KRIEGSTAGEBUCH: RELIGION UND KONFLIKT

Frankfurt, den 6. März

Die Genehmigung habe ich erhalten und noch immer weiter nachgedacht. Es geht um vieles in diesem Artikel; vor allem aber darum, dass sich die israelischen Juden untereinander, ob religiös oder nicht religös, auf einen grundsätzlichen politischen Standpunkt einigen, den Mordechai Beck hier umreißt.

Aus der israelischen Zeitschrift  THE JERUSALEM REPORT vom 12. Februar 2024:

 "KRIEGSTAGEBUCH: RELIGION UND KONFLIKT
Mordechai Beck

Viele fragen sich, welche Rolle bei den gegenwärtigen Widrigkeiten eigentlich die jüdische Religion spielt? Gewiß, wir alle hören die Behauptungen der Messianisten, von denen ein paar jetzt an die Öffentlichkeit treten und sogar dem Kriegsregierungs Kabinett angehören. Sie berufen sich auf zuverlässige Quellen: sie zitieren aus Texten, die vor 2000 Jahren und mehr geschrieben wurden. Nach ihrer Meinung hat der jetzige Krieg eine stark eschatologische Dimension. Sie zitieren aus Jesaja, aus den Sprüchen Salomons, den Psalmen, aus dem Buch Daniel und vielem anderen, um ihre Behauptungen zu „belegen“. Gott ist offensichtlich auf ihrer Seite, das steht außer Zweifel. Die Leute, die solche Behauptungen aufstellen, sind im allgemeinen keine Rabbiner, sondern haben in israelischen „Jeshivot“ (religiöse Schulen in streng religiösen Gemeinden, d.Ü.) studiert, wo sie mit solch vorwärtsstrebenden Ideologien in Kontakt kommen, durch die sie sich auf den allerletzten Krieg gegen die Mächte des Bösen vorbereiten: Gott und Magog.
Aber wo waren oder sind die Rabbiner? Die übergroße Mehrheit von ihnen scheint verschwunden zu sein. Nur wenige haben sich öffentlich gegen die sog. „Hügeljugend“ (hilltopboys) ausgesprochen, die täglich Akte der Verwüstung gegen unsere arabischen Nachbarn ausübt, besonders in der Westbank, aber nicht ausschließlich dort. Dazu gehören Raub von privatem Land, das Ausreißen von Bäumen, das Verbrennen von Autos, und im allgemeinen: den Bewohnern das Leben unerträglich machen. Die meisten von diesen besitzen schriftliche Grundeigentumsnachweise und keiner von ihnen hatte 1967 um Invasion gebeten. Ich selbst verbrachte einige Zeit mit diesen Menschen, Schäfern, die nur ihre Herden weiden lassen und nicht von TeenageEiferern erschreckt werden wollen, die sie im Namen unserer Religion unprovoziert angreifen. Wo sind die Rabbiner, die sich öffentlich gegen diese täglichen Vorkommnisse aussprechen können? Welche doch sicherlich unter die Kategorie von hillul Haschem fallen (Entweihung des Gottesnamens)? Wo sind die wütenden Propheten von einst, die solch schändliches Benehmen in die Tagesnachrichten bringen würden? Wo sind die Medien, die darüber berichten? Freilich gibt es Gruppen wie die „Rabbiner für Menschenrechte“, doch sind sie überwiegend nicht orthodox und haben wenig Macht über diese jungen Fanatiker, die oft noch von Armee und Polizei unterstützt werden, ganz zu schweigen von den Politikern, die ihr Draufgängertum bewundern. Das orthodoxe Rabbinat hat es im Großen Ganzen bisher erbärmlich verpasst, sich gegen diese Mini-Räuber zu äußern, die bei ihren schäbigen Aktivitäten noch von Leuten wie Ben-Gvir und Smotrich bestärkt werden, ihrerseits begeisterte Schüler des verstorbenen, in Amerika geborenen Propheten des Untergangs, Rabbi Meir Kahane. Beugen sich alle übrigen unter der Angst vor physischer Rache, oder – ich will gar nicht daran denken! – stimmen sie etwa mit den Gefühlen dieser Jugend überein, oder gar ihren Methoden zu? Wenn dieser Krieg einmal endet, falls er endet, werden die orthodoxen Rabbiner Rechenschaft ablegen müssen für ihren rückgratlosen Mangel an Reaktion, nicht nur vor dem Gericht oben im Himmel, sondern auch vor den Bürgern hier unten.

Möglichst billig
Eine der Charakteristiken von Benjamin Netanyahus Regime ist sein Streben, seine Ziele möglichst billig zu erreichen. Nachdem er sah, dass die PA, die palästinensische Autonomiebehörde (in der Westbank, d.Ü.), schwach und korrupt war, und es ihr nicht gelang, bei den demokratischen Wahlen in Gasa 2005 eine Mehrheit zu erringen, fand er Wege, die PA weiter zu schwächen, indem er z. B. Gelder, die ihr versprochen worden waren, teilweise oder ganz strich, oder sich weigerte, sich mit ihr zusammen zu setzen, um Probleme zu lösen, oder indem er die neue Hamas-Regierung unterstützte, vermutlich in der Annahme, dass sie die wahre Macht innerhalb der Palästinensischen Gemeinschaft war, und dass er – der Mr. Power - sie deshalb unterstützen sollte. Dieses tat er sehr effektiv all die Jahre seiner Herrschaft, er gab ihr sogar dann noch Geld, als sie ihre Versprechen brach, etwa, dass sie im Gazastreifen freie Wahlen abhalten würde. Sie nützte Bibis Großzügigkeit, um eine gewaltige und komplexe Untergrund-City aus Tunneln zu bauen, deren Umfang die Israelis geschockt hat, ein Monster, und doch teilweise ihr eigenes Werk, das sie nun mühsam und zu spät zu zerstören versuchen. Dieses Vorgehen, sich bei dem “Feind seines Feindes“ einzuschmeicheln, bewies, dass man sich die Gunst einer Opposition nicht durch Bestechung erkaufen kann. Obwohl Netanyahu gezeigt hat, dass er selbst sehr empfänglich für sogenannte Geschenke von großzügigen Wohltätern war, zeigt sich nun, dass es für ihn ein- und dasselbe ist, ob er nicht-verdientes Geld annimmt oder weggibt. In diesem Fall erwiesen sich die Geschenke als ein fürchterlicher Bumerang, da Hamas sie angenommen hat und davon ihr Schattenreich unter der Nase seiner Majestät erbaute, ohne dass diese die geringste Ahnung hatte. Was als eine billige Lösung begann, erwies sich als eine sehr teure Schwäche.

Willkommen für den Messias
Noch jede messianische Bewegung scheiterte, wenngleich manchmal auf spektakuläre Weise. Der jetzigen, wie die Herren Ben-Gvir und Smotrich sie vorführen, ergeht es nicht besser. In der ganzen jüdischen Geschichte traten über 200 Personen auf, die „der Messias“ zu sein behaupteten. Ein weiterer würde nur die Liste verlängern. Andererseits fließt eine Sehnsucht nach dem Messias in unserem Herzblut. Kein Wunder angesichts der dunklen Epochen in unserer Geschichte. Wenn der Messias, 3 ob Mann oder Frau, tatsächlich eintrifft, dann nur, wenn und wann Gott es will. Bis jetzt war jeder Messias immer wieder der falsche. Der jüngst verstorbene Rabbi Adin Steinsaltz schrieb: jeder jüdische Junge sei ein potentieller Messias, aber potentiell bedeutet nicht dasselbe wie jemand, der da ist und durch seine Gegenwart die Welt erlöst. Vielleicht hatte Franz Kafka recht, wenn er schrieb: „Der Messias wird erst kommen, wenn er nicht mehr nötig sein wird; er wird am Tage nach seiner Ankunft kommen...“ Es könnte sein, dass das, was Kafkas Messias tun sollte, schon vorher von uns selbst geleistet wurde. Sein Kommen dient nur der Bestätigung dessen, was wir schon aus eigener Anstrengung geschafft haben. Ist das Bibis Messias, wenn er am Ende vom „Tag danach“ spricht?  

Es gibt einen Unterschied
Ein guter Freund von mir, ein emeritierter Professor für politische Kommunikation, der für ein paar Monate zu Besuch war, machte folgende Bemerkung über den Unterschied zwischen Israelis und Arabern: die Israelis hätten einen tiefen Sinn für Schuld, aber keinen für Scham. Die Araber andererseits hätten einen tiefen Sinn für Scham und einen viel geringeren für Schuld. Also müsse man sich nicht wundern, wenn sie es es schwierig fänden, miteinander zu kommunizieren. Daran muss ich denken, wenn ich mich in der Umkleidekabine meines Sportvereins von Ramat Rachel in Jerusalem aufhalte. Viele von den israelischen Männern laufen splitternackt herum, als müssten sie ihre Freiheit, ihre völlige Emanzipierung von jeglicher Einschränkung ihres Verhaltens herzeigen. Die arabischen Männer, die wahrscheinlich zu der Zeit, wo ich auftauche, in der Mehrheit sind, zeigen sich nie so her. Ist das nur was Kulturelles, oder spiegelt sich darin eine tiefere Spaltung, die eine Aussöhnung verhindert? War es das enorme Schamgefühl, das den ungeheuerlichen Gewaltausbruch am 7. Oktober auslöste? Eine Scham, die sich jahrelang angesammelt hatte? Die Tatsache, dass viele dieser Hamasleute öffentlich ihre Freude über ihren triumphalen “Sieg“ auslebten, indem sie vor ihren Smartphons paradierten, hob ihren vollständigen Mangel an Schuldgefühl hervor. Ihr abscheuliches Verhalten – Vergewaltigung, Mord, Kopfabschlagen und Folter - steigerte anscheinend noch ihre Gier nach blutiger Rache an ihrem geschworenen Feind. Die israelische Herrenrasse stand diesmal am anderen Ende, auf der Empfängerseite von all der zurückgehaltenen Wut über die wahrgenommene Unterdrückung, die sie tagtäglich unzählige Jahre hindurch erlitten haben. Der 7. Oktober war der große Tag Rachsucht, mit Allahs Hilfe. Die Hamas-Kämpfer verfielen in einen Wahnsinn, als sie sich ihre tiefsten Sehnsüchte an ihren unglücklichen Opfern erfüllten. Die israelischen Bewohner und ihre Gäste waren wehrlos. Ihre schlimmsten Ängste, der Alptraum, was passieren würde, wenn ihre Nachbarn je die Oberhand bekämen, verwandelten sich in Wirklichkeit. Es wurde selbstverständlich, an den Holocaust zu erinnern, nicht nur für sie, sondern für viele Kommentatoren, die sich bemühten, die Tiefen dieser gräßlichen Erfahrungen zu erfassen. Es war, als ob aus der Nazizeit noch Hass übrig geblieben wäre, den man in dem Staat ausspielen musste, der doch errichtet worden war, um sicherzustellen, dass sich der Nazi-Wahnsinn nie wiederholte. Außer dass es hier natürlich nicht mehr um eine verarmte, wehrlose Diaspora-Gemeinschaft ging. Dies hier war der starke zionistische Staat, der berühmt dafür war, Juden für alle Zeit zu schützen, sie zu schützen sogar vor dem Schlimmsten aller Feinde. Statt ein Nie wieder haben die Israelis als Juden ein Schon wieder erlebt.

Der zionistische ''Traumstaat“
Dieser Krieg stellt, neben vielen anderen, sehr radikale Fragen nach den Zielen des Zionismus, und danach, welche Rolle der jüdische Genius spielt, der plötzlich wie im schwarzen Loch seiner schlimmsten Phantasien verschwunden zu sein scheint. Im Buch „Moses' Final Oration“ („Moses letzte Rede“) des zeitgenössischen Philosophen Micha Goodman, das viele Denkanstöße enthält, heißt es, die wichtigste Botschaft aus dem Deuteronomium (das Fünfte Buch Moses, Altes Testament d.Ü.) sei es, dass die Kinder Israels von einer Sklavenrasse zu einer Herrenrasse in ihrem von Gott geschenkten Land verwandelt worden seien und dass sie sich vor dem Erfolg hüten müssten, den die Veränderung mit sich bringen würde. Laut dem Vater aller Propheten bestand ihr Auftrag darin, eine zivil-religiöse Gesellschaft zu gründen, in der alle gleichberechtigt wären und wo der Schwächste mit der gleichen Achtung behandelt würde wie der Stärkste. Entspricht das Israels Erfahrung nach 75 Jahren einer Regierung über eine so bunte Gruppe wie palästinensische Araber, Tscherkessen, Drusen, Christen, Baha'is und so weiter? Hat es wirklich positive Beziehungen zu diesen nicht-jüdischen Minderheiten geknüpft? Das sind Fragen, die man angehen muss, wenn man Israels Anspruch, eine jüdische Demokratie zu sein, ernst nehmen will. Tatsächlich steht und fällt Israels Zukunft mit den Antworten auf diese Fragen. Nach diesem Maßstab sind die Antworten der Herren Ben-Gvir und Smotrich das totale Gegenteil von dem, was Goodman für die existentielle Frage hält, vor der Israel steht. Ihre Antwort auf Israels Probleme ist im besten Falle oberflächlich, im schlimmsten Fall fügen sie Israel schweren Schaden zu. Mit ihrer messianisch aufgeheizten Vision von einen pragmatischen Israel üben sie Gewalt aus gegen das, wofür Israel eigentlich gegründet wurde. Anstatt ein Licht für die Völker zu sein, kommen wir einem Verderb für die Völker gefährlich nahe."

Übersetzung aus dem Englischen: Barbara Höhfeld

 

© für das englische Original: Mordechai Beck, Jerusalem

© für die deutsche Übersetzung: Barbara Höhfeld, Frankfurt am Main