar nicht mochte. Ich bekam schreckliches Sodbrennen. Und wenn bislang Joghurt den Magen vor Übelkeit sicher geschützt hatte, galt das plötzlich nicht mehr.  So muss ich dreimal täglich einen Angriff auf meinen Magen riskieren?

Na ja, ausprobieren, und das Gehen wird auf die Dauer auch nicht viel besser. Die Schmerzen tauchen woanders auf:  mehr im Rücken als in den Beinen. Ich muss das jetzt längerfristig abwarten. Auch darauf hin, ob ich im Kopf klar bleibe. Den Kopf brauche ich doch für die "wichtigen" Dinge! Immer noch sehe ich, dass ich was gegen deutschen Antisemitismus bewirken kann. Der Abend mit Tilman Tarach im Sigmund-Freud-Institut hat mir wieder Auftrieb gegeben. Auch dorthin konnte mich meine Tochter begleiten. Es war sehr aufregend. Darüber morgen oder ein andermal.

Jetzt bin ich wieder allein, bzw. muss mich um alles selbst kümmern. Das hat auch was Stärkendes.

 

Frankfurt, den 21. April

Meine Neuropathie tritt immer spürbarer zutage. Das zeigt sich an Schmerzen und an Schwäche in den Beinen. Aber auch meine Hände werden schwerfälliger, manchmal rutschen mir die Sachen einfach zwischen den Fingern weg. Die Ärzte reden nicht gern über diese Krankheit; ich vermute, weil sie sich bei verschiedenen Individuen verschieden äußert. Außerdem: weil es keine Heilmittel gibt. Doch, ja, gewisse Vitamine - der Vitamin-B-Komplex zum Beipiel - soll etwas helfen. Grundsätzlich tut Bewegeung gut; bisher half Gehen, doch in letzter Zeit schmerzt das dermaßen, dass ichs kaum mehr schaffe. Wenn mich jemand begleitet, begebe ich mich ins Treppenhaus meines mehrstöckigen Wohnhauses und steige einen halben Stock rauf und wieder runter, mindestens viermal. Bisher habe ich das nocn jedes Mal geschafft.

Der einzige wirklich zuständige Arzt ist ein Neurologe, der Geräte nutzt, mit denen man die elektrische Spannung der Nerven misst. Der Arzt stellt dann fest, wie stark die Elektrizität zurückgegangen ist - mehr nicht. Darum geh ich da nur noch alle paar Jahre hin. Helfen kann er mir nicht.

Was mich aufrecht hält, ist mein Bedürfnis nach Selbständigkeit. Ich möchte gern essen, was mir schmeckt, was mir nur wenige Menschen zubereiten können, meine Töchter zum Beispiel, ich selbst noch immer, und einige andere Menschen. Also mache ich es gewöhnlich  selber. Es gibt eine Pizzeria hier ganz in der Nähe, die großartige Pizzas backt - sie duftetn nach frischem Hefeteig und sind gut gewürzt. Manchmal habe ich drauf richtig Hunger, und wenn sie mir jemand besorgt, dann bekommt sie mir immer wunderbar. Neulich ging ich mal selber hin. Da ich mich mit Rollator fortbewege, komme ich nicht ohne weiteres die Treppen rauf. Ich stellte mich vor den Laden und rief. Aber keiner hörte mich, bis ich einen Passanten bat, im Laden Bescheid zu sagen. Er tat das bereitwillig und  freundlich - und kurze Zeit später wurde mir die frische Pizza im Karton überreicht! Ich war so hungrig, dass ich ungeniert das erste Stück schon auf der Straße  verzehrte - heiß und köstlich.

23.4.

Was hilft mir sonst? Lesen. Was lese ich? Noch immer beziehe ich die taz auf Papier, obwohl die Anhänger der digitalen Ausgabe öfter über uns Alte spotten. Sie können offenbar nicht mehr verstehen, welchen Horizont eine Seite als Ganzes vermittelt, wie die Hände mitlesen, welch eine Ordnung das Ganze darstellt. Vertrautheit schenkt. Per Leserbrief - dann doch als E-Mail - beteilige ich mich immer wieder mal an den Gesprächen, manchmal bekomme ich sogar eine Antwort  von dem betreffenden Autor. Und manchmal wird mein Brief auch gedruckt.

Gestern veranstaltete die taz in Berlin einen Kongreß. Sie nannte ihn "taz-lab 2023", und nahezu alles, was geschah,  wurde gleichzeitig "gestreamt", d.h. per Kamera übertragen und so auch für mich zugänglich. Drei Stunden verbrachte ich vor dem Bildschirm, ich fand es sehr aufregend: Interviewt wurde Ulrike Herrmann, ein auch auf dem Sachbuchmarkt erfolgreiches Redaktionsmitglied, zu dem Thema: "Der Kapitalismus in der Klimakrise". Ihre These besagt: es gibt kein "grünes" Wachstum, "wir müssen auch an Verzicht denken", oder so ähnlich. "Grün" bedeutet mit grüner Energie und "Wachstum" wird hier ökonomisch gedacht, als selbstverständliche Voraussetzung von "Kapitalismus", gegen den die Herrmann nicht grundsätzlich ist, nur gegen seinen Missbrauch. Sodann wurde Robert Habeck interviewt, zum Thema "Prinzip Machen". Beide Gespräche blieben vom ersten bis zum letzten Wort spannend. Danach sah und hörte ich noch Luisa Neubauer von "Friday for Future", die sich zu der Frage äußerte, ob und wieviel zugunsten von Umwelt und Klima "verboten", d. h. staatlich reguliert werden müsste, ob das zu einer "Ökodiktatur" führe. Sie wurde mit der These des Philosophen Hans Jonas konfrontiert, der die Rücksicht auf kommende Generationen schon 1979 auch ökologisch als Pflicht für jeden verstand. (Das Wort "Pflicht" wurde nicht gebraucht, fiel mir auf, es hieß stets "Verantwortung".) Neubauer argumentierte: Seit Jonas habe sich das Denken verändert, inzwischen gebe es Gesetze, nationale wie internationale, welche eben diese Rücksicht von jedem fordern. Und darauf könne man sich heute stützen, das habe es bei Jonas noch nicht gegeben.

Ein Stückchen guckte ich auch bei dem Gespräch mit Luise F. Pusch hinein: sie ist die Kraft hinter dem heutigen "Gendern" - als Linguistin  ging es ihr immer um die Gegenwart der Frauen auch in der (deutschen) Sprache; sie hat viel nachgedacht, wie die Sprache trotzdem flüssig gehalten werden kann. Aber im Grunde wusste ich schon alles, was da verhandelt wurde. So wechselte ich zu andern Kanälen. Ich stieß auf die Unterschiede zwischen den rechten Parteien in den Niederlanden und denen in der Bundesrepublik Deutschland: sehr interessant. In NL gibt es, glaub ich an die 30 Parteien, die bei den Wahlen miteinander konkurrieren! Es wurde darauf hingewiesen, dass es heute eher "Emokratien" gebe als Demokratien. Es würden ständig "Krisen" ausgerufen; der amtierende Ministerpäsident könne sich dann auf den "Krisenzustand" berufen und ohne direkten demokratischen Auftrag handeln. Vermutlich trifft dieses Thema mit dem Habeck'schen Thema "Machen" irgendwo zusammen - es geht um effektive Machtausübung.

Am Nachmittag überwältigte mich dann doch die Müdigkeit.....