Tagebuch Sommer 2021

Frankfurt, den 14. November 2021

Wem gehört der Holokaust?

In der Literaturbeilage der FAZ fand ich zur Zeit der Buchmesse im Oktober eine Buchbesprechung von Jürgen Kaube zu „Tränen ohne Trauer“ von Per Leo, einem Historiker, der die Gedenkfeiern in Deutschland zur Erinnerung an den Holokaust allmählich für unehrlich und damit oft für überflüssig hält; Kaube zitiert ihn mit dem Satz: „Wir sollten das, was wir als Gemeinwesen ….. und Republik sein wollen, nicht länger von unserem Verhältnis zum Holokaust abhängig machen.“

Unter „Holokaust“ verstehen Schulkinder und Jugendliche hierzulande einen Abschnitt der deutschen Geschichte, der von Juden handelt. Über Juden lernen sie dabei nicht mehr, als dass diese von Deutschen, auf Initiative von Deutschland, massenhaft ermordet wurden. Wenn ich heute einen jungen Menschen frage, was er von Juden weiß, dann antwortet er meistens in dem Sinne, dass er in der Schule jahrelang mit dem Holokaust beschäftigt gewesen sei und dass er genug davon habe, denn er könne ja nichts mehr daran ändern. Was weiß er aber von Juden? Nichts. Der Unterschied ist ihm nicht beigebracht worden.

Juden leben seit mehr als tausend Jahren unter den Deutschen. Sie haben ihre Religion gegen die christliche verteidigt und bewahrt – im Gegensatz zu sämtlichen anderen Konfessionen, die im Laufe der Zeit mal auftauchten. Päpste und Kaiser haben die Juden geschützt. Warum? Der erste Teil der christlichen Bibel, welchen die Christen das „Alte Testament“ nennen, ist das Heilige Buch der Juden; es war das heilige Buch sogar von Jesus, dem christlichen Gottessohn, dem christlichen Erlöser zu seinen Lebzeiten. Die Schöpfungsgeschichte ließ sich nicht streichen. Für das Christentum blieben die Juden die Initiatoren, doch kamen die Bischöfe nach etwa 400 Jahren zu der Auffassung, das nun die von der jüdischen Religion reklamierte „Auserwähltheit“ auf die Kirche übergegangen sei. In ihrer Beziehung zu Gott habe nun die Kirche die Rolle des Erstgeborenen übernommen.

Darauf begannen allmählich die Verfolgungen jüdischer Gemeinden. Das christliche Abendland ist geprägt von den Auseinandersetzungen zwischen den Schriftgelehrten beider Parteien, bis heute. Die ersten Höhepunkte der Verfolgungen, schreckliche Pogrome, fanden bei den Kreuzzügen statt. Der letzte war der Holokaust. Die geistigen Auseinandersetzungen aber - wo finden sie heute statt? Gibt es sie?

Zusätzlich entstand auch Konkurrenz auf wirtschaftlichem Felde. Juden lebten seit der Zerstörung ihres Tempels durch die Römer überall im Römischen Reich. Sie lebten dort als freie Bürger in ihren Gemeinden, ihre Religion war ihnen offiziell erlaubt – eine „religio licita“. Sie übten jederlei Berufe aus, sie waren erfahren im Fernhandel. Mit den Kreuzzügen begannen in Mitteleuropa nun auch christliche Kaufleute mit dem Fernhandel und mussten feststellen, dass die Juden glänzende Beziehungen zu Händlern rund um das Mittelmeer besaßen und darum den Christen immer um einige Nasenlängen voraus waren. So schlossen sich die christlichen Kaufleute gern mit den Bischöfen zusammen.

Ein, zwei Jahrhunderte lang gab es in Mitteleuropa zwischen den Schriftgelehrten von Christen und Juden öffentliche Streitgespräche über die Frage, wer die Wahrheit besitze. Es zeigte sich aber immer wieder, dass die jüdischen Gelehrten den christlichen in Argumentation, Wissen und Logik überlegen waren. Das steigerte die Wut auf christlicher Seite. Sie musste sogar Leute, die sich nach solchen Gesprächen zum Judentum bekehren wollten, mit der Todesstrafe bedrohen!

Für Juden gehört das Lernen und das Wechselgespräch über das Gelernte seit jeher zu ihrem Alltag. Die Jungen lernen lesen etwa ab drei Jahren. Maimonides, der berühmte jüdische Philosoph aus dem 12. Jahrhundert, konnte mit zehn die Thora auswendig, das heilige Buch der Juden, das ihnen die Basis für alles Diskutieren bot und bietet. Wann aber begann die allgemeine Schulpflicht für Christenkinder, damit sie wenigstens schreiben, lesen und rechnen lernten, wenn auch ohne das Diskutieren?

Unter dem wachsenden Druck, den die Mehrheitsgesellschaft auf die Juden ausübte, verstanden diese bis zuletzt - bis 1933 – sich mächtige Verbündete zu schaffen. Sie zahlten dafür Sondersteuern, was ihnen besonders in den tausend Jahren des „Heiligen Römischen Reichs“ einen gewissen, einen konkreten Schutz verschaffte. In der Weimarer Republik vertrauten sie auf die Verfassung …...

Jürgen Kaube ist mit Per Leo nicht einverstanden – vor allem, weil er dem Buch Faktenferne und und mangelnde eigene Vorschläge vorwirft. Was aber auch Kaube nicht fordert, ist eben das, was ich im Vorstehenden andeute. Er kommt nicht auf die Idee, dass die Schule eine gemeinsame deutsch-jüdische Geschichte als notwendigen Teil der allgemeinen deutschen Geschichte lehren müsste. Denn woher sonst soll jemand wissen, wieso es überhaupt zum Holokaust kam? Vor allem: wie will man verhindern, dass noch einmal so etwas geschieht? Wenn niemandem klar ist, wie viel wir, die nichtjüdischen Deutschen, und die jüdischen Deutschen im geistigen Austausch einander zu verdanken haben? Die jüdischen Historiker haben sich sofort seit 1945 daran gesetzt, das aufzuschreiben.

Es wird höchste Zeit, dass der Holokaust in den Zusammenhang einer gemeinsamen deutsch-jüdischen Geschichte gestellt wird. Dass der Schuldspruch gegen die Heutigen umgewandelt wird in eine Aufgabe des Lernens über „den Anderen,“ um den jüdischen Philosophen Emmanuel Levinas zu zitieren. Über den Anderen, der genau so ein Mensch ist wie ich. Über meinen Nachbarn.

 

 

 

 

 

 

Frankfurt, den 3. Oktober

Vor meinem Balkon steht ein verdorrter Baum. Er hat die drei Dürrejahre nicht überstanden – weil die, die im  Haus bestimmten, kein Wasser dafür ausgeben wollten.  Sie erlaubten dem Hausmeister nicht, den Baum zu gießen. Ich wohne im  4. Stock und schaute dem Baum geradewegs in den Wipfel, als er noch grünte.

Der Garten, in dem er steht, gehört zwar mir, aber zusammen mit ungefähr 70 anderen Bewohnern des Hauses (bzw. Eigentümern), und die Rechtslage erlaubt, dass eine einzelne Stimme nicht gehört werden muss. Seit Corona setzte sich das erst recht durch. Die letzte Eigentümerversammlung arbeitete mit 10 Anwesenden und entsprechend vielen Vollmachten. Die Dynamik einer normalen Versammlung, wo erst argumentiert, dann abgestimmt wird, fehlte vollends. Im Dezember werden es zwei Jahre, nachdem, laut Aussage der Hausverwaltung, eine Gärtnerei den Auftrag erhielt, den verdorrten Baum zu fällen. Er steht noch immer.

Ich habe aber Neues an dem Baum entdeckt. Die Vögel suchten ihn auf, denn sie fanden Futter unter der Rinde. Alle Äste, auf denen Vögel sich halten oder die sie aus sicherer Position erreichen  können, sind schon lange blank. Nun setzen sich die Vögel noch manchmal in den Baum, um sich den Überblick zu verschaffen, den sie gerade brauchen. Rundum, bei uns und auf den Nachbargrundstücken, stehen lebende Bäume, verschiedene Arten, von  verschiedener Höhe, und viele Sträucher. Dazu die  begrünten Balkone  an den Hochhausfassaden, die sich gegenüber stehen – mit den Bäumen dazwischen, das macht es erträglich. Und die Vögel finden Erstrebenswertes auch in den Blumenkästen. Heute morgen sah ich, dass eine Elster in „meinem“ dürren Baum sich bemühte, Ästchen abzubeißen. Will sie ein Nest bauen? Um diese Zeit? Leider fand sie nicht viel – seit zwei Jahren dürften das schon viele Vögel versucht haben, fuhr es mir durch den Kopf.  Da ist nichts mehr übrig. So genau hatte ich sonst nie darauf geachtet.

Mein Blick hat sich verschärft, seit diesen Sommer auf meinem Balkon ein Taubenpärchen nistete. Ich beobachte nun genauer, wer da herumfliegt. Lange Jahre kamen vor allem Amseln vor, mit ihrem Gesang – ein, zwei Sommer lang führte eine Amsel sogar lange Konzerte auf meinem  Balkon auf, was ich immer genoss. Doch es gibt keine Amseln mehr hier. Oder nur gelegentlich ein einsames Pärchen. Sie singen auch weniger – früher hörte ich sie gegen Abend singen von fern und nah, sie antworteten einander, variierten sich gegenseitig. Welch eine Vielfalt von Nuancen in ihren Gesängen! Auch andere Singvögel ließen sich hören. Damit ist es nun vorbei. Selbst das einsame Amsel-Pärchen hat keine Freude mehr am Singen. Heute haben wir noch Spatzen, Tauben und Elstern. Natürlich gibt es auch kaum noch Insekten in der Luft – wovon sollen die Singvögel leben?

Als ich im Juni  eine Taube mit Ästchen im Schnabel auf meinen Blumenkästen landen sah, erschrak ich. Ein Taubennest auf meinem Balkon! Kommt gar nicht in Frage! Da ich gerade Besuch von meinem Enkel hatte, besprach ich das mit ihm. Tatsächlich weichte er meine Entschlossenheit auf: ich ließ die Tauben schließlich gewähren. Sie bauten ein Nest neben und unter dem Rosmarinstrauch in der östlichen Ecke der Blumenkästen. Sie legten zwei Eier hinein. Dann begannen sie zu brüten – die Eltern wechselten sich in einem etwa 7-stündigen Schichtwechsel ab. Da ich einige Tage verreist war, habe ich das Schlüpfen nicht mitgekriegt; als ich zurückkam, war nur ein Täubchen geboren, von den Eierschalen keine Spur mehr. Das Kleine war kaum zu sehen unter dem wärmenden Bauch einer der Eltern, die sich nach wie vor pflichttüchtig abwechselten. Es wuchs von Tag zu Tag. Nach vielleicht zwei Wochen sah ich zum erstenmal, wie die Eltern bei Schichtwechsel das Kleine fütterten – die jeweils von außen einfliegende Taube stopfte etwas aus ihrem Schnabel in den Schnabel des Jungen hinein, welches zunehmend gierig das Fressen aufnahm.  Nach drei, vier Wochen ließen die Eltern das Junge öfter allein. Es sah nun schon wie ein richtige Taube aus, nur noch nicht ganz so groß. Sein Schnabel war dünn, gerade und schwarz, während die Eltern einen gelben, ganz leicht gebogenen Schnabel hatten. Es übte seinen Flügelschlag. Eines Tages sprang es mit Hilfe seiner Flügel auf die Stange, die sich ca. 20 cm über meinen Blumenkästen den ganzen Balkon entlang zieht.  Ich sah, dass es noch nicht gut stehen konnte, immer wieder knickten die Beinchen ein, so dass es gewissermaßen saß. Es übte die Aufrichtung, nicht systematisch, sondern immer, wenn ihm danach war. Wenn einer der Eltern zum Füttern kam, hüpfte es zurück ins Nest. Eines Morgens stand das junge Täubchen wieder auf der Stange, irgendwie unruhig, unternehmungslustig, und ja, tatsächlich – es flog los! Es flog geradeaus und bumste mit voller Kraft gegen meine Balkonfensterscheibe! Es fiel auf den Boden, berappelte sich, trippelte unsicher ein wenig herum – und flog wieder hinauf auf die Stange. Die Orientierung war da, nur die Kenntnis von Glasscheiben noch nicht. Nach einer Weile bewegte sich das Täubchen auf der Stange ein gutes Stück westwärts und startete schließlich zum zweiten Versuch. Und noch einmal in die falsche Richtung! Wieder Aufprall, Sturz, Benommenheit. Zurück auf die Stange. Da saß es niedergeschlagen, still, bis der Abend anbrach. Doch am nächsten Morgen hatte das Täubchen neue Kraft geschöpft. Es flog auf den Balkonboden herab und flog hinauf auf den westlichen Teil der Balkonstange. UND – es blickte nun zur anderen Seite hin, in die Richtung von Freiheit und Ungebundenheit, zu fernen Bäumen und Gärten. Und es flog los! Danach sah ich es nur noch einmal (ich guckte natürlich nicht den ganzen Tag.) Auf der Stange stand die Mutter mit dem Fressen im Schnabel und siehe, das Junge flog herbei. Ich beobachtete, wie es mit rücksichtsloser Gier das Futter der Mutter aus dem Schlund riss, bis die schließlich davonflog. Das Junge flog dann auch weg und kam nie mehr zurück. Ich fand das echt pubertär und machte mir Sorgen: er kann sich noch kein Futter selber suchen und kann noch nicht mal richtig gehen! Und einen Bogen fliegen kann er auch noch nicht! Was soll nur aus ihm werden! Tja, ich nehme an, er hat das alles schnell gelernt. Seh ich jetzt die Tauben unten auf dem Rasen oder im Sandkasten ihr Futter suchen, denke ich mir, der Meine wird wohl dabei sein.  Die Tauben bewegen sich fast immer paarweise, manchmal fliegt einer allein herum – ob er das wohl ist? Nach ihrem Federkleid sind hier alle mit einander verwandt, das erkenne ich aus dem Vergleich mit den Tauben am Südbahnhof oder auf der Zeil. Erstaunliche Unterschiede hier wie dort. Aber ein Individuum erkenne ich nicht wieder....

Und wenn ich jetzt rausgucke – vielleicht, während ich auf meinem Ergometer trainiere – dann vergleich ich das Gehen und Stehen zwischen Taube,  Elster, Spatz und zum Beispiel einer Meise, die sich mal hier sehen ließ: jeder Vogel geht und hält sich grundsätzlich anders als der andere.  Die Meise steht sogar sicher und handlungsfähig in der Vertikalen! So schafft sie es auch zu solchen Ästen auf dem dürren Baum, zu denen die anderen Vögel, weil sie nur in der Horizontalen stehen können, keinenZugang haben. Der Unterschied zeigt sich deutlich zwischen Meise und Spatz, der so leicht sein mag wie eine Meise, aber nur horizontal stehen kann.

Das war die Geschichte vom verdorrten Ahorn. Eine Klimageschichte? Übrigens hat es in seiner Nähe schon ein neuer Ahorn auf eine stattliche Höhe gebracht. Bis zum vierten Stock wird er aber noch ein paar Jährchen brauchen.

 

 

 

 

 

Frankfurt, den 26. August

Noch einmal zu SPRACHE UND SEIN von Kübra Gümüşay:

Einfacher wäre wohl ein direktes Gespräch mit der Autorin, wofür ich aber derzeit keine Chance sehe. Wahrscheinlich erfährt sie ja gar nichts von meinem Standpunkt. Schaun wer mal.

*

Im Buch von Kübra Gümüşay „Sprache und Sein“ begegnete mir die folgende Frage mit Antwort: „Ist das Deutsche auch ‚meine’ Sprache? Vermag es auch mich und Menschen wie mich zu enthalten? Die Antwort darauf beginnt mit der Einsicht, dass die Vielfalt, der Facettenreichtum, die Komplexität der deutsch sprechenden Menschen in dieser Sprache, so wie sie heute gesprochen wird, nicht enthalten ist.“

Eine Sprache besteht auch heute aus einer gesprochenen und einer geschriebenen Sprache. Wer sich aber bezüglich der Schriftsprache auf facebook beschränkt, wird an Facettenreichtum und Komplexität gewiss nicht viel finden. Im Deutschen fällt es gerade bei der Literatur auf, dass die Lektoren und Rezensenten Wert auf den Gebrauch der  „literarischen Sprache“ legen, die sich erheblich vom Straßen- und Journalistendeutsch unterscheidet.

Ich fragte mal einen  Spezialisten, ob man nicht einen Kursus entwickeln könne, der im Schnelldurchgang Kinder aus wenig gebildeten Familien sprachlich auf die Ebene der Bildungsbürgerkinder bringen könne? Er schüttelte den Kopf. Ein Fünfjähriger aus einem gebildeten Hause verfügt tatsächlich über einen Wortschatz, der in seinem Umfang offenbar in der weiteren Entwicklung kaum wieder einzuholen ist. Es ist kein Zufall, dass die Anhänger der Schulform „Gymnasium“ diese erbittert verteidigen: nur dort lernen die Kinder noch „gehobenes“ Deutsch. Ich habe mehrmals erlebt, wie begabte Migrantenkinder an der mangelnden Vorbildung scheiterten, aber dann ein „Fachabitur“ machen durften. In dem Unterschied zwischen „Abitur“ und „Fachabitur“ scheint sich die Kluft zu manifestieren, die Frau Gümüşay beklagt.

Warum geht man so vor in deutschen Schulen? Ich denke: um Konflikte zu vermeiden. Wenn man in der Grundschule ein „gehobenes“ Deutsch lehren wollte, für Klassen, in denen SchülerInnen mit extrem unterschiedlichen Basiskenntnissen sitzen, brauchte man wohl mindestens ein Jahr länger, ehe man sie einigermaßen auf dasselbe Niveau gebracht hätte.  Oder zusätzlichen Unterricht. Ich kenne die „DAZ-Szene“ („deutsch als Zweitsprache“) nicht genügend. Doch gehört habe ich mehr als einmal den Ausspruch: Ach, für einen „Ausländer“ (ein Kind, das mit ungenügendem Deutsch zur Schule kommt) ist das doch gut! Offenbar gibt man solchen Kindern bessere Noten, so dass keine sichtbaren Unterschiede entstehen. Eben: Konflikte vermeiden. Das System setzt sich in den Sekundär-Schulen fort – nur offenbar nicht im Gymnasium. In diesem System scheint mir auch Frau Gümüşay gefangen. Denn auf  „Klassenunterschiede“ weist sie in ihrem Buch nicht hin.

Sie beklagt sich, dass Mehrheitsdeutsche sie (und andere) „fremd“ nennen, obwohl sie sich nicht „fremd“, sondern eher zuhause fühlen, d.h. zuhause in ihrem Universum aus türkischer Kindheit mit türkischen  Zärtlichkeiten, islamischen Gebräuchen und deutscher Schule samt Fernsehen und facebook, wie es eben in Deutschland möglich ist. Sie versteht dieses „fremd“ nicht. Sie kennt die verschiedenen Bedeutungen von “fremd“ im Deutschen nicht: wo einer, der mir bisher vertraut war, mir auf einmal „fremd“ vorkommen kann. Wo einer vielleicht „eine fremde Person“ unangemeldet zum sonntäglichen Familienessen mitbringt, einen bis dahin unbekannten  Kommilitonen etwa. 

In jeder einzelnen Sprache blickt der Mensch durch ein anderes Fenster auf die Welt (Dostojewski? Puschkin?). Darum sieht man durch das Türkische etwas anderes als durch das Deutsche. Das Englische. Darum empfindet man sich selber in jeder Sprache ein wenig anders. Was für wunderbare Erfahrungen! Welche Bereicherung! Und jede Sprache lebt, das heißt, sie verändert sich. Wenn ich MICH ausdrücken will, muss ich eigene Mittel dazu finden. Nicht alles lässt sich in Sprache umsetzen (glücklicherweise gibt’s auch Tanz und Musik!).  Es muss verständlich bleiben, potenziell zumindest. Meine Sprache gehört nicht mir, sondern allen: ohne Verständigung bleibt sie sinnlos. „Yakamoz“, das Schimmern des Mondlichts auf dem Meer, lässt sich gewiss nicht in einem Wort wiedergeben, aber Deutschkundige verstehen es in der Übersetzung und können es mitfühlen. Wenn dennoch etwas fehlt – sagen Sie es.

Sprache verändert sich ständig, und wer sich nicht mehr verändern will, der erstarrt und mit ihm seine Sprache, die dann nur noch unter gleichfalls Erstarrten verstanden wird. Wenn Frau Gümüşay sich der deutschen Geschichte, also der Geschichte der Mehrheitsgesellschaft, zuwenden würde, könnte sie möglicherweise einiges  verstehen. Wenn ihr daran gelegen ist. Diese Geschichte enthält auch das Entstehen der Erstarrungen....

 

 

Frankfurt, den 23. August

Zu „SPRACHE UND SEIN“ von Kübra Gümüsay    


Der Titel hatte mich fasziniert. Dazu kamen huldigende Rezensionen - ich kaufte mir das Buch. Vorher hatte ich noch verschiedene Kolleginnen vom „Literaturclub de Frauen aus aller Welt“ gefragt, ob sie nicht mit mir darüber diskutieren möchten? Nein, kein Interesse. Schade. Probier ich es halt allein.

In dem Buch spricht eine junge Deutschtürkin, eine Muslimin, die ein Kopftuch trägt, die viele Jahre in Hamburg, aber auch in England, in der Londoner „School of Oriental and African Studies“, studiert hat, die sich als Journalistin einen Namen gemacht hat, über die diskriminierenden Verhältnisse in Deutschland.  Diskriminierend für Musliminnen und Muslime, für Schwarze und andere Farbige, für viele Arten von Migranten.

Als ich nach dem zweiten Kapitel merkte, dass Frau Gümüsay mit dem Wort „Sein“ nicht seine strenge philosophische  Bedeutung meinte, sondern eher so etwas wie Befindlichkeiten, Reaktionen auf Verhaltensweisen, den Umgang in der Öffentlichkeit usw., legte ich das Buch enttäuscht beiseite. „SPRACHE UND SEIN“ waren in Großbuchstaben gedruckt, und auch das Substantiv „Sprache“ ließ darauf schließen, dass es hier um das deutsche Substantiv „Sein“ ging, und nicht etwa wie bei Hamlets „To be or not to be“ um das Verb,  das sich wie von selbst in „ich bin, du bist, er ist“ auffächert. Wie bringt sie dieses philosophische „Sein“ mit der Sprache in Zusammenhang?, das hatte mich gelockt, und weil sie vielleicht nicht mal ahnte, was sie hier mit ihrem SEIN in Aussicht gestellt hatte, war ich rasch enttäuscht.  Stattdessen: Alltagsgerede.

Nach ein paar Monaten griff ich, in versöhnlicher Stimmung, wieder nach dem Buch. In den folgenden Kapiteln schilderte die Autorin, was sie an hiesigen Umgangsformen häufig auszusetzen hatte: den schrecklichen Rassismus, von dem viele der nicht Betroffenen nicht mal was merkten, die Gleichgültigkeit der „Privilegierten“, Verachtung für Musliminnen und Muslime, und was man sonst an solchen Unzuträglichkeiten in Deutschland antreffen kann. Sie schilderte das im Einzelnen, es war empörend, ja, ich stimmte ihr zu. Wieder legte ich das Buch weg. Ihre Sprache sprach mich nicht an. Zu viele Schlagwörter, zu wenig Inhalt, zu wenig Argumentation. Offenbar ist sie wesentlich auf Facebook u.a. unterwegs, ja, die sozialen Medien scheinen ihr oft den Umgang mit der Welt zu ersetzen.  Auf diesen Medien machen sich aber nicht nur falsche Nachrichten breit, sondern dort werden auch mehr und mehr Menschen persönlich angegriffen, bis hin zu Morddrohungen.  Keine gepflegte Sprache, eher das, was früher in bürgerlichen Begriffen „Straßendeutsch“ genannt wurde, im Lexikon mit „vulgär“ bezeichnet . Auch Logik wird dort anscheinend wenig benutzt. 

Dagegen setzt die Autorin nun eigene Wörter: mir fiel „Absolutheitsglaube“ auf, den sie Leuten vorwirft, die unbedingt noch weiter das „N“-Wort gebrauchen wollen, oder eben all jenen, die was „gegen Ausländer“ haben. Nach meiner Erfahrung handelt es sich dabei aber um Leute, die sich nie Gedanken über „Absolutheit“ machen und über „Glaube“ schon gar nicht. Sie fühlen nur, was immer; fragt man sie, ob sie Angst haben, und wenn ja, wovor, dann weisen sie alles zurück. Sie „wissen“ aber, dass „Ausländer“ hier nicht hingehören, oder  so was. Ich würde das „Vorurteile“ nennen.  Wenn man ihnen sagt, dass das „N“-Wort die Betreffenden verletzt, können sie sich das nicht vorstellen. „Sich etwas nicht vorstellen können“ heißt meistens aber auch: sich nicht dafür interessieren. Wenn ich das hinzufügte, sah ich oft ein Achselzucken: warum sollte ich. Heute erlebe ich das  seltener – immerhin. Die Botschaft ist angekommen. Was nicht heißt, dass sie befolgt wird. Es heißt nur: das darf man nicht sagen.  Woraus dann andere folgern: man will uns Sprachverbote erteilen! Diktatur!!    -  Wo es doch bloß um Rücksicht und Respekt geht. Früher lernte man das als Kind und zuhause. Wirklich? Waren nicht „Diener“ und „Knicks“ für bürgerliche Kinder viel bedeutsamer als „Rücksicht“?  Nahm jemand Rücksicht auf die Kinder? Aber da gerate ich wohl in meine Großmutter- oder Urgroßmutterwelt.....

Kübra Gümüsay, 1988 in Hamburg geboren, geht vermutlich nur von der Welt aus, die sie als Kind türkischer Eltern in Deutschland kennengelernt hat.  Doch vermute ich, das Hamburg für Migrantenkinder schon Privilegien gegenüber anderen deutschen Orten bietet. Ich habe von 1959 bis 1991 in Luxemburg gelebt. Dort fühlte ich mich manchmal als Deutsche ausgeschlossen, manchmal und nur ganz sachte. Kein Vergleich mit Deutschland.

Anders ging es mir mit meinem Frausein.  Als Mädchen wurde ich gewissermaßen von Geburt an diskriminiert: „Der erste Junge wird immer ein Mädchen“ hieß es da, nicht ohne Schadenfreude; glücklicherweise für meine Eltern kamen noch drei Jungen nach. Auf sie musste ich, so lange sie klein waren, oft aufpassen. Auch  musste ich selbstverständlich beim Putzen im Haushalt helfen, meine Brüder nie. Ich durfte Abitur machen wie sie, doch wagte ich nicht, ans Studieren zu denken. Ich besuchte das Saarbrücker Dolmetscher-Institut an der von den Franzosen gegründeten Universität des Saarlandes, wo die Studiengebühren, solange im Saarland noch die französische Währung galt, etwa 150 Mark im Jahr betrugen – die konnte ich selbst verdienen. Als die Deutschen die Uni übernahmen, musste ich für das letzte Studienjahr nach deutscher Sitte einen Kredit aufnehmen! Den hat dann später mein Mann zurückgezahlt, weil ich als Ehefrau selbstverständlich kein eigenes Einkommen hatte.

Und dennoch: heute fühle ich mich privilegiert, dank eigener Rente, dank weitgehender Selbstbestimmung. Auch Frau Gümüsay hat sich beruflich und offenbar auch persönlich emanzipiert. Ich gratuliere. Was ich nicht verstehe, ist ihr Schreiben. Immer wieder und allzu oft ein „wir“, dessen Zugehörigkeiten sich ständig verändern, also immer wieder was anderes bedeuten, ohne dass ich weiß, was.  Ich fühle mich fast nie zugehörig – ich gehöre nicht zu den Gruppen in der Bevölkerung,  an die sich das Buch offenbar richtet, während es alle andern in einem fort beschimpft. Ich gehöre zu denen, die beschimpft werden. So facebookmäßig, würde ich mal sagen, obwohl ich mich von Facebook fernhalte, nicht „vulgär“.  Aber ich gehöre doch zu jenen, deren Verhalten sich ändern, sich verbessern  sollte, nach Meinung der Autorin? Für die interessiert sie sich aber gar nicht.   WILL sie „uns“ erreichen?

 

Kübra Gümüsay: SPRACHE UND SEIN, erschienen 2020 bei Hanser, Berlin

 

Anmerkung: mein Kommentar soll nur ein Anfang sein. Ich habe meine ersten Eindrücke geschildert; doch habe ich auch bemerkt, wie wichtig der Autorin ihre Worte sind, ihre Wahrnehmungen, und möchte ihr Gerechtigkeit zuteil werden lassen. Ich werde mich neu in das Buch vertiefen und beim nächsten Mal von meinen  Erfahrungen berichten.

 

Frankfurt, den 19. Juli

Beim Aufräumen in meinem Computer stoße ich auf einen Leserbrief, den ich im Mai an die taz geschickt hatte, der aber nicht abgedruckt wurde. Vielleicht lag das daran, dass der Satz, an dem ich Anstoß nahm, nicht von der taz-Redaktion verantwortet wurde, sondern von der Amadeu-Antonio-Stiftung. Amadeu Antonio war ein Schwarzer, der in einem deutschen Polizei-Gefängnis gestorben ist, mutmaßlich unter Mithilfe der Polizisten. Nach ihm wurde ein Verein benannt, der sich besonders um die Bekämpfung von Rassismus und Antisemitismus kümmert. Der warb am Wochenende vom 29./30. Mai in der taz für sich mit folgendem Slogan:

„CORONA IST KEINE EINBILDUNG – RASSISMUS UND ANTISEMITISMUS AUCH NICHT.“

Ich schrieb:

"Mein Kommentar: Falsch!

Was ist daran falsch? Sie können alle drei töten – aber aus sehr verschiedenen Gründen.

Corona ist ein Virus und keine Einbildung, richtig. Aber Antisemitismus und Rassismus sind Einbildungen. Sie stützen sich  auf Vorurteile, auf Erfindungen, auf bösartige Aussagen. Und sie haben Tradition. Das macht sie nicht wahrer.

Gegen Corona hilft Impfen. Gegen Antisemitismus nicht. 

Was hilft gegen Antisemitismus?

Dasselbe wie gegen andere Verschwörungsfantasien: hinschauen, lernen, wissen. Der Gebrauch der eigenen Vernunft. Gespräche mit den Mitmenschen, immer wieder Gespräche: zuhören, zuhören, erwidern, zuhören. Sich mit dem andern einlassen und das gleiche von ihm verlangen.

Dagegen hilft nicht: Verbieten.

Ich weiß nicht, was gegen Antisemitismus und Rassismus hilft. Aber müssen wir nicht um so dringender DARÜBER nachdenken?

Barbara Höhfeld, Frankfurt am Main."

 

 

Wurde nicht gedruckt.

 

Frankfurt, 7. Juli

Vor anderthalb Wochen las ich in der taz ein langes Gespräch mit einem "Trans-Mann". So bezeichnet man eine ehemalige Frau, die beschlossen hat, ein Mann zu werden und dafür auch medizinische HIlfe in Anspruch nimmt. Dieser Mann hatte nun grade sein zweites Kind bekommen. In dem Gespräch behauptet er, dass dies eben für ihn natürlich sei und dass man das Schwangerwerden nicht mehr allein von Frauen erwarten müsse.

Damit wird, nach meiner Überzeugung, das Frausein ihres Kerns beraubt - logischerweise das des Mannseins auch, was aber nicht der Meinung dieses Trans-Mannes entspricht. Herr Masch ist sein Name. Er IST ein Mann, nach seiner Überzeugung.

Ich habe gerade einen Leserbrief dazu an die taz geschickt; zweifle aber, dass er veröffentlicht wird. So stell ich ihn auch in mein Webtagebuch. Nach meiner Meinung gibt es zwischen den Polen "Mann", "Frau", "Zwitter" eine unendliche Zahl von Varianten. Dass der sogenannten Männlichkeit politisch so viel mehr Gewicht zugeschrieben wurde, ist überall auf dem Globus zu finden, doch zeigt es sich heute als Sackgasse für die ganze Menschheit.

Hier mein Brief, leicht verändert:

Eiken Bruhn im Gespräch mit Daniel Masch

taz vom 19./20. Juni 2021

Liebe taz, liebe Frau Bruhn,

könnte, sollte der ganze Komplex nicht auch unter dem Gesichtspunkt der Sprache gesehen werden?

„Mutter“ ist ein Nomen, ein Name – und überall auf der Welt bezeichnet er eine Beziehung: die Beziehung vom Kind zu der Frau, die es geboren hat, oder notfalls zu einer Stellvertreterin, bzw. von Mutter zu Kind. „Vater“ bezeichnet das  gleiche für den Mann, der zur Entstehung des Kindes seinen Teil geleistet hat, oder notfalls für seinen Stellvertreter. Auch  heißen „Frau“ alle Menschen, die, rein biologisch gesehen, die Voraussetzungen mitbringen, um ein Kind in ihrem Leib entstehen, in neun Monaten heranwachsen zu lassen und danach noch eine Weile aus ihrem Leib ernähren zu können.

Herr Masch, der zwei Kinder geboren hat, denn er ist ein „Trans-Mann“, nennt zwar im Gespräch seine Mutter noch immer „Mutter“, fühlt sich selbst aber „der Gruppe nicht zugehörig“. Und  will keinesfalls „Mutter“ heißen.  Nach seiner Überzeugung kann jeder Mensch gebären, unabhängig davon, ob er „Mann“ oder „Frau“ sei. Die Gebärfähigkeit sei eben „natürlich“ bei ihm, und  könne ebenso natürlich bei anderen „Männern“ auftreten.

Möchte er demnach  das Wort „Frau“, das Wort „Mann“, das Wort „Mutter“ in ihrer weltweiten Bedeutung in allen Sprachen abschaffen? Dass er sich seine eigene Sprache schafft, ist ihm demokratisch freigestellt. Nur: Sprache gehört keinem Menschen allein. Sprache setzt Beziehungen voraus. Erst in der jeweiligen Beziehung ergibt sich zwischen Sender, Empfänger und Inhalt diejenige Bedeutung, die verstanden wird. Ein solches Verständnis kann auch ohne weiteres von dem abweichen, was der Sender gemeint hat.  Wird es in diesem Fall nicht  bestenfalls beim Empfänger bzw. bei der Empfängerin, auf ein Achselzucken hinauslaufen? Wenn ich als Frau etwa lese: „Stillen ist echte Arbeit!“, dann denk ich mir: tja, man muss wohl als Mann rumlaufen, damit das geglaubt wird. Einer Frau glaubt das eben keiner.

Wir alle wissen, dass sich hinter den Worten „Frau“ oder „Mann“ vielfältige Rollenbilder verstecken, zahllose Signale weisen auf das eine oder andere hin. Nicht zuletzt  hängen politische Machtpositionen davon ab, ob man zur einen oder zur anderen Gruppe gezählt wird. Machtpolitisch ist es auch heute noch günstiger, als Mann aufzutreten. Für einen Mann wäre die Bezeichnung „Mutter“ in dem Zusammenhang eher kontraproduktiv.

Die Bezeichnung „Mann“ hält Herr Masch hingegen aufrecht.  Genügt also für einen „Mann“ die Bezeichnung „Mensch“ nicht?  Wozu braucht Herr Masch die Bezeichnung „Mann“ überhaupt noch?

Mir bleibt außerdem die Frage offen: was stellt sich ein weiblicher Mensch unter einem „Mann“ vor,  wenn er sich darauf festlegt, ein solcher  mit medizinischer Hilfe zu werden? Was ein männlicher Mensch im entsprechenden Fall  unter einer „Frau“?  Das hat mir noch niemand erklären können.  Als alte Frau weiß ich, was so alles von mir als  Mädchen verlangt wurde, und worauf ich mich bloß zum  Teil eingelassen habe. So  kann ich „unbeschreiblich weiblich“ nur als Spott verstehen.  

Es gab mal einen wunderbaren Schauspieler, der sich „Mary“ nannte und auf der Bühne mit viel Geist und Witz als „Frau“ auftrat. Mary war die eleganteste Frau, die ich kenne. Genügt Eleganz, um Frau zu sein?  Die berühmte nigerianische Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie hörte ich in einem Vortrag sagen: „Ich bin eine Frau, denn ich habe Kinder.“ Aus ihren Worten klang etwas wie ein stilles selbstgewisses  Lachen.  Das kam von der Freiheit, die sie als Schriftstellerin und als Frau gefunden hat.

 

 

 

 

 

 

 

Frankfurt, den 28. Juni

Was geschieht? Vor allem: meine Beine werden schwächer, allen Übungen und Therapien zum Trotz. Damit brauche ich für alle Wege länger, sie werden mühsamer, oft schmerzhaft. Was ist der Grund? Von den Ärzten höre ich keinen; wenn ich ihnen von der "Polyneuropathie" sprechen, die mir vor langen Jahren diagnostiziert worden war, anworten sie nicht oder sprechen von was anderem: von Rheumatologie zum Beispiel. Ich nehme jetzt Cortison  in sehr schwacher Dosierung, dadurch wird es insgesamt etwas besser.

Dennoch bewegt sich mein Kopf noch, läuft in vielen vertrauten Bahnen, erkundet neue Wege. Ein junger Student ordnet mir einen Teil meiner Bibliothek digital, was bedeutet: er speichert Titel und Autor und was man sonst so braucht und räumt die Bücher entsprechend neu ein. Zumindest kann man so nachschauen, was in dem Regal steht - die Bücher stehen in zwei Reihen hintereinander! Man kann Titel finden, was bisher fast unmöglich war.

Was denken die Ärzte? Nun, ich stelle mir vor, dass sie sich nicht festlegen wollen auf das, was mich erwartet, weil es sich sowieso bei jedem etwas anders äußert. Und darum haben sie mit ihrem Schweigen ja auch recht. Schlimme Dinge kann ich mir allein ausmalen. Stattdessen genieße ich jeden Tag dieses außergewöhnlichen Sommers mit seiner Hitze, seinem Regen, seinem prächtigem Grün überall; ich genieße die Begegnungen mit Freunden, Bekannten, und vor allem mit meiner Familie. Trotz Corona konnte nämlich meine Tochter aus Paris mich mehrmals besuchen - für Verwandte ersten Grades ist das und war es seit einem halben Jahr erlaubt  - nach anderthalb Jahren kam auch meine israelische Tochter, kam  mein Enkel, der in Hamburg Piano studiert, kommt nächste Woche mein anderer Enkel aus Israel. Und ich führe auch lange, intensive Telefongespräche - mehr als früher.

Corona hat einen neuen Sinn für Ruhe unter den Leuten entwickelt. Sie reden jetzt viel mehr miteinander, sie verfallen nicht mehr automatisch in hetzende Bewegungen. Wie wohltuend! Es wird auf einmal diskutiert! Ich höre es im Vorbeigehen, merke es an den Stimmen, an den Stimmlagen. Während sich auf der Bistroterrasse neben meinem  Haus früher Tischrunden fanden, bei denen in regelmäßigen Abständen eine Männerstimme einen Witz erzählte, worauf die Frauen in meckerndes Lachen verfielen, hab ich dieses Gelächter jetzt, wo die Terrassen wieder offen sind, noch nicht ein einziges Mal gehört. Komme ich aber dort vorbei, ist die Runde viel größer geworden, und es wird lebhaft diskutiert.

Außerdem lese und schreibe ich viel. Werde grundlegender. Meine jüngeren Leserbrief an die taz wurden nicht mehr gedruckt - sie gehen wohl zu weit oder werden als zu einseitig angesehen. In der  taz gibt es jetzt schon eine Kolumne unter der Bezeichnung "Unisex".  Wahrscheinlich gehöre ich jetzt zu den Fundamentalfeministinnen, die "Frauen" nicht von unzähligen "Diversen" (wohl überwiegend biologische Männer) zu einer Minderheit herabsetzen lassen wollen. In diesem weitläufigen Rollenspiel gehen auch die Kinder völlig unter. Das hat man bei den Corona-Maßnahmen gemerkt: für Kinder gab es nur Verschiebemaßnahmen - Homeoffice für Eltern war jedenfalls wichtiger, und die Frauen mal wieder doppelt und dreifach belastet. Lüftungsgeräte für Schulklassen werden nächsten Herbst noch immer keine da sein, weil die Länderfürsten ihr Geld lieber für was anderes ausgeben. Haarsträubend!  Eine Schule darf Lüftungsgeräte nicht einmal anschaffen, wenn die Eltern sie bezahlen würden! Unbegreiflich. Manche wollen Kinder möglichst schnell auch impfen, damit die Erwachsenen ihre Ruhe haben.

Ach, hör auf zu jammern.

Jetzt muss ich unbedingt einkaufen gehen. Nächstes Mal werde ich konstruktiver.

 

 

 

 

Frankfurt, den 8. Juni

Gestern  las ich einen seltsamen Satz in der  taz: „Die Boomer können noch digital von analog unterscheiden, weil sie nicht damit aufgewachsen sind.“ Der Schreiber zählte sich offenbar schon zu der nächsten  Generation, die das nicht mehr kann. Was sind „Boomer“? Ich nehme an, dasselbe wie „Babyboomer“, so nannten sie in Amerika die Leute, die wieder mehr Kinder kriegten – ich glaube, das war mindestens eine Generation nach mir. Ich gehöre nicht zu den „Boomern“, aber digital  von analog unterscheiden, das kann ich freilich noch heute.

Die Jüngeren können das also nicht mehr. Nun behaupten sie, Covid und Antisemitismus seien dasselbe. Das wäre eine Erklärung, und ich bin nach einigen Zweifeln froh, dass ich  gestern hier geschrieben habe, was da steht. Antisemitismus und Rassismus sind  tatsächlich „Einbildungen“!  Wirklichkeit werden nur die Folgen dieser Einbildung. Mich hat beim Schreiben die Überzeugung geleitet,  dass Hexen nur so lange verbrannt wurden, als man glaubte, dass es Hexen gebe. Das war lange genug. Dauert die Judenfeindschaft indessen nicht schon viel länger? Ein Grund mehr, darauf zu bestehen: Sie beruhte schon immer auf Einbildung.

Auch auf Neid, würde mancher sagen. Ist Neid denn keine Einbildung? Nein, Neid ist ein Gefühl, das jeder kennt. Ein Gefühl  wie Trauer, Wut oder Liebe. Teil des Menschen. Neid gehört zu den bösen Triebkräften, oder denen, die es zu überwinden heißt.  Umwandeln in Interesse. Seinen Verstand benutzen und sich zum Beispiel fragen; wie manche Juden es anstellten, superreich zu werden. Heute werden auch Nicht-Juden superreich – weil sie sich vermutlich eben diese Frage beizeiten gestellt haben.  Ich bin nicht superreich, weil es mich nie interessiert hat. Jeder braucht Geld, um zu leben,  wirklich jeder. Aber „Reichsein“ ist was anderes.

Eine Freundin hat mir das Foto von ihrem Enkel geschickt, der ein schwarzes Küken in der Hand hält. Ob diese Kinder, ob die heutigen Kinder wieder „analog“ von „digital“ unterscheiden lernen? Ein Küken in der Hand mag es sie lehren. Hoffnung erlaubt.

 

 

Frankfurt, den 6. Juni

„CORONA IST KEINE EINBILDUNG – RASSISMUS UND ANTISEMITISMUS AUCH NICHT.“

Diesen Satz fand ich am Wochenende vom 29./30. Mai in der taz; er stand in einer Beilage der Amadeu-Antonio-Stiftung.

In einem Leserbrief dagegen zu protestieren, wird nicht reichen, denke ich, weil man den Brief vermutlich nicht drucken wird. Ich will mich hier nicht in Vermutungen verlieren - das ist, was ich schreiben würde und hier schon mal schreibe:

"Falsch!

Was ist daran falsch?  Alle drei können sie Menschen töten, das stimmt. Jedoch:

Wohl ist Corona ein Virus und keine Einbildung, aber Antisemitismus und Rassismus sind Einbildungen! Sie stützen sich  auf Vorurteile, auf Erfindungen, auf bösartige Aussagen. Und sie haben Tradition. Das macht sie nicht wahrer.

Gegen Corona hilft Impfen. Gegen Antisemitismus nicht. 

Was hilft gegen Antisemitismus?

Dasselbe wie gegen andere Verschwörungsfantasien: hinschauen, lernen, wissen. Der Gebrauch der eigenen Vernunft. Gespräche mit den Mitmenschen, immer wieder Gespräche: zuhören, zuhören, erwidern, zuhören. Sich mit den andern einlassen und das gleiche von ihnen verlangen: zuhören.

Dagegen hilft nicht: Verbieten.

Ich weiß nicht, was gegen Antisemitismus und Rassismus hilft. Aber müssen wir nicht um so dringender DARÜBER nachdenken?"

Der taz werde ich den Eintrag "zur Information" schicken!

Frankfurt, den 4. Mai

Wieso hab ich eine so lange Pause gemacht? Seit April, eine Woche nach Ostern, bekam ich  Bauarbeiter ins Haus. Meine Badestube wurde erneuert - ein "altersbedingter Umbau", wie das heute so heißt, d.h. man ersetzt die Wanne durch eine Dusche. Wegen des hohen Alters habe ich auch alles andere erneuern lassen - die Kacheln und Fliesen, die Heizung, das Waschbecken. Nur die Tür blieb und auch die kleinen Metallregale, die mir einst Freunde von Pascale, also Künstler geschaffen hatten. Bertram von der Düsseldorfer Kunstakademie hatte die Regale entworfen, zusammengeschweißt und bemalt - ich finde sie unverändert schön, und sie machen auch jetzt recht was her. Ebenso die Innenseite der Tür: Nathalie Zlatnik aus Luxemburg von der Wiener "Angewandten" (Hochschule für angewandte Kunst) bemalte vor 20 Jahren diese gewöhnliche, furnierte Holztür über die ganze Fläche mit einer wunderschönen Melusina, die über sich die Wasseroberfläche, mit Segelschiff, Wind, Sonne und Wolken hat und dazwischen noch die Vision des Paradieses mit Adam und Eva von Holbein. Mein Bad ist jetzt sehr viel heller geworden als vorher. Dennoch muss ich mich erst dran gewöhnen....

Vor allem auch, weil ich seit einiger Zeit immer schlechter gehen kann. Woran liegt das? Ist es nur Arthrose oder auch eine Neuropathie? Über eine solche reden die meisten Ärzte nicht gern - ich habe aber schon einen Termin beim Neurologen.  Immerhin - in meinem Alter - ich will nicht klagen.

Zum Umbau des Bades bot mir der Installateur eine Toilette mit  "Bidetfunktion " an.  Für  beides, Toilette und Bidet, reichte der Platz nicht. Dabei lernte ich: wenn Männer von einem "Bidet" reden, meinen sie etwas anderes als Frauen. Ein Bidet, so hatte ich einst in Frankreich entdeckt, erlaubt Frauen, ihren gesamten Schambereich gründlich und bequem zu waschen, mit warmem und kaltem Wasser., ohne sich auszuziehen. Für diesen Zweck wurde es erfunden - eine Waschschüssel nur für Frauen! In Deutschland kannte man  das nicht. Frauen wagten gar nicht, an so etwas zu denken. Offenbar gilt das immer noch: wenn ein Mann in Deutschland von einem "Bidet" redet, dann meint er eine Vorrichtung, mit der er seinen Anus, auch ohne sich auszuziehen,  mit Wasser waschen kann. Mehr nicht.  Mehr geht auch bei dieser "Bidetfunktion" nicht. Ja, hier gibt es noch den eindeutigen Unterschied zwischen Männern und Fraunen, nicht nur beim Kinderkriegen! Und wird gern ignoriert.

Heutige Feministinnen sprechen von Menschen, "die schwanger werden", und für die sie gleiche Rechte wie für Menschen, die nicht schwanger werden, fordern. Falls da wirklich ein Kind bei rauskommt, soll im Prinzip der Staat sich drum kümmern. So wie es die Männer auch oft genug halten. Nur wer will, behält sein Kind.... Das stand so in der "taz", ich hab es selbst gelesen.

Gewiss, heute kann man allerlei Seltsames lesen. Die klügste und weiseste Erwägung, die mir zu Anfang der Corona-Pandemie begegnete, war diese: dass öffentliche Sprecher in einem solchen Fall zuoberst und zu allererst bedenken müssen, wie man die öffentliche Ordnung bewahrt, wie man Aufruhr und Panik verhindert. Das haben unsere Bundes- und Landes-Regierungen recht gut geschafft, finde ich, und dabei föderalistisches und demokratisches Verhalten immer noch geschützt!  Derzeit wird, seit einem Monat und es wird noch einen zweiten Monat so weitergehen, öffentlich überlegt, wie man "doppelt Geimpften und Getesteten" ihre Grundfreiheiten zurückgibt. Eine rechtschaffene Frage, wobei wenig beachtet wurde, wie Kellner und Köche vorrangig  geimpft werden müssten,  damit Restaurants, und sei es auch nur draußen, wieder Gäste empfangen dürften. Was ja für alle Dienstleistenden gilt, oder gelten müsste. Und auch erst seit kurzem wird überhaupt genügend Impfstoff geliefert. Nörgeln,schimpfen, protestieren - alles erlaubt! Wir leben doch in einer Demokratie. Aber Denken ist auch erlaubt. Das ist etwas, das mir auffällt, wenn ich durch die Straßen gehe: Menschen, die sehr konzentriert miteinander reden, kein Smalltalk mehr, sondern  über Themen, die sie angehen, die sie interessieren. Am Tonfall der Stimmen erkenn ich  das. Es scheint mir das Schönste an Corona zu sein: sie schenkt mehr Zeit zum Nachdenken, und viel nutzen es. Und merken: auch Fragen und Zuhören sind Teil des Nachdenkens.

Hoffentlich machen bald die Geschäfte wieder auf.

 

 

 

 

 

 

Frankfurt, den 22. März

Am gestrigen Eintrag musste ich eine Änderung vornehmen, weil ich mich geirrt hatte. Levinas hat zwar zunächst in Straßburg studiert, ist aber später auch an der Uni Freiburg im Breisgau gewesen, also in Deutschland, und dort begegnete er Husserl und auch Heidegger, die ihn beide sehr beeinflussten, wie die Spezialisten erklären. Das werde ich in den nächsten Monaten dann näher kennenlernen.

Straßburg, die Hauptstadt des Elsaß, hat eine hybride Geschichte, was die Nationalität angeht. Bis 1686 gehörte die Region zum Reich, d.h. war Teil des sogenannten Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation; doch dann wurde die Gegend von Ludwig XIV. annektiert und blieb französisch bis 1871, wo sie vom 2. Deutschen Reich seinerseits annektiert wurde. Das dauerte bis 1918, dann wurde das Elsaß wieder französisch und ist es bis heute geblieben. Die elsässische Sprache hingegen, ein deutscher Dialekt, hat sich bis heute gehalten, ja, man kann sagen, das Elsaß ist zweisprachig. Von Paris aus gesehen, ist es nie so richtig französisch geworden, von Deutschland aus gesehen, fühlt man sich ein bisschen verwandt. Eigentlich: eine ur-europäschie Landschaft!

Eine Folge dieser Ereignisse war die Geschichte der Juden. Im Reich hat es seit der Römerzeit Juden gegeben, sie wurden nach und nach deutsche Juden, auch mehrsprachig. In Frankreich dagegen wurden seit dem 13. Jahrhundert alle Juden vertrieben. Mit den Eroberungen der französischen Könige, insbesondere Ludwig XIV.,  wurden aber Gegenden wie das Elsaß oder wie der Vatikanstaat um Carpentras (Provence) dem französischen Königreich einverleibt, und sowohl der Vatikan wie das Reich hatten ihre Juden nicht vertrieben (nur zeitweise verfolgt, sei um der Wahrheit willen hinzugefügt). Ludwig XIV. tat das auch nicht, es interessierte ihn nicht. Der Judenhass der katholischen Kirche war indes nicht verschwunden, er hielt sich auch bei Adel und Militär, und so kam es am Ende des 19. Jahrhunderts in Frankreich zu der "Dreyfuss-Affäre". In der französischen Republik hatte es der jüdische Elsässer Dreyfus zum Offizier, zum Mitglied des französischen Generalstabs gebracht, und wurde plötzlich, von Militär und Kirche verleumdet, wegen "Landesverrat" verurteilt, entehrt und auf eine Strafinsel verschickt. Zehn Jahre kämpften überzeugte Republikaner wie Emil Zola um seine Rehabilitierung, und sie gelang zuletzt. Heute hetzen auch in Frankreich die extrem Rechten, die Nationalisten, wieder gegen Juden.....

 

Frankfurt, den 21. März

Frühlingsanfang.... Zu Mittag lugt die Sonne hervor, verschwindet, kommt wieder und treibt das Thermometer ein weniges über 10°C hinaus. Ich sehe eine Botschaft: Frühling ist unterwegs!  Oder wie Möricke schrieb: „Und dräut der Winter noch so sehr / mit trotzigen Gebärden / und streut er Eis und Schnee umher / es muss doch Frühling werden!“

Nächste Woche wird die Flora explodieren! Und die Vögel werden singen! Es lebe das Rotkehlchen!

Ich habe einen wundervollen Aufsatz über „Levinas und die Aufklärung“ gelesen. Vor einiger Zeit, als man noch Seminare besuchen konnte, erlebte ich, dass eine Frau (mittleren Alters) mit einer von Empörung gestärkten Stimme erklärte, dass „Aufklärung“ ganz schlimm und total falsch sein. Ich war perplex, ich verstand das nicht. Aufklärung war für mich immer die „Befreiung aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit“ (Kant).  Unmündig sind all jene, die Anderen die Verantwortung für sich überlassen  (das gilt natürlich auch für die Frauen, welche selbst Kant noch in einer faktischen Unmündigkeit verbleiben ließ). Jedes Kind hat Vernunft mitbekommen und lernt, sie zu gebrauchen, wenn es nicht daran gehindert wird.  In dem Aufsatz eines Professors von der südböhmischen Universität Budweis (1)  begriff ich zum ersten Mal, wie jene Frau in dem erwähnten Seminar zu ihrer Auffassung gekommen sein mochte: nämlich dann, wenn man die Vernunft vergöttert oder einzelne Menschen sich selbst vergöttern, wie derzeit Erdogan, der glaubt, eine „Familie“ wäre nur zu haben, wenn die Frau und Mutter verprügelt werden darf, notfalls ermordet!  Wenn so was unter „Vernunft“  liefe, dann wär sogar ich dagegen.  (Läuft es aber nicht, und so bin ich jederzeit dagegen!)

Dem südböhmischen Professor geht es um den Philosophen Emmanuel Levinas (1906 – 1995), der, ein geborener Litauer, dessen  Abitur eines dortigen  jüdischen Gymnasiums in Deutschland nicht anerkannt wurde (!), nach Strasburg studieren ging. Dort  studierte er Philosophie und fühöte sich zuhause. Später studierte er auchin Freiburg im Breisgau, wo er auf Husserl traf, einen Philosophen, der die „Phänomenologie“ ausarbeitete, die Levinas, nachdem er 1918 Franzose gewprden war, weiter entwickelte.  Sein Thema wurde nicht (wie in vielen anderen Philosophien, aber wohl nicht in der Phänomenologie) das Subjekt oder die  Beziehung Subjekt-Objekt; nein, er stützte sein ganzes Menschenbild auf die Beziehung zum „Anderen“, dem Nicht-Ich, dem gänzlich Fremden.  Ja, er entwickelte daraus „ein Drittes“.  So schreibt er: „In dem Maße, indem das Antlitz des Anderen uns mit dem Dritten in Beziehung setzt, nimmt der metaphysische Bezug von mir zum Anderen die Form des Wir an, zielt er auf den Staat, die Institutionen, die Gesetze, die die Quelle der Universalität sind.“ (Und dieses "Wir" wäre dann das "Dritte".)

In dem privaten Philosophiekreis, in dem ich noch immer Mitglied bin, fangen wir an, von Levinas zu hören und zu sprechen.  Es sieht für mich so aus, als setze dieser die Aufklärung insofern fort, als er ihr neben der Vernunft ausdrücklich auch die Ethik zur Seite stellt, die ja schon Kant nicht leugnete, sondern nur als selbstverständlich voraussetzte.  Ethik ist Teil des Menschseins, genau wie die Vernunft!

(1) Dr. Jakub Sirovátka, Professor für Philosophie an der südböhmischen Universität von Budweis. Sein Text steht in der „Zeitschrift für christlich-jüdische Begegnung im Kontext“ 3/2020 (früher: „Freiburger Rundbrief“).