Tagebuch Winter 2010/11

Frankfurt, den 29. März

Vor kurzem übersetzte ich einen Aufsatz des Philosophen Slavoj Zizek aus dem Englischen ins Deutsche (für mich, für Freunde). Ich entdeckte den Artikel in der London Review of Books und, wie so oft, wünschte ich mir Gesprächspartner für diesen Text und fand sie schon deswegen nicht, weil in meiner Umgebung die meisten Leute nicht genug Englisch können. Ehrlich gesagt, hatte auch ich Verständnisprobleme in diesem Fall, und das war der erste Grund, warum ich mich an eine schriftliche Übersetzung machte. Das Übersetzen bietet den gründlichsten Weg hinein in die Gedankenwelt eines anderen.

Die Arbeit hat sich gelohnt. Ich habe mit dem einen oder andern über den Essay diskutieren können und ihn dadurch noch besser begriffen.

Worum geht es Zizek? Nun, um das Verhältnis zwischen Lüge und Wahrheit in der Öffentlichkeit, worunter sowohl die Medien als auch die Politik zu verstehen sind. Was macht er anders als die zahllosen Weisen, die sich seit 6000 Jahren mit Fragen um Wahrheit und Lüge herumschlagen? Besser: was fügt er ihnen hinzu?

Er siedelt seine Frage im Jetzt an, und in den USA. Dort hat er einen Lehrstuhl, jemand sagte mir, er biete gegenwärtig Seminare über Filme an. Tatsächlich beginnt seine Aufsatz mit amerikanischen Filmen der letzten Jahrzehnte und ihrer Einstellung zum Lügen. Die Filme bieten eine überschaubare Welt, und viele vertreten den Standpunkt, dass zum ordentlichen Regieren auch das Lügen gehöre, um den Leuten Komplexität zu ersparen. Doch Zizek geht weiter: er berichtet auch über die Art von Lügen, die als zweckmäßig gelten, und all dem stellt er WikiLeaks entgegen. Ohne WikiLeaks gäbe es seinen Essay nicht. WikiLeaks vertritt sozusagen das moderne Verständnis von Wahrheit.

Dem gewandten Philosophen aber gelingt es, auch Wikileaks in Machtstrukturen einzuordnen und damit zu relativieren. Wenn es wirklich um Macht geht, um große Entscheidungen: worauf kommt es dann an? Zizek bringt andere Anekdoten: aus dem spanischen Bürgerkrieg, aus der Auseinandersetzung zwischen USA und UdSSR um Kuba. Hier nun arbeitet er die Einmaligkeit jeder Entscheidung heraus, ihre Unwiederholbarkeit, ihr Wurzeln in der Biografie der Entscheider. Damit noch nicht genug. Zizek bringt es fertig, zum Abschluss Marx zu zitieren, und so fein und redlich, dass überhaupt niemand widersprechen kann. Wer nur auf seinen eigenen Vorteil aus  ist - sei es auf Geld, sei es auf Macht - und dafür Leute sterben lässt und sie ihres Eigentums beraubt, der soll sich schämen. Scham und Schande werden zu den höchsten Kriterien.

Wie gesagt, ich habe den Text vielleicht zehn Mal gelesen. Nun kommt er mir so klar wie Quellwasser vor, und ich habe immer noch Freude daran. Nachzulesen in der LRB vom 20. Januar 2011 unter dem Titel "Gute Manieren im Zeitalter von WikiLeaks" (Good Manners in the Age of WikiLeaks).

 

 

Frankfurt, den 23. März

Es spriesst auf meinem Balkon. Der Balkon ist kein Garten, in dem ich morgens barfuß über taufeuchtes Gras wandeln könnte, nein, dieses Vergnügen verschafft er mir nicht mit seinem schäbigen Estrich. Und doch ersetzt er mir den Garten.

Das wird mir jetzt bewusst, wenn ich sehe, dass nichts erfroren ist, dass alles spriesst. Der Stachelbeerstrauch im Blumentopf. Wie dürr sah er aus, noch bis vor ganz kurzer Zeit, wie hoffnungslos vertrocknet. Und jetzt schauen überall hellgrüne Spitzen hervor! Oder die drei Himbeergerten im Topf, den mir mein Bruder zum Geburtstag mitbrachte. In seinem großen Garten kultiviert er Himbeeren, die mehrere Monate lang Früchte tragen, nicht nur sechs Wochen wie im alten Bauerngarten. Er hat drei Gerten ausgestochen, sie sorgsam eingepflanzt und ein Drahtgehege dazugegeben - und nun gucken schon Blättchen heraus! Der Rosmarinstrauch, der Thymianbusch, auch sie haben den Winter heil überstanden, und dort, wo letztes Jahr Schnittlauch wuchs, ragen die neuen Stiele schon wieder fingerlang  über der Erde. Das Wurzelwerk des Pfefferminz schlägt aus mit stecknadelgroßen gelb-grünen Spitzen.

Alt werden, in der Stadt leben, viel lesen und schreiben, Freunde treffen - ich hätte gar keine Zeit, um mich um einen Garten zu kümmern. Es bleibt mir die Freude, zuzuschauen, wie  die Königskerze sich wieder bei mir niederglassen hat, wie die Ringelblumen ihre unverkennbaren Doppelblättchen rausstecken, und hier und da ahne ich auch einen Tomatenstrauch. Oder ich hoffe es nur, denn eigentlich ist es für Tomaten noch zu kalt.

Frankfurt, 15. März

Es ist wärmer geworden, Samstag Nacht spürte ich zum erstenmal wieder diese stille Unruhe in der Stadt, die ich von warmen Sommernächten kenne: wie  ein heimliches Lachen, ein Einvernehmen, ein Wollen, ein Suchen ....

Sonntag kam dann die Nachricht, die seither alles beherrscht: der Tsunami in Japan. Eine Apokalypse fiel über vier Präfekturen herein. Anschließend die Bedrohung der Kernreaktoren, die Angst vor der Kernschmelze. Besonders in Deutschland leuchten per TV die verschiedensten Experten sämtliche Gesichtspunkte der Atomenergie aus. Ich sah auch eine Sendung auf BBC, Sonntag abend, glaub ich, und  war erschrocken darüber, wie atomfreundlich der Sender berichtete. Die BBC! Die Mutter aller ehrlichen Berichterstattungen!

Die Frage der Fragen: wie gehen wir mit dem "Restrisiko" um? Ignorieren? Als unwahrscheinlich abtun? In Kauf nehmen? Als Möglichkeit ernst nehmen?

Ich bin Montag Nachmittag zur Hauptwache auf die Demo gegangen. Es standen ein paar hundert Leute da - keine Verkehrsbehinderung. Die Lautsprecher rund um einen kleinen LKW gaben die Reden gut verständlich wieder. Es sprachen Leute von Parteien und Atomgegner-Organisationen, zuletzt ein Mann von "Ärzte gegen den Atomkrieg". Er war am interessantesten anzuhören, die Argumente der andern waren nicht neu. "Abschalten!!" Zumindest die Rückkehr zum vereinbarten Atomausstieg.

Es gab einen sehr bewegenden Moment zum Schluss. Vom LKW her wurde um eine Schweigeminute für die Opfer des japanischen Erdbebens gebeten. Alle Menschen blieben stehen, mit nachdenklichen, ruhigen Gesichtern, die Glocken der Katharinenkirche läuteten dazu. Die Ergriffenheit hielt sie alle, die guten Wünsche flogen weit hin über die Taiga bis nach Tokio ........

Frankfurt, 9. März

Wenn man rausschaut, erlebt man eine Illusion von Frühling: mit Sonne, Krokussen und Schneeglöckchen. Aber schön die Heizung anlassen und die Fenster zuhalten! Diese Kälte .....

Übers Wochenende war ich mal wieder in Luxemburg, obendrein mit dem Auto - ich bekam Anfang Februar endlich die gesetzestreuen Reifen und kann nun wieder überall und jederzeit losfahren, zumal meine Augen sich von der Operation erholt haben. Dieses Reifengesetz vom 1. Dezember, das einem vorschreibt, was man im Winter und im Sommer für Reifen fahren muss, ganz unabhängig von der tatsächlichen Witterung - finde ich ein Ärgernis, weil es vor allem der Industrie zu Aufträgen verhilft. Zweimal im Jahr die Reifen wechseln! Fünfzig Jahre lang war das nicht nötig, und jetzt auf einmal??

Ich bin einen Kompromiss eingegangen und habe mir Alljahresreifen gekauft, so dass ich wenigstens die Lagerungskosten spare. Von dem Zeitaufwand gar nicht zu reden. Mit diesen Reifen fuhr ich nun zum erstenmal eine größere Strecke. Auf die Geschwindigkeit oder das Bremsvermögen hatten sie keinen spürbaren Einfluss. Man gewöhnt sich...

In Luxemburg bewunderte ich zusammen mit meiner Freundin das Pei-Museum, das offiziell "MUDAM" heißt, oder Musée du Grand-Duc Jean de l'Art Moderne. Das Gebäude ist für sich allein schon sehenswert, weil es auf raffinierte Weise in ein Festungsbauwerk übergeht oder aus ihm herauswächst. Luxemburg war ja mal eine der größten Festungen Europas, das "Gibraltar des Nordens". Es lässt aber auch viel Licht herein, im Gegensatz zu Festungsbauten, es bietet fröhliche Überraschungen, es lebt.

Im Pei-Museum haben luxemburgische und andere Künstler Gelegenheit, mit dem Raum zu spielen, und das gelingt manchmal überzeugend, und manchmal langweilte es mich. Ich glaube aber, dass die  Atmosphäre dieses Museums auch von Tendenzen des französischen Kunstbetriebes bestimmt wird, die mir nicht vertraut sind.  Ich muss nächstes Mal unbedingt nach Metz fahren, wo eine Filiale des Pariser Beaubourg eröffnet wurde. Meine Freundin berichtete sehr begeistert darüber. In Luxemburg jedenfalls ist nicht nur die Leitung des Museums französisch, sondern auch das Personal. Es versteht kein Deutsch, ist aber sonst immer hilfreich.

Nur zum Verständnis: Das Großherzogtum versteht sich noch immer als dreisprachig, und die Kinder lernen lesen und schreiben auf deutsch. Obwohl die Zahl der Zuwanderer inzwischen (vermutlich) die Zahl der Einheimischen übersteigt.

Übrigens soll man im Museumscafé auch sehr gut essen können.

 

Frankfurt, 5. März

Jonathan Franzen, den amerikanischen Romanschriftsteller, erlebte ich leibhaftig im letzten Herbst im Schauspielhaus. So sympathisch, intelligent, lustig trat er auf, dass ich auch gleich seinen jüngsten Roman "Freedom" kaufte. Ich fing an zu lesen, kam bis Seite 132 - und nicht weiter. Das Buch liegt noch immer neben meinem Nachttisch. Ich dachte, ich würde es eines Tages zuende lesen.

Seit einem Gespräch mit einem sehr alten Freund weiß ich nun, dass ich es weglegen kann. Mein Freund pries den Roman, vor allem mit dem Satz: "Er zeigt, warum Beziehungen unmöglich sind!" und ich antwortete vorschnell: "Die Geschichte ist trivial!" - jetzt weiß ich es besser. Das Gespräch regte mich zu neuem Nachdenken an. Die Geschichte ist nicht trivial.

Im Mittelpunkt steht (auf den ersten 132 Seiten, ungefähr einem Viertel des Buches) eine junge Frau, ihre Kindheit und Jugend. Sie wächst im amerikanischen Mittelstand auf, lieblos, als jüngste kaum wahrgenommen. Mit 17 wird sie auf einer Party vergewaltigt. Die Eltern meinen, dass sie keine Beweise habe gegen ihren Vergewaltiger, den Sohn eines Bundesrichters, und darum besser nichts sage. Sie solle die Tat einfach vergessen. Der Leser erlebt sie als Studentin - sie ist keine Intellektuelle, aber eine tüchtige Sportlerin - und ihre ersten Männergeschichten. Soweit bin ich gekommen.

Nun wird mir klar, warum ich keine Lust mehr zum Weiterlesen habe. Dieser armen Frau wird nicht die geringste Spur von Eigensinn zugestanden. Sie ist vollkommen fremd bestimmt. Wenn ich mich jedoch umschaue, dann sehe ich keine Frau, der vollständig jeder Eigensinn abhanden gkeommen wäre, und seien die Verhältnisse noch so eng. Irgendjemanden vermag sie immer zu überraschen.

Warum schreibt man einen Roman über eine solche Figur? Es muss sich doch auch für den Autor irgendwie lohnen, was er sich ausdenkt? Je  länger ich überlege, umso deutlicher scheint mir: diese Romanperson erlaubt dem männlichen Leser, seine Vergewaltigungsfantasien auszuleben. Vergewaltigung wird heute im allgemeinen streng bestraft. Hier nun kommt einer ungestraft davon, und auch die folgenden Männer sehen sich einer Frau gegenüber, die nicht weiß, was sie will, die nicht weiß, was ihr geschieht, und die sich letztlich nicht wehren kann. Das regt an, besonders ihre Körperkraft weckt Gelüste. Mit den Männern kann sich jeder Mittelstandmann identifizieren.

Sie ist im übrigen die ideale Personifizierung des Adorno-Spruchs "Es gibt kein richtiges Leben im falschen". Ich hätte kein Vergnügen daran, mir  sowas auszumalen. Und habe keins, die Geschichte zu lesen. Alles ist möglich, auch Vergewaltigung; aber eine  Person ohne Eigensinn nicht.

So eine Art verschleierter de Sade - ist das Jonathan Franzen?

 

 

Frankfurt, 28. Februar

Nachts friert es, aber tagsüber wachsen die Blumen so rasch, dass man fast zugucken kann!

Zu meinem vorigen Eintrag möchte ich noch etwas ergänzen, ich habe weiter darüber nachgedacht.

Herr Riechmann erläuterte, dass die Stadt Frankfurt für ihre Bilanz nun alle Vermögenswerte in Euro beziffern muss; wenn sie Teile davon in einen Vertrag nach der "öffentlich-privaten Partnerschaft" hineingibt , dann kann der private Teil dieser Partnerschaft darauf einen Kredit aufnehmen und erhält günstige Zinskonditionen, günstiger, als wenn er nur mit dem eigenen Namen dastünde. Darin liegt ein erster Gewinn. Der zweite Gewinn - aus dem Geschäft als solchem - darf nicht nachgeprüft werden, weil er nicht-öffentlich ist. Ein dritter Gewinn könnte sich dann ergeben, wenn eine Bank "Derivate" auf einen solchen Kredit anbietet. Derivate sind meistens  Wetten oder sowas ähnliches, manchmal "Zertifikat" genannt.

Jemand, mit dem ich über die Angelegenheit sprach, gebrauchte das alte Wort "Pfand". Kann man das sagen? Dass die öffentliche Hand hier  gewissermaßen ihre Vermögenswerte "verpfändet"? Früher, zur Zeit des Heiligen Römischen Reiches, musste ein Pfand nach einem Jahr eingelöst werden; kam der Pfandbesitzer "nach Jahr und Tag" nicht mit dem Geld, für das er den Gegenstand verpfändet hatte, dann ging das Pfand in den Besitz des Gläubigers über. Also nein, der Ausdruck "Pfand" ist nicht angebracht, denn die Verpfänder (die Schuldner) "bekommen" kein Geld. Sie überlassen einfach das Geldliche den Privaten. Und erhalten ihr "Vermögen", wenn alles gut geht, nach zehn, zwanzig Jahren (oder mehr) zurück.

Es wurde auch an die ehrwürdige Londoner Underground erinnert, die durch ÖPP saniert werden sollte. Die Stadtverwaltung kaufte sie nach wenigen Jahren zurück, denn die privaten Teilhaber der ÖPP gingen in Konkurs. Das Geld war verbraucht, ohne dass die geringste Reparatur ausgeführt worden wäre.

Was nach meinem Gefühl das Bedrohliche ist, besteht in der Verweigerung der Kontrolle. Wenn man bedenkt, wie die Parlamente entstanden sind, wie sie jahrhundertelang darum gekämpft haben, die Ausgaben und Einnahmen der Regierung kontrollieren zu können - und jetzt wird das alles einfach wieder aufgegeben! Das verstehe ich nicht.

Übrigens habe ich falsch zitiert insofern, als der Satz von Schiller stammt, nicht von Goethe. Das Gedicht heißt "Die Teilung der Erde", und der Poet kommt als letzter angerannt, als schon alles verteilt ist. Zeus tröstet ihn: "... die Welt ist weggegeben, der Herbst, die Jagd, der Markt ist nicht mehr mein. Willst du in meinem Himmel mit mir leben: so oft du kommst, er soll dir offen sein."

"Der Herbst", so steht es da! Gemeint ist, denke ich, die Ernte ....

 

 

Frankfurt, 25. Februar

Gestern abend kehrte ich gegen halb elf nach Hause zurück, niedergeschlagen, erschöpft. So, als hätte sich alle Hoffnung verflüchtigt. Ich ging gleich schlafen, immerhin konnte ich einschlafen. Gegen Morgen erlebte ich einen geradzu kämpferischen Traum, an den ich mich nach dem Aufwachen absolut nicht erinnern konnte. Als wäre er greifbar, aber nicht zu fassen. (So wie eine Mücke in einem 3D-Film).

Im Café "'Wiesengrund" diskutierte die "Piratenpartei" über irgendein Finanzthema, das Wort "Ausplünderung" kam in der Einladung vor. Nicht deswegen ging ich hin, sondern ich wollte wissen, wer diese "Piraten" sind und was sie wollen. Eine Splitterpartei auf dem Stimmzettel, gewiss, aber sie haben doch Konzepte und Grundsätze, und das fehlt leider oft hierzulande.

Denn wenn ich daran denke, dass ein Politiker mit der Körpersprache eines braven Kindes, das alles tut, was Mama und die andern sagen, wenn ein solcher unerwachsener Mensch als der künftige Führer verherrlicht wird, dann fühl ich mich schon sehr schlecht.

Da wollte ich mir mal das Gegenteil angucken. Junge Leute erwartete ich, vielleicht mit unausgereiften Konzepten, aber mit Zielen! Doch es waren nur alte  Herren da, und ihren Konzepten fehlte von vornherein die Durchführbarkeit, wie ich zum Schluss merkte. Sie waren resigniert. Sie hatten längst aufgegeben. Sie stellten dar, was falsch gelaufen war. Und nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Sie gingen vom Gemeinwohl aus. Von den Interessen einer mehr oder weniger solidarischen Gesellschaft, von demokratischen Werten. Aber - Zitat Margret Thatcher -: "There is no such thing as a society." Es gibt nur natürliche oder juristische Personen.

Die "ÖPP" ist eine juristische Person. Die Abkürzung bedeutet "öffentlich-private Partnerschaft". Diese beruht auf einem Vertrag, der viele tausend Seiten umfassen kann (das heißt, keine natürliche Person hat ihn je ganz gelesen). In den Vertrag bringt die öffentliche Hand ihre Liegenschaften oder ähnliche Vermögenswerte ein - z.B. Abschnitte der  Bundesautobahn - und der "private" Partner verpflichtet sich zu Sanierungen. Der Vertrag unterliegt dem Privatrecht, es gilt das Geschäftsgeheimnis, und kein Parlamentarier darf nachprüfen, was wirklich geschieht (auf der Autobahn werden der Maut wegen LKWs nicht auf Umleitungen geschickt, sie müssen sich durch die Baustellen quälen). Den öffentlichen Händen passt das, weil sie zwar die Einnahmen (aus der Maut z.B.) nicht mehr in ihren Haushaltsplan aufnehmen, aber die Ausgaben für die Straßenreparatur nicht als Ausgaben aufführen müssen. Keine Schulden!

So entsteht eine Verbindung zu dem Vorhaben des hessischen Landtags, in die hessische Verfassung eine "Schuldenbremse" einzufügen, d.h. das Verbot für die Landesregierung, einen Kredit aufzunehmen. Diese Schuldenbremse existiert schon in der Bundesverfassung. Wegen der "Finanzhoheit der Länder" soll das aber nun auch in die hessische Landesverfassung eingefügt werden. Und zwar während der Kommunalwahl!

Die Gewerkschaft ist dagegen. Die Linke auch. Aber damit hat sichs schon. Alle größeren Parteien sind dafür.

Der Referent von gestern abend, Udo Riechmann von der Piratenpartei, wollte darstellen, wie das Konzept der ÖPP geeignet sei, an die Stelle von  Kreditaufnahmen zu treten und damit zu einem Ausverkauf jeglichen Besitzes der öffentlichen Hand führe. Er nannte ein paar Beispiele, so werde im Städel  jedes einzelne Bild nach seinem Marktwert registriert.

Und hier fing mein Unbehagen an. Herr Riechmann, der offenkundig enorm viel wusste und einen tiefen Einblick in die Dinge hatte, war unfähig, die Verhältnisse so darzustellen, dass man ihm folgen konnte. Er setzte manche Sachen voraus, so etwa wie der Wert des Bildes eines unbekannten Malers aus dem 17. Jahrhundert zunächst einmal festgestellt und dann zur Ausplünderung des Gemeinwesens führe. Er hatte - obwohl Kandidat für die Stadtverordnetenversammlung! - keine Ahnung von Rhetorik, er führte vielmehr eine Art Selbstgespräch, manchmal lachte er, offenbar hatte er sich einen Witz erzählt. Er stotterte, er sprach seine Sätze nicht zuende, er verhedderte sich in seinem Manuskript.

Wenn nur das Thema nicht so ernst gewesen wäre. Ein anderer älterer Herr von den "Piraten" setzte den Vortrag fort, indem er über die geplante Schließung des Amtsgerichts von Usingen referierte; er sprach besser, auch er sehr sachkundig, aber auch er setzte einfach vieles voraus, was (in Usingen) sicher schon oft behandelt worden war. Er wollte vor allem darlegen, dass die Kosten dem Privatmensch auferlegt werden sollen: die Wege zum nächsten Amtsgericht in Bad Homburg etwa, zu den dortigen Rechtsanwälten.

Das dauerte fast zwei Stunden. Ich ging nach Hause. Mir war übel.

Herr Riechmann erzählte, wie er einst gegen die "kameralistische Buchhaltung" beim Stadttheater gekämpft habe. Das Theater sei nicht in der Lage gewesen, die Kosten für eine Inszenierung zu nennen! Aber nun, da jeder eine Bilanz vorlegen solle, jedes Museum, bis hin zur städtischen Grün- und Gartenabteilung, ihren Besitz in Heller und Pfennig auflisten sollen - Was ist eine Nidda-Wiese wert?? - jetzt sei alles viel schlimmer. Denn jetzt könne alles verhökert werden, geleast, vermietet, für Jahrzehnte dem Vertragswesen des ÖPP-Knebels unterworfen. 

Der Zusammenhang zwischen ÖPP und "Schuldenbremse" wird mir jetzt erst nachträglich klar. Es war Riechmanns Ziel gewesen, seine Zuhörer auf diesen Zusammenhang aufmerksam zu machen. Bald wird jede Schule den Kapitalisten ausgeliefert sein, den Profitjägern, den Heuschrecken.

Gestern abend ging ich nur mit einer Ahnung nachhause, mit Resignation und einer unendlichen Traurigkeit. "Was tun? spricht Zeus. Die Welt ist weggegeben ... " (Goethe)

 

 





Frankfurt, den 22. Februar

Ist Frankophilie wirklich aus der Mode gekommen? Ja, mit dieser Erkenntnis muss ich mich wohl abfinden. Manchmal trifft man noch Leute, die wissen, was das ist; dann verständigt man sich wie in einer Geheimsprache ....

Ähnlich geht es mir mit dem Jüdischen: auch dies bleibt ein Thema unter wenigen Kennern - Nicht-Kenner wollen nicht damit behelligt werden. Die Reaktion unterscheidet sich zwischen Nicht-Kennern der Frankophilie und Nicht-Kennern des Philosemitismus: im einen Fall leicht gelangweilt, im andern Fall leicht aggressiv.

Neulich besuchte ich zum erstenmal die neue Synagoge in Mainz. Im Mittelalter stand das Städtedreieck Speyer-Worms-Mainz im Zentrum jüdischer Gelehrsamkeit und Überlieferung. "SCHUM" nannten sie das Dreieck, von S-W-M.  Daran knüpft diese Synagoge an. Sie stellt gleichzeitig etwas völlig Neues dar: architektonisch gesprochen. Während um die Jahrhundertwende von 1900 die Synagogen oft in einem "orientalischen" Stil gebaut wurden, oder etwas später im Stil der Zeit - wie die Westend-Synagoge in Frankfurt - hat sich in Mainz der Architekt etwas Neues ausgedacht. Er baute das Gebäude als eine Folge von hebräischen Buchstaben. Das "Lamed", das hebräische L, bringt die Höhe in den Betsaal, dank entsprechender Fenster auch Licht. Ansonsten ist das Haus meist zweigeschossig, aber eigensinnig bis in jeden Winkel. Ich sehe, ich muss die Architektur noch mal studieren, dann erzähle ich mehr. Für jetzt kann ich nur sagen, dass es eine Frauen-Empore gibt, aber ohne Sichtblenden. Die Wände im Beetsaal glänzen wie mattes Gold und sind mit eingestanzten Buchstaben beschrieben. Es gibt keine Bilder, getreu dem dritten Gebot: Du sollst dir kein Bildnis machen. Aber die Gestaltung der Räume bietet trotz der Vielfalt ein Gefühl von Freiheit ebenso wie Halt - nur auf der Treppe verliert der Besucher einen Moment lang das Gleichgewicht, weil die Mauer mit dem Handlauf schräg nach außen kragt. Die Treppe dient Frauen und Büroinsassen ..... Doch gibt es gewiss irgendwo noch einen Aufzug.

 

 



Frankfurt, den 19. Februar

L. heißt die Zeitschrift, und sehr klein darunter steht Der Literaturbote.
Wie zu Büchners Zeiten. Erscheint viermal jährlich schon seit 25 Jahren im Frankfurter Literaturforum.

In der Doppelnummer 99/100 ist nun mein Bordeaux-Bericht nachzulesen. Die Kürzung macht ihn vielleicht spannender, eine gewisse Atemlosigkeit geht von ihm aus. Chefredakteur Söllner hatte mich gebeten, den Text auf die Hälfte zu verkleinern. Ich nannte ihn "Bücher in Bordeaux", und er ist auch so noch länger als die Texte der andern in dem Heft. Eine spannende Erfahrung, dieses Kürzen. Es verändert den Charakter des Geschriebenen. Solange aber noch Charakter übrigbleibt, lohnt sich das Experiment.

Jedenfalls freue ich mich über die Veröffentlichung. Die Bordeleser Erfahrungen schwingen noch immer in meinem Kopf nach. Neue Gedanken entstehen, neue Bilder.  Insofern bringt eine Publikation einen weiter, es kann sich nun was anderes vordrängen.

Die Garonne mit ihren Strudeln? Mit ihrem steten Wechsel des Wasserstands? Sie fließt im Halbkreis, sie bietet der Stadt ein langes Ufer auf der konvexen Seite. Eine hohe Mauer schützt die Stadt. Wer kontrolliert die Folgen des steten Strömungsaufpralls auf diese Mauer? Nie sah ich ein Schiff oder Leute, die sich um diese Mauer kümmerten, und doch muss sie ständig unter Aufsicht stehen. Vielleicht wurde sie in den letzten Jahren gerade erneuert, bevor man obenauf die Gärten und die Wasserspiele anlegte oder, weiter abwärts, die alten Lagerhallen in modische Konsumkultorte verwandelte. Vielleicht verlaufen unterirdische Gänge unter den Uferbauten, von denen aus der städtische Flussmeister die Garonne im Blick behält? Ich weiß es nicht. Die Zeit war einfach zu kurz, um alles rauszufinden. Woraus besteht der Schlick, der bei Ebbe am schrägen Ufer gegenüber zutage tritt?

Nie sah ich jemanden schwimmen in der Garonne bei Bordeaux. Bevor Napoleon sein "basta" sprach, glaubte auch niemand, dass man bei Bordeaux eine Brücke über die Garonne zu bauen vermochte. Unkontrollierbar die Wassermassen, hieß es. Dennoch: Mit zwei Brücken wurde der Fluss inzwischen gezähmt: die alte Brücke mit ihren kleinen Bögen von 1822 mitten in der Stadt, und die neue Autobahnbrücke bei Lormont. Die Pfeiler dieses Betonwerks haben die Ufer verschandelt - aus ästhetischer Sicht gesprochen. Die Verschandelung hat einen Aspekt von Demütigung, fand ich. Bilde ich mir das ein?

Natürlich spielt heute auch die Eisenbahnbrücke eine wichtige Rolle, sie ist gerade letztes Jahr verbreitert worden. Aber es sind die andern beiden Brücken, die Bordeaux bestimmen. Die schöne alte, die Eleganz und Ästhetik bot dafür, dass sich jetzt jeder Pariser zu Fuß oder vierspännig nach Belieben in die Stadt begeben konnte. Die hässliche neue, für die alte Bauwerke zertrümmert wurden, neben der einst bewachsene Felsen nun nackt dastehen, die mit schäbigen Zäunen ihre Fahrbahnen vor Fußgängern abschirmt. Und das ewige Dröhnen und hohle Donnern erinnert den Spaziergänger unten daran, dass heute der Verkehr an Bordeaux vorbeizieht.

Frankfurt, den 17. Februar

Beim Wühlen in meiner Ablage fiel mir ein Artikel in die Hände, den ich 1996 verfasst hatte, ich weiß nicht mehr, für welche Zeitung. Er gefällt mir so gut, dass ich ihn hier einfach noch mal abschreibe.

 "Voltaire in Briefen

Wer möchte nicht Voltaire lesen, ohne sich anzustrengen?

Dabei ist gar nicht ausgemacht, dass der für seinen Geist Berühmte und für seine Provokationen Berüchtigte sich angestrengte Leser wünschte. Er war unter anderem ein Mann der Tat, ein praktischer Mensch, der sich seinen Lebensunterhalt mit leichter Hand zu sichern verstand. Er glaubte, dass "Geld ohne Talent Dummheit" bedeutet, allerdings auch, dass "Talent ohne Geld Elend" bringe.

Voltaire war sein Künstlername. Als François-Marie Arouet im Jahr 1694 in Paris geboren, landete er schon 1717 für elf Monate in der Bastille: Spottgedichte und Satiren hatten den französischen Hof gegen ihn aufgebracht. Auch in seinem weiteren Lebewn blieb er die meiste Zeit ein Emigrant, weil seine Anwesenheit in Paris unerwünscht war. Er lebte zum Beispiel am Hofe des Königs Friedrich II. von Preußen oder lange Jahre auf dem Territorium der Republik Genf. Seine Streitschriften gelangten allerdings auch aus der Ferne bis nach Paris.

Wahrheit und Toleranz hießen die Pfeiler, auf denen sein Werk als Schriftsteller und Philosoph ruhte. Er griff die Intriganten an und kämpfte für die Opfer des Unrechts und der Armut - oft mit erstaunlichem Erfolg. Er hielt an "Wahrheit und Toleranz" bis ins hohe Alter fest. Als ihm, dem Sechsundsiebzigjährigen, eine Dame antrug, für eine Statue Modell zu sitzen, ließ er es nach einigem Widerstreben zu: nackt und zahnlos sitzt er da, noch heute anzusehen in einem Museum in Orléans.

Voltaire's Briefe liefern uns ein Bild seiner Zeit. Klaus Bernarding hat gut zwei Dutzend dieser Briefe ausgewählt, neu übersetzt und mit Anmerkungen versehen. Seine Erläuterungen stellen in ihrer Knappheit und Anschaulichkeit eine wahre und tiefe Reverenz vor dem alten Meister dar. Klaus Bernarding ist ein Schriftsteller aus Saarbrücken, schon immer waren Klarheit und Eleganz zwei Ansprüche, die er an sich selber stellte. Hier, in seinem jüngsten Buch "Voltaire in Briefen - eine Portrait-Skizze", geht er mit Voltaire eine Symbiose ein. Es gelingt ihm, was selten gelingt: den Esprit français in der deutschen Fassung zu bewahren. Ein Juwel, dieses schmale Büchlein aus dem Röhrig Universitätsverlag, das man allen, die man liebt, gern schenken möchte.

Allen, denen es Spaß machen könnte, Voltaires eleganten Zorn und zärtliche Höflichkeit nachzuerleben, das Auf und Ab seines Lebenslaufes zu verfolgen, unterhaltsam Geschichte zu lernen und wie auf einem fliegenden Teppich zwei Jahrhunderte zurückzureisen, denen sei das Büchlein empfohlen."

 

Verfasst am 9. November 1996 in Frankfurt. Möglicherweise interessant für jene, die wissen möchten, warum jemand "frankophil" wird oder was das ist.

 

Frankfurt, 15. Februar

Noch immer rührt sich nichts in meinem winzigen Blumentopf, noch immer schluckt er gierig Wasser, wenn ich es in den Unterteller eingieße. Geduld, Geduld!

Ich klagte meiner Ärztin, dass mich meine Beine schmerzten. Sie schickte mich zum Neurologen. Dieser diagnostizierte eine "Neuropathie" und verschrieb mir Tabletten. Ich sah mir den Beipackzettel an und las unter "häufige Nebenwirkungen": Lungenentzündung, Bronchienentzündung, Schwindel, Selbstmordbestrebungen, geistige Verwirrung und vieles andere, eine lange Liste.

Da raffte ich mich auf und kaufte mir einen Schrittzähler. Nun gehe ich jeden Tag wenigstens 6000 Schritte (angestrebt!) und meine Beinen fühlen sich besser an. Die Tabletten nehme ich selbstverständlich nicht. Schon komisch, was sich die Ärzte so ausdenken.

Der Neurologe gehörte in jene Altersklasse, die nur noch mit Einser-Abitur zum Medizin-Studium zugelassen wurden. Oft habe ich mich gefragt, was Einser-Abiturienten eigentlich in der Medizin zu suchen haben. Ja, in der Forschung vielleicht, dagegen habe ich gar nichts, doch sollte man da nicht eher Biologie studieren? An lebenden Menschen zu forschen bringt bekanntlich unangenehme Situationen mit sich, das moralische Dilemna zwischen dem Respekt vor dem Leben und der Fortführung des Wissensdrangs, der wiederum die Kassen der Pharma-Industrie füllen soll.

Ich meinerseits scheine indessen immer noch ziemlich gesund zu sein; ich sitze nur zu viel am Computer. Mir dessen bewusst zu werden und tatsächlich etwas daran zu ändern, dazu war der Beipackzettel jedenfalls nützlich. Danke, Herr Doktor!

 

Frankfurt, 10. Februar

Vor einiger Zeit, ich glaub, es war im November, brachte mir jemand ein ganz kleines Alpenveilchen mit. Es blühte allerliebst, es verblühte, auch die Blätter fielen ab. Es blieb nur der kleine schwarze Blumentopf.

Manchmal kann man Alpenveilchen auch mehrmals zum Blühen bringen. Ich stellte mein Töpfchen auf einen passenden Unterteller und goss Wasser hinein. Sofort senkte sich der Wasserspiegel in dem Unterteller. Und innerhalb des restlichen Tages verschwand das Wasser ganz. Doch auf der Oberfläche regte sich nichts.

Das geht jetzt schon seit bald einem Monat so. Etwa alle zwei, drei Tage gieße ich Wasser in den Unterteller, das Töpfchen "trinkt" es gierig aus, doch an der Oberfläche geschieht nichts. Was tut sich im Innern dieses winzigen Erdballens? Wer oder was braucht so viel Wasser? Normalerweise, wenn nur Erde drin wäre, würde diese mit der Zeit feucht, ja nass werden, vielleicht sogar schimmeln - aber nein, oben drauf trocknet sie sogar an. Wie lange muss ich noch warten, bis etwas sprießt?

Draußen, in manchen Vorgärten, sehe ich immerhin schon die Schneeglöckchen ihre Kelche öffnen ....

Frankfurt, 2. Februar

Beim Schreiben des Datums fällt einem oft was dazu ein: heute ist Lichtmess, heute nachmittag gehen in Luxemburg die Kinder mit einem Licht durch die Straßen, klingeln an den Türen und sammeln Süßigkeiten ein. Das "Licht" besteht aus einer Gerte, um die ein wachshaltiger Bindfaden gewickelt wurde.

Erinnerungen.

Ich bereite mich auf meinen Feldenkraiskurs vor, der nächsten Dienstag beginnt. Acht Wochen wird er dauern. Diesmal will ich ihn unter das Motto "Sich Zeit nehmen" stellen.

Zeit wofür? fragt vielleicht jemand. Für sich selbst. Für Wahrnehmungen. Für das was geschieht .... Es gibt so viele Antworten.

Feldenkrais schreibt (in "Das starke Selbst") über Anspannungen im Körper, freiwillige und unfreiwllige Anspannungen. Er schreibt über Angst, und wie eine gute Erziehung jedem dabei helfen könnte, sich seiner Angst bewusst zu werden und damit umzugehen zu lernen, so dass man frei wird zum Handeln. Ich lese: "Am Grunde aller Angst, bei der Erziehung versagt hat, liegt innerer Zwang zum Handeln oder Handlung zu verhindern. Und Zwang wird empfunden, wenn die Motivation zur Handlung widersprüchlich ist, das heißt: wenn das Schema, das man gewohnheitsmäßig ausführen würde, als die eigene Sicherheit gefährdend empfunden wird. Das Gefühl der Sicherheit ist verbunden mit dem Selbst-Bild, das während der Abhängigkeits-Periode gebildet worden ist. Manchen haben ihr gutes Aussehen, anderen Selbstlosigkeit, starke Männlichkeit, das Leitbild eines Übermenschen, äußerste Güte und noch andere, imaginäre, nicht verifizierbare Begriffe und Vorstellungen, Denkgewohnheiten und Verhaltensmuster als Mittel gedient, um sich Zuneigung, Bestätigung, Schutz und Fürsorge zu verschaffen. Zwang wird empfunden, wenn irgendeines dieser Mittel Gefahr läuft, ohne Wirkung zu bleiben. Man fühlt sich dann gefährdet und schutzlos preisgegeben. Bei tatsächlicher Gefahr und ohne Möglichkeit, sich zur Wehr zu setzen, kann wirkliche Zerstörung die Folge sein. Da bei innerem Zwang keine objektive Gefahr droht, ist das einzig mögliche Ergebnis der innere Zusammenbruch. ...."

Gott behüte! Feldenkrais hat gezeigt, dass Bewusstmachung von Spannungen helfen kann, die Spannungen aufzulösen oder konstruktiv zu nutzen, einzusetzen für das, was ein erwachsener, ein reifer Mensch erreichen möchte. Das Kapitel, dem ich das Zitat entnommen habe, heißt "Spontaneität und Zwang", es zeigt, wie Spontaneität entsteht, wie sich die "Reife" eines Menschen daran erweist, dass er/sie in jeder Situation Vernunft UND Gefühl nutzt, um sich zu entscheiden.

Die Feldenkrais-Lektionen handeln von Bewegung und nur von Bewegung. Aber bedeutet nicht Bewegung Leben? Gibt es Leben ohne Bewegung? Und wer weiß schon, was er genau tut, wenn er geht?

Ich selbst jedenfalls mache beim Gehen, auch nach so vielen Jahren der Feldenkrais-Arbeit,  noch immer wieder neue Entdeckungen.

 

Frankfurt, den 28. Januar

"Keine Ahnung" hört man auf Schritt und Tritt, wo immer man sich gerade aufhält. "Keine Ahnung" sagt Hannelore Elsner als Kommissarin und ruckelt dabei  charmant mit dem Kopf, so dass jeder weiß, sie ist nicht nur Kommissarin, sondern auch Weibchen. Der Ton, in dem sie die zwei Worte sagt, verrät uns außerdem, dass das Gefragte nicht in ihren beamtenrechtlichen Zuständigkeitsbereich fällt. Sie braucht das gar nicht zu wissen, was da gefragt wird. Anders klingt die Antwort "keine Ahnung", wenn mein Lesepatenkind sie ausspricht: da bedeutet sie, dass sie die Jalousien ihres Gehirns runterzieht, weil sie nicht behelligt werden will mit Dingen, unter denen sie sich nichts vorstellen kann, mit Zusammenhängen, die sie nicht versteht. Mit "keine Ahnung" glaubt sie einen Moment lang, dass sie sich den Zumutungen des Lernens verweigern kann.

Der Ausdruck ist so stark verbreitet, dass ich mich manchmal dabei ertappe, ihn auch schon zu benutzen. Statt "das weiß ich nicht", wie man früher sagte, hat das Fehlen auch nur einer Ahnung die Herrschaft im Sprachreich übernommen.

Fernhalten konnte ich mich dagegen von einem anderen Ausdruck, der  eher von gebildeteren Zeitgenossen benutzt wird; er lautet: "über den Tellerrand gucken". Diese Redensart begegnete mir leibhaftig zuerst nach meiner Rückkehr in die Bundesrepublik, nach 1991, und ich habe mich von Anfang drüber gewundert, weil ich das Bild mit dem Essen verbunden habe. Wenn man aus Luxemburg nach Deutschland kommt, erlebt man außer dem allgemeinen Kulturschock auch einen in bezug auf das Essen: in deutschen Landen sind - waren damals - die Gaumennerven unterentwickelt im Vergleich zum Großherzogtum (wo sie ebenso differenziert schmecken können wie in Frankreich), und damit musste ich mich gewissermaßen täglich herumschlagen. Außerdem denke ich bei einem "Tellerrand" vor allem an einen Suppenteller, und in meiner Kindheit war der Tellerrand der Ort, an dem ich Suppe finden konnte, die nicht zu heiß war, an der ich mir nicht den Mund verbrannte. Solche Gedanken führten aber, vor allem mit Rücksicht auf die Sauberkeit des Tischtuchs, erst gar nicht über den Tellerrand hinaus. Jenseits des Tellerrands gabs Flecken.

In meiner Kindheit versuchte man, "einen Blick über den Zaun zu werfen", man "wollte sich nicht den Blick verstellen lassen". Wir lachten über den Bauern:  "Wat der Bur nich kennt, dat frett er nich." Wenn ich das Bild vom "Tellerrand" höre, wird mir unbehaglich. Es verrät eine falsche Naivität, denn es heuchelt einen Wissensdurst in einer Sprache, die "Neugier" als Laster versteht. (So stands früher im Duden.)  Das Bild lenkt außerdem den Blick nach unten. Wie fern liegt ihm ein Blickwechsel, wie fern das leise, verständnisinnige Lächeln, mit dem sich Individuen in der Großstadt verständigen können! Dem Bild vom "Tellerrand" fällt es nicht im Traum ein, dass sich eigentlich mit jedem Menschen reden lässt, dass es zwischen allen Menschen Gemeinsamkeiten gibt. Dies, und die Unterschiede, die finde ich nur, wenn ich meinen Blick geradeaus richte und den Anderen wahrnehme. Was soll mir da ein Teller!

 

Frankfurt, den 24. Januar

Wieder Schnee auf der Mathildenhöhe, und doch ganz anders diesmal. Wir - die Literaturgruppe Poseidon - hatten gestern unseren "literarischen Rundgang" in der Ausstellung "Gesamtkunstwerk Expressionismus": acht Schriftsteller/innen blieben vor einem Bildwerk stehen und sprachen dazu, lasen, was sie darüber geschrieben hatten. Unendlich abwechslungsreich! Ich hatte mir den Film "Der Golem, als er in die Welt kam" ausgesucht, einen Stummfilm von 1920, der in dem Saal gezeigt wurde, der der Architektur des Expressionismus gewidmet war. Hans Poelzig, der später berühmt wurde, hatte damals die architektonische Ausstattung des Films übernommen. Aber in diesem Streifen geht es ja um mehr als um windschiefe Häuser, es geht um ein  Unterbewusstsein, nämlich das der Zuschauer, es geht um politische Ziele, nämlich Freiheit und Unversehrtheit für eine Menschengruppe, es geht um einen Rückgriff auf rohe Gewalt und den Versuch, den Träger der rohen Gewalt unter der Kontrolle der Vernunft zu halten ....

Ein weites Feld. Mir standen acht Minuten zu, und ich nützte sie mit einem Appell voller Fragen an den "Golem". (Der gesamte Text ist unter "www.literaturgruppe-poseidon.de zu finden.) Ich war ein wenig geschminkt und fühlte mich freudig zurückversetzt in alte Zeiten, da ich mal auf der Bühne gestanden hatte. (Ich habe u.a. in Luxemburg zehn Jahre "Frauentheater" gemacht.)

Kurzum, die Erfahrung hat mich erfrischt und belebt. Dank an all die andern Poseidon-Kollegen und -Kolleginnen, die durch ihren Einsatz das ganze Projekt ermögllicht, ja überhaupt erfunden haben! Eine literarische Performance in der Ausstellung. In der - ich möchte sagen: naturgemäß - die Literatur zu kurz kam. Ein paar Original-Titelseiten der Zeitschrift "Der Sturm" in einem Glaskasten reichen doch nicht aus, um George, um den Dadaismus, um Benn, und das sind nur Stichworte, um die literarische Wirkung des  Expressionismus und ihre  Folgen bis heute  zugänglich zu machen. Ich weiß nicht, ob unsere Texte daran etwas ändern, doch es folgte dem Rundgang eine Riesengruppe von interessierten Menschen, die sogar, wenn sie wollten, Kopfhörer bekamen, um den Rezitationen zu folgen. Es war ein großes Erlebnis.

Frankfurt, den 19. Januar

Wachsknoten, gehärtet, auf dem Silberfuß. / Augentropfenverschleierung. / "Braune Frauen auf seidenem Boden" (Hölderlin) und die künstliche Brücke von Bordeaux. / Ich will Austern essen, doch fahr ich dafür nicht nach Höchst. 

                                              *

Ich war auf der "Statt-Konferenz" junger Deutsch-Türken. Eine Landtagsabgeordnete namens Öztürk verwarf das Wort "Integration" als rassistisch. Recht hat sie. Ihre Redekunst begeisterte alle Zuhörer. Sie sprach ein wunderbares Deutsch. Hier aufgewachsen. Als sie in der Türkei war und auch mitreden wollte, verwies man ihr das "Bauern-Türkisch", das sie sprach. Sie lachte darüber, nicht frei von Bitterkeit. 

Doch mit dem Thema "Mehrsprachigkeit" wusste sie nichts anzufangen. Sie hat sich offenbar mit Sprache nur dann beschäftigt, wenn sie etwas damit erreichen, sprechend eine Macht ausüben wollte. Was "Sprache" ist und was sie bedeuten kann - sie kann die Kultur kristallisieren! - das verstand sie nicht. Für die Schulen wär das aber wichtig. Und das ganze horrende Aussortieren nach "Migration" würde überflüssig.



Frankfurt, den 11. Januar

Eine kleine Augenoperation hielt mich in den letzten Tagen beschäftigt. Scheint aber alles gut gelaufenzu sein. Wunderbar fand ich die Unterstützung durch Freunde, konkret durch ihre Anwesenheit, ideell durch fürsorgliches Gedenken. Danke!!

Am Wochenende davor begegnete mir ein 7jähriger Junge mit einem Spiel, das er sorgfältig in einem großen Karton verwahrte und das den Namen einer mittelalterlichen französischen Festung trägt. Ich ließ mich überreden, mit ihm und anderen das Spiel zu spielen. Es beginnt mit dem Auslegen eines quadratischen Kärtchens, dem Anfang einer Art von Puzzle, wo man an "Wiesen" oder an "Stadt" oder an "Straßen" anschließen kann. Manchmal befindet sich auch ein "Kloster" oder ein "Gutshof" oder sonstwas auf dem Kärtchen. Jeder Spieler verfügt über Spielsteine, die entweder "Gefolgsleute" oder "Bürgermeister" heißen oder die für ein wervolles Objekt gelten.

"Gefolgsleute?" fragte ich ungläubig. (Ein Wort, das ich mit Naziunwesen verbinde. Bei der HJ gab es "Gefolgschaften". Zur '"Gefolgschft" gehört immer ein "Führer".) Ich fragte: "Sind das Gefolgsmänner oder Gefolgsfrauen?" Der Junge dachte ein paar Sekunden nach: "Beides," sagte er. Ich fragte weiter: "Gehorchen die dem Bürgermeister?" Der Kleine verneinte, natürlich nicht, sie gehören dem Spieler, genau wie der Bürgermeister auch. Ich schüttelte innerlich mein sorgvenvolles Haupt: keine Demokratie, reiner Feudalismus.

Doch damit nicht genug: es gab nicht einmal so etwas wie ein Gemeinwesen. Scheinbar bauen die Spieler an einer Stadt, doch jeder bastelt sich seine eigene Kleinststadt, setzt Figuren drauf, um den Eigentümer zu kennzeichen und versucht, andere von ihrem "Eigentum" zu vertreiben. Da kämpfte jeder gegen jeden und das Land wurde total zersiedelt. Der Siebenjährige kannte sich brillant mit allen Spielregeln aus und gewann das Spiel sicher. Natürlich lässt man als "Großer" gern ein Kind gewinnen - aber bei einem Spiel, das sich auf eine Mentalität von Habgier, Eigennutz und Grausamkeit  stützt? Auch "Menschärgerdichnicht" ist grausam und rücksichtlos, könnte man einwenden. Es hängt ebenso vom Glück ab wie diese mittelalterliche Zersiedlung.

Andererseits: Muss man das so ernst nehmen? Entspricht der Geist des Spiels nicht dem Zug unserer Zeit? Sollten kleine Kinder sich nicht erst einmal in Ichsucht wälzen dürfen, bevor sie begreifen können, wie schön es sein kann, an andere zu denken und sich um das Gemeinwohl zu kümmern?

Diese Einwände kann ich nicht entkräften. Meine Erfahrung sagt mir allerdings, dass - vom Turm meines hohen Alters aus betrachtet -  die meisten Wohltäter, die ich kenne, schon früh mit der Wohltätigkeit begonnen haben. Das Leben ist für die meisten Entwicklungen zu kurz, um alles  zu umfassen.

 

Frankfurt, den 6. Januar 2011

Ein neues Jahr hat begonnen, und ich wünsche all meinen Leserinnen und Lesern, dass es ein friedliches werden möge. Wenn ich das so schreibe, so denke ich zuerst an meine Familie in Nahost. Möge sich bei Euch der Frieden nicht nur in Worten - "Schalom!" - "Salam!" -, sondern auch sonst im Alltag etablieren!

Ich war in Paris, ich war in Luxemburg, und es gab viele, intensive Gespräche. Mit Familie und Freunden war ich einmal in der Oper, einmal im Theater, und die Ausflüge bewegten mich noch in der Erinnerung wegen der Begegnungen und Gespräche, die dabei entstanden. Nicht wegen der Vorstellungen auf der Bühne, nein. Noch in Wiesbaden präsentiert man eine Oper interessanter als in der Großen Oper von Paris - lebendiger, fantasievoller, fand ich. Wenn ich an Shakespeares "Antonius und Cleopatra" im Wiesbadener Staatstheater zurückdenke, verfalle ich noch heute in Begeisterung. In Paris dagegen bietet das Innere der Opéra Garnier in seiner bombastischen Ausstattung das Ungewöhnliche und Aufregende. Da wurde vor und nach der Vorstellung mit unentwegten Blitzlichtern fotografiert, das war die unvergleichliche Erinnerung, die man mit nach Hause nahm. Zwischen Weihnachten und Neujahr leben in Paris überwiegend Touristen, und ein Intérieur wie das der Opéra Garnier dürfte es in der Welt kaum zweimal geben ....

Ein Buch nahm ich aus Paris mit, das mich noch immer beschäftigt: ein Roman von Jean Giono, "Un Roi sans divertissement". Das heißt, ich las es in Paris und bedaure nachträglich, dass ich es mir nicht gleich gekauft habe. Immerhin fand ich im Internet mehrere hochgelehrte Aufsätze über diesen Roman. Das ist kein Zufall, denn er dient dieses Jahr als Pflichtlektüre für Abiturienten, und zwar unter der Rubrik "zeitgenössische Literatur", obwohl er doch schon 1947 zum erstenmal erschienen ist, also vor mehr als 60 Jahren. Seinerzeit konnten nicht viele Leute etwas mit dem Buch anfangen, während es heute als Hintergrund für weitläufige Interpretationen dient. Es genügt überhaupt nicht, die gelehrten Aufsätze zu lesen, nein, dabei würde man wahrscheinlich sogar den Kontakt verlieren, den die direkte Lektüre des Originals etwa in meinem Geiste aufbaute. Ein Bild nach dem andern, ein Weiterdenken, ein Befragen der handelnden Personen, ein Antworten auch, eine unentwegt weiter bebende Spannung, das war es, was ich mit heimnahm. Mir schien, ich hätte damit einen Blick hinter die Kulissen des öffentlichen Frankreichs geworfen, hinter eine Bühne, auf der so wenig zu passieren scheint, eigentlich nichts außer Tratsch ("Carla"), ein bisschen Korruption ("L'Oreal") und den üblichen Ritualen (Austern essen zu Weihnachten etc.). Aber all die Fragen, die "Un roi sans divertissement" aufwirft, die stürzen einen in die chaotische Gegenwart, in der nichts eindeutig, nichts nur böse und nur gut ist und in der man sich so schwer zurechtfindet. Der "Abiturient", bei dem ich das Buch entdeckte, ist sechzehn Jahre alt. Ist er nicht zu jung, um die Handlung in das allgemeine Weltgeschehen einbauen zu können? Ich werde versuchen, dieser Frage auf der Spur zu bleiben.

 

Frankfurt, den 19. Dezember

Anmerkungen zu „Abolitionisme“:

 

Endlich habe ich die französische Übersetzung abgeschickt, um die ich gebeten worden war, zu der ich mich vor knapp einer Woche bereit erklärt hatte, meinem Grundsatz zum Trotz, wonach ich als Nicht-Muttersprachlerin nicht in der Lage bin, ein gutes richtiges Französisch in einer Übersetzung zu produzieren. Andere Landsleute machen es trotzdem, und ich bin auch nicht unbedingt schlechter als jene .... Eitelkeit?? Ich will mich nicht davon freisprechen; doch die Hauptmotivation entstammte der Sache, um die es hier ging: Antirassismus, Freizügigkeit.

„Eine Konferenz zu Bilanz und Perspektiven antirassistischer Bewegung“ fand letzte Woche in Frankfurt statt, wie schon erwähnt. Das Einleitungsreferat, von mehreren Autoren gemeinsam geschrieben, vertrat eine These, kühn, neu, provokant. Die These lautete, in meiner Zusammenfassung: Als manche Menschen zuerst die Abschaffung der Sklaverei forderten, galten sie als Spinner oder Utopisten. Dank der Solidarität einer hinreichend großen  Anzahl von Menschen wurde die Sklaverei abgeschafft. Später ging es um Rassentrennung, die Autoren denken dabei vor allem an Südafrika. Sie wurde dort inzwischen aufgehoben, weil sich die ganze Welt dagegen gewehrt hatte. Heute flüchten Migranten in die EU, werden oft weit vor deren Grenzen abgefangen oder in den Tod geschickt; die Migranten stammen größtenteils aus Afrika, aus den ehemaligen Kolonien Europas. Daraus folgte die Forderung: Freizügigkeit für alle Migranten! Nieder mit Schengen! Das bisschen Differenzierung, das ich hier und da entdeckte, bestand darin, dass Einreise-Genehmigungen nicht nur nach Arbeitskraft erteilt werden dürften, sondern dem Streben nach Freiheit zuliebe, d.h. für alle ohne Ansehen der Herkunft. Die einstigen Kolonisierten stehen vor Europas Toren und fordern: „Freiheit!“ Die schlechthinnige Utopie.

Meine Zusammenfassung klingt wie eine Parodie, nicht wahr? Ärgerlicherweise steht dem die Tatsache entgegen, dass die ehemaligen Kolonialländer grad so wie Nicht-Kolonialländer, vor allem aber die Industrie und die Weltwirtschaft in die afrikanischen Länder hineinregieren, sich dort einmischen, immer zum eigenen Vorteil, selbstverständlich. Unter „Coltan“ z.B., ein Erz, das es fast nur in Kongo gibt, lese ich bei Wikipedia: „ ... ermöglichen die Einnahmen aus dem Bergbau und mangelhaft kontrollierte Embargos den lokalen Milizführern – vor allem Rebellen des Rassemblement Congolais pour la Démocratie (RCD, „Kongolesische Vereinigung für Demokratie“) – die Bezahlung von Soldaten, den Kauf von Waffen und die Fortsetzung des Bürgerkrieges. Als Geschäftsführer setzte die RCD eine in der ganzen Region berüchtigte Frau ein: Aziza Gulamali Kulsum, die schon seit Jahren einen Großteil des Handels mit dem begehrten Erz dominiert. Sie war jahrelang die Hauptgeldgeberin der Hutu-Rebellen in Burundi, die inzwischen vom benachbarten Kongo aus operieren. Einem kongolesischen Forschungsinstitut (Pole Institut – Institut Interculturel dans la Région des Grands Lacs) zufolge ist Gulamali eines der zentralen Glieder des Netzes aus Waffenhändlern und Schmugglern in der Region. Rund die Hälfte des weltweiten Coltans wird von H. C. Starck, bis 2006 eine hundertprozentige Tochterfirma der Bayer AG, aufgekauft und verarbeitet. Weitere wichtige Verarbeiter sind Treibacher (Österreich), Cabot (USA), Mitsui (Japan) und Ulba (Kasachstan) ...“

Beim wilden Coltan-Bergbau in Ost-Kongo herrschen Elend und Grausamkeit. Braucht es viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass davor ein jeder gern flüchten möchte? Ins sichere Europa einreisen?

Soweit ich erkennen konnte, ging die Konferenz diesem Widerspruch aus dem Wege. Ihre Aufgabe sah sie allein darin, die unmenschlichen Situationen von Migranten in den Vordergrund zu stellen, den Gegensatz zwischen ihrem Elend und der relativen sozialen Sicherheit innerhalb der Schengenfestung hervorzuheben und Wege zu zeichnen, auf denen sie den Migranten über die Grenze helfen könnte.

Hat nicht jeder Mensch ein Recht zu reisen, wohin er will?  Hier kommt  eben die  Utopie ins Spiel .....

Aber auch die Frage: wohin WILL der Mensch denn? Etwa zu den Bergleuten im Coltan-Abbau? Oder in die Slums der Grenzstädte von Mexiko? In die Arbeitslosigkeit, die steigende Verwahrlosung von Bagdad oder Kurdistan? Und so weiter ...








   

Frankfurt, 14. Dezember

Das Lieblingsbuch von Schopenhauer: Über einen Vortrag von Urs App

gehalten am 14. Dezember im "Hochstift" neben dem Goethehaus


„Upnik’hat“ hieß Schopenhauers Lieblingsbuch, es lag in seiner Wohnung in der „Schönen Aussicht“ zu Frankfurt immer offen parat, und der Philosoph las jeden Tag darin. Für ihn war es das bedeutendste Buch der Weltliteratur.
Das Buch enthielt die lateinische Übersetzung von fünfzig Upanischaden – das sind indische Weisheiten, philosophisch, religiös, praktisch. Die frühesten Upanischaden stammen aus den ersten Jahrhunderten vor der Zeitenwende, es wurden immer neue Upanischaden verfasst, das gilt bis heute. Sie dienen als Anhang zu den Veden und werden, wurden jedenfalls, in Sanskrit geschrieben. Veden und Upanischaden galten lange Zeit als geheim.  Ein französischer Wissenschaftler verdingte sich um 1775 als einfacher Soldat auf einem britischen Schiff und kam auf diese Weise nach Indien. Er lernte Persisch, er machte Bekanntschaft mit indischen Gelehrten, er kehrte mit ca. 150 Schriften nach Europa zurück und wurde „orientalischer Dolmetscher“ in der königlichen Bibliothek zu Paris.
Sein Name : Anquetil-Duperron (1731-1805). Er selbst übersetzte die Upanischaden, die in seinen Besitz gelangt waren, aus dem Persischen. Ja, auch ihm gelang kein Zugriff auf die Originale, nur auf persische Übersetzungen. Solche gab es in Europa bis dahin aber auch nicht. Weil Anquetil-Duperron eine französische Übersetzung als unangemessen erschien, wählte er das Lateinische. Dafür fügte er  noch weitere Aufsätze aus eigener oder fremder Feder hinzu, ganz im Sinne einer modernen Fortschreibung der Upanischaden. Diese selbst machen nur etwa die Hälfte des Buches aus. Es erschien 1802 in Paris.
Das Buch hieß „Upnik’hat“. Schopenhauer lieh es bei einem Freund aus und kaufte sich dann bald ein eigenes Exemplar. Dieses füllte er mit zahlreichen Anmerkungen und Unterstreichungen, in schöner, gleichmäßiger Tintenschrift. (Schopenhauers Exemplar befindet sich im Archiv von Frankfurt am Main – gegenwärtig ausgestellt in der Schopenhauer-Ausstellung im Karmeliter-Kloster.) „Upnik’hat“ gehört neben Platon und Kant zu den Grundlagen der Schopenhauerschen Lehre. Daran ließ Urs App in seinem Vortrag über Schopenhauers Lieblingsbuch keinen Zweifel. Er legte auch dar, dass mit diesem Buch in Europa die Geistesrichtung des „Orientalismus“ ihren Anfang nahm, und dass Schopenhauer an dem Aufstieg des Orientalismus keinen geringen Anteil hatte. Indische Mystik und Schopenhauers Idee von „Wille und Vorstellung“ haben demnach miteinander zu tun. Schopenhauer sagte von sich selbst, er sei kein Mystiker, doch sein „System“ verweise auf die Mystik. „Mystik“ strebe an, das „Ich“ und den „Willen“ aufzulösen, so  Professor App.
Der Professor bereitet ein Buch mit dem Titel „Die Geburt des Orientalismus“ vor. Er erwähnte nebenbei, dass nur ein einziger christlicher, europäischer Mystiker sich zwischen dem Rationalen und dem Mystischen hin- und herbewegt habe: Nikolaus von Kues. Schopenhauer selbst kannte sich mit Jakob Böhme aus.

Frankfurt, 11. Dezember

Viele Hundert junge Menschen saßen im Saal, auf dem Boden an den Rändern des Raumes fast genauso viel wie auf den Stühlen. Sie wohnten gestern abend der Eröffnung einer Konferenz bei, die dieses ganze Wochenende, noch bis morgen, in der Universität in Bockenheim stattfindet. Eingeladen hatte (mich) eine Antirassistische Gruppe, doch die Organisation wird von vielen Gruppen getragen. Ich las Schlagwörter wie "niemand ist illegal", "nobordercamp", "SOS Mittelmeer" - es ging um Flüchtlinge, um Bleiberecht für Menschen, die hier leben; es ging um Antirassismus.

Ich war zum Dolmetschen gebeten worden, nur für gestern abend, nur für das Einführungsreferat, und ich hatte zugesagt. Ich sollte ins Französische übersetzen, etwas, das mir sehr viel schwerer fällt als das Umgekehrte, vom Französischen ins Deutsche. Ich bekam den größten Teil des Textes erst einen Tag vorher und hatte nicht mehr genug Zeit, um alles im voraus ins Französische zu bringen. Einen letzten Absatz las ich erst gestern abend zum erstenmal.

Dementsprechend war ich nachher mit mir unzufrieden; die jungen Redner lasen ab, sprachen schnell, und es war mir unmöglich, ihnen in den Passagen vollständig zu folgen, die ich nicht mehr hatte vorübersetzen können. Ich weiss aber nicht, wieviele Frankophone eigentlich auf die Übersetzung angewiesen waren. Die meisten verstanden doch Deutsch.

Frustriert und erschöpft bin ich kurz nach der Beendigung meiner Arbeit heimgegangen. Zuhause studierte ich noch die Broschüren und Flugblätter, die ich mitgenommen hatte, und war beeindruckt von der Kraft, die hinter diesen Bestrebungen steht, denen es um Freiheit, vor allem Bewegungsfreiheit, für alle Menschen geht. Und haben sie nicht recht? Viele Aktionen zum Schutz der Grenzen könnten wohl menschlicher gestaltet werden; aber es stehen ja immer auch Wirtschafts- und Machtinteressen bestimmter Gruppen dahinter, die das Vorgehen der "Ordnungskräfte" ins Unmenschliche umdrehen.

Welche Ordnung? Und was geschieht mit den Kindern?

Wer sich dafür interessiert, kann wohl Näheres unter www.CONFERENCE.W2EU.NET erfahren.

Frankfurt, 8. Dezember

Zwei Wochen lang widmete ich mich mehr oder weniger meine Familie. Ich stellte mal wieder fest: Familie und Schreiben behindern sich gegenseitig. Eine seltsame Feststellung? Mir fällt Thomas Mann ein, von dem berichtet wird, dass er tagsüber seine festen Schreibzeiten hatte und dass seine Kinder sich im Haus dann sehr ruhig verhalten mussten.

Es hängt wohl auch mit dem festen Willen zusammen, sich beim Schreiben nicht stören zu lassen, der bei mir offenbar schwach wird, wenn ich für meine Familie da sein will. Für Kinder und Kindeskinder, für Geschwister, Vettern und Kusinen, für Nichten und Neffen und alle, die dazugehören. Es fließt eine andere Stärke aus solchen Begegnungen als ich sie beim Schreiben finde. 

Wie könnte ich die Stärke aus dem einen Feld in das andere mit hinüberholen? Geht das überhaupt?

Worin besteht denn die Stärke der Familie? Ich denke: in den gemeinsamen Erinnerungen. In wirklichen oder erfundenen Ähnlichkeiten. In gefühlten Zustimmungen. Doch die Erinnerungen bilden die Grundlage. Aus ihnen erwächst die Person.

Beim Familienfest vom letzten Jahr wandte ich mich den Kindheits-und Jugenderinnerungen zu, indem ich alle in meine Geburtsstadt Dortmund einlud. Es wurde wirklich ein Fest der gemeinsamen Erinnerungen, an das sich wiederum alle gern erinnern.

Dieses Jahr stellte ich umgekehrt beim Familienfest meinen Luxemburg-Roman in den Mittelpunkt; ich bereitete eine Auflage aus 37 Exemplaren davon vor und las zum Festessen ein Stück daraus. Es war die "Abitursrede" zum Hamlet; der junge Protagonist weist darin nach, wie unser Recht sich seit Hamlet und u.a. auch dank Hamlet vom Rachedenken hin zur Gewaltenteilung und zum Lebensrecht für alle gewandelt hat. Weg von der Rache - dieses Thema wird doch heute wieder aktuell! Und es hat mit der deutschen Geschichte zu tun, deren individuelle Ausprägung Gegenstand meines  Romans ist. Er heißt "Endersgründchen oder das Jahr der Frau" - wer möchte, kann ihn bei mir für 9,50 € zuzügl. Porto bestellen. Es ist dank der grafischen Hilfe von Pascale Velleine ein auch ästhetisch ansehnliches Buch daraus geworden.

Noch habe ich kein Feedback von der Familie erhalten .....

 

Frankfurt, 1. Dezember

Gestern vier Stunden am Frankfurter Flughafen in der Schlange gestanden. In einer der Schlangen. Die Schlange für normale Reisende zog sich (gefühlte) fünfhundert Meter lang durch die Gänge. "Wir sind seit 24 Stunden hier!" sagten manche mir. Ein anderer: "Es sind vierhundert Flüge gestrichen worden!"

Meine Begleiterin wollte einen Flug erreichen, der bislang nicht gestrichen war. Wir kamen zweieinhalb Stunden vor dem Abflug an, mit dem Bus, ohne Gedanken an besondere Schwierigkeiten. Es lag ein bisschen Schnee, doch hatte es schon seit Stunden aufgehört zu schneien. Was kann man tun, um in ein wartendes Flugzeug zu gelangen? Am einfachsten: man reist ohne Gepäck. Meine Begleiterin führte einen Koffer mit sich. Ihre Bordkarte zog sie aus einem Automaten - immerhin hatte sie einen "Fensterplatz" in Aussicht. Doch den Koffer konnte sie nur an einem Schalter loswerden. "Wer heute noch fliegen will", sagte eine Flughafenbedienstete uns um neun Uhr morgens, "der kann sich am Schalter der Business-Klasse anstellen." Diese Schlange war zu dem Zeitpunkt tatsächlich nur einhundert Meter lang.

Für das Flugzeug wurden fünfviertel Stunden Verspätung angezeigt, was uns ermutigte, die Hoffnung nicht aufzugeben. Nach drei Stunden in der Schlange jedoch konnten wir absehen, dass wir mindestens noch eine Stunde bis zum Schalter brauchen würden. Rund um uns sprachen die Leute gelassen darüber, dass ihr Flug längst weg sei. Es ging ihnen nur noch um ein Umbuchen. Meine Begleiterin schlüpfte durch eine Lücke, gewann die Aufmerksamkeit einer Schalterbediensteten mit der Frage, ob sie sofort abgefertigt werden könnte, damit sie ihren Flug noch bekäme. Die freundliche Dame bejahte! Ich sofort mit dem Gepäckwagen hinterher. Es gelang! Mit zwei Stunden Verspätung flog mein Gast schließlich ab.

Nur ihr Koffer flog nicht mit, er landete woanders, sie wird ihn erst in zwei Tagen bekommen, wie ich später hörte.

Voller Bewunderung für die unerschütterliche freundliche Gelassenheit des Flughafenpersonals in diesem Chaos nahm ich meinen Bus und fuhr heim. Das Personal war spärlich, es verhinderte nicht die Entstehung wilder Schlangen, es konnte wenig helfen - aber alle bewahrten sich eine ansteckende Freundlichkeit.

 

Frankfurt, 23. November

Im Traum, aus den Tiefen meiner Träume, wo ich nicht hingelange, und doch ...

Samstag. In einem Trance-Zustand fuhr ich mit der S-Bahn nach Darmstadt. Trance? War ich müde? Nicht nur. Mein Besuch bei der Tagung des interkulturellen Frauennetzwerks hatte Empfindungen geweckt, die ich nicht definieren konnte. Sie beschwebten mich auf leichte und angenehme Weise. Lob hatte ich bekommen, am liebsten für das, was ich geschrieben habe. Im Buch "Wortwandlerinnen" steht eine Geschichte von mir, die jemanden angerührt hatte. Sie sagte es mir. Die Geschichte heißt "Zwei Sprachen". Wie lebt es sich auf verschiedenen Sprachebenen?

In Darmstadt lodert auf der Mathildenhöhe die Expressionismus-Ausstellung. Ich habe versprochen einen Text zu einem der Exponate zu schreiben. Die Gruppe Poseidon wird am 16. und am 23. Januar "Führungen" mit solchen Texten anbieten (nachmittags 16 Uhr). Ich suchte mir etwas aus. Manches lockte mich, der "Engelskopf" von Barlach zum Beispiel - wie viele Stunden verbrachte ich doch in meiner Jugend mit den Werken von Barlach! Wie fand ich mich wieder in diesen hölzernen Gesichtern, diesem unhörbaren Schrei der Körper! Aber als ich rausging, wusste ich: es wird "Der Golem" sein, ein Film von 1920. Nur zweieinhalb Minuten zeigt man als Endlosschleife im Museum, die Besucherin ist beeindruckt, aber versteht nichts. Was bedeutet "Golem"? Wen hat er interessiert? Warum hatte der Film Erfolg? Wer hat ihn gedreht? Im Museumsladen war die verheißene DVD-Kopie seit langem ausverkauft. "Wir sind nicht für den Einkauf zuständig", versicherten die Verkäuferinnen und tranken ihren Kaffeebecher aus. "Wir hätten die DVD schon bestimmt sechzigmal verkaufen können."

Ich fand diesen Stummfilm später im Internet und guckte ihn mir auf meinem Rechner an. Seither beschäftigt er mich, der Golem. Der Unfertige, die Gestalt, der Dummkopf. Neben ihm der christliche Ritter, die liebestolle Rabbinertochter. Das unschuldige christliche Mädchen, das die Welt in ihrer Unbefangenheit vor dem Verderben rettet, welches vom Golem ausgeht. Wer ist diese grobe Figur? Wer spiegelt sich in dem Ungeheuer?

Es bleiben mir ein paar Wochen, um darüber nach Klarheit zu suchen.

Frankfurt, 17. November

Eine Aufregung jagt die andere: gestern stellten der Brandes-&Apsel-Verlag und der "Literaturclub der Frauen aus aller Welt" das Buch "Wortwandlerinnen" in der Romanfabrik vor. Fast alle Autorinnen, die darin vorkommen, traten auf und lasen ein Stückchen aus ihrem Beitrag. Jede einzelne schaffte es, in den zugeteilten vier Minuten Lesezeit eine eigene Pointe unterzubringen, so daß die Lesung sehr unterhaltsam war.

Die Romanfabrik ist einer der Orte der Hohen Literatur in Frankfurt. Doch die Räume werden auch vermietet. Wahrscheinlich lief unser Abend gestern unter "Vermietung", denn der Leiter der Romanfabrik, Dr. Hohmann, nahm an dem Ereignis nicht teil. Er eilte nur einmal kurz vorüber. Doch das machte keiner von uns was aus. Wir freuten uns über den bis zum Rande gefüllten Saal von kundigen und freundschaftlichen Gästen.

Nun denken wir an die nächste Lesung (am 23.1. in Karben), an das nächste Buch (Thema noch ungewiss) und an unser Weihnachtsessen am 8. Dezember.

 

Frankfurt, 15. November

Das Lampenfieber hat sich gelohnt! Alles hat geklappt. Es war ein Experiment, das wir jederzeit wiederholen würden. Auch wiederholen möchten. Es kamen doch weniger Zuhörer, als wir uns gewünscht hätten. Ein feuchter November-Samstagabend war wohl nicht das ideale Datum.

Doch unser Publikum erwies sich als besonders interessiert und kompetent, indem wir mit ihm anschließend an unsere Aufführung über die Wirkung und die Bedeutung von Masken diskutieren konnten. Ein wenig auch über die Texte.

Unsere Darbietung war vom Konzept her vielfältig gebrochen und relativiert. Dennoch wollten wir fesseln, Aufmerksamkeit binden. Ankommen.

Mir scheint, das ist gelungen.

Zusätzlicher Beweis: ein kleiner Junge im Kindergartenalter hielt mehr als die halbe Zeit still! (Danach ging jemand mit ihm aus dem Saal.) Dabei war er keinesfalls von Angst gelähmt. Auch er diskutierte nachher mit.

Dank an alle, die dabei waren!

Frankfurt, 13. November

Lange hatte ich kein "Lampenfieber" mehr. Vor einer einfachen Lesung ist man vielleicht ein bisschen aufgeregt, aber echtes Lampenfieber fühlt sich anders an. Es verändert. Ich bin mit Lampenfieber nicht mehr die, die ich kenne, oder erkenne. Ich weiß nicht, wer ich bin. Gefühle, Bilder im Kopf, alles fremd. Wie in einer Höhle bewege ich mich, wo ich von Erscheinungen umgeben bin, die ich nicht fassen kann. Früher, als ich noch richtig Theater spielte, habe ich nie hingeguckt, habe versucht, den Zustand zu ignorieren. Die Zeit würde ihn überwinden. Es begann immer am frühen Nachmittag, und daran erkenne ich ihn wieder. Ein Zustand, der weder Ziele noch Schlaf erlaubt.

Gestern habe ich geprobt, und das sollte mich beruhigen. Eigentlich gibt es gar nichts zu proben.  Mein Kollege mit seinem überbordenden Zeitplan (als Lehrer, Vater, Ehemann, Schriftsteller und gelegentlicher Schauspieldirektor) hat sich nur deshalb drauf eingelassen, weil wir weitgehend improvisieren können. "Endlich mal wieder was selber machen!" jubelte er. Wir haben unserer Texte digital aufgesprochen, wir lassen sie ablaufen und "begleiten" sie mit unseren Masken. Ein Experiment. Ich habe es in meiner Mitteilung an die Presse und an Freunde wie folgt beschrieben:

"Masken-Poetik 
eine literarische Performance mit Barbara Höhfeld und Philipp Erbe in der Klosterpresse, Paradiesgasse 10, Frankfurt,
Samstag, 13. November 2010, 19,30 Uhr

Zwei Autoren, zwei Masken, zweimal Literatur. Wenn sich Barbara Höhfeld und Philipp Erbe hinter einer Maske verbergen, gleichen sie dann nicht jedem von uns? Trägt nicht jeder seine Maske? Solche Fragen stellt die Performance dem, der sich über die reine Unterhaltung hinaus auf Fragen einlassen möchte: Wo endet die Maske, wo beginnt der Mensch? Wo verbinden sich der Text und das Leben? Wie entstehen Bezüge zwischen Ungleichem? "

Die Performance passt als „Finissage“ zur laufenden Ausstellung der Bilder von Christiaan Tonnis. In unserem Rücken schaut Virginia Wolfe auf uns herab, Tonnis hat sie doppelt gemalt, im Spiegel oder als Maske ... Wir werden sie nicht grüßen können, denn Masken dürfen sich nicht umdrehen. Masken wirken nur von vorn.

Darüber ließe sich auch noch nachdenken: Masken wirken nur von vorn. Die große Virginia betrachtet uns also von hinten ... Das wiederum werden die Zuschauer nicht merken, weil Virginia sie ja von vorn betrachtet!

 

Montag, 8. November 2010

Warum gibt es nichts zu erzählen?

Weil ich zu viele Dinge treibe. Ich könnte rasch ein Programm aufstellen, mit all den Punkten, die ich bis heute abend, bis übermorgen, bis nächste Woche, bis Ende des Monats erledigen will oder muss oder sollte - doch ist für sowas dieses Tagebuch nicht gedacht.

Muss ich mir ein solch umfangreiches Programm aufbürden? Natürlich nicht. Aber wenn man überhaupt plant, wenn man Projekte entwickelt, sich etwas vornimmt, dann, ja dann, knäult sich das manchmal. Jetzt ist so ein Moment.

Morgen abend treffe ich mich nach meiner Feldenkrais-Stunde mit dem Schriftsteller-Kollegen Philipp Erbe zur Vorbereitung unserer gemeinsamen Performance am Samstag. Wir befassen uns mit einem Experiment.

Grundlage dafür ist eine einfache Lesung aus unveröffentlichten Werken: Philipp hat spaßige Liebessonette auf Lager, ich möchte Auszüge aus dem Roman, an dem ich schreibe, vortragen und die Reaktionen darauf entdecken. Philipp besitzt aber auch große Bühnenmasken, er ist als Lehrer mit Schülertheater betraut und blickt auf eine Menge Erfahrungen zurück. Beide hatten wir Lust, etwas Neues auszuprobieren. Jetzt müssen wir hoffen, dass ein paar Zuschauer mit uns die Neugier teilen. Am kommenden Samstag um 19 Uhr 30 in der Klosterpresse (Frankfurt, Paradiesgasse 10).

 

Frankfurt, 2. November

Meine hiesigen Verwandten hatten mir voriges Jahr einen Ausflug nach Franken geschenkt, ein gemeinsames Wochenende in einem Weinstädtchen am Main. Es heißt Volkach und liegt an einer Mainschleife. Letztes Wochenende fanden wir uns schließlich alle miteinander dort ein: acht mehr oder weniger entfernte Kusinen und Cousins.

Die Flussschleife windet sich durch liebliche Hänge, allesamt Weinberge, ringsum nichts als Weindörfer, bewohnt  von Winzern, bebaut mit Weinschänken. Schöne, gepflegte, meist alte Häuser, besonders in Volkach. Gestern bin ich heimgekehrt, es war Allerheiligen, ein Fest, das in Bayern als "das höchste katholische Fest" gilt, wie mir eine Verkäuferin von Schlecker freundlich sagte.  (Ich hatte meine Zahnpasta zuhause vergessen.) In Hessen ist Allerheiligen kein Feiertag, und so fiel mir bei einer Rundfunkmeldung auf der Heimfahrt auf, wie die bayerische Sprecherin mit Verwunderung in der Stimme meldete, dass die Frankfurter Börse "auch auf Allerheiligen" geöffnet habe, jedoch mit nur geringen Geschäften. Natürlich gering!

Es waren zwei fröhliche und sogar aufregende Tage: zwei Weinproben, zwei Spaziergänge, mehrere Kirchenbesichtigungen und viele Diskussionen. Ich nahm das Frühstück am Sonntag zur Gelegenheit, meinen Verwandten eine Szene aus meinem Roman "Ginsburg und der Rotkohl" vorzulesen, den sie bis dahin - mit einer Ausnahme - überhaupt nicht kannten. Ich las denselben Abschnitt wie vor zwei Wochen in Darmstadt "Unter den Arkaden", dort hatte er große Freude bewirkt. Meine Verwandten indes, eher im Wirtschaftsleben zuhause als im Literaturbetrieb, habe ich überrascht, möglicherweise in Verlegenheit gebracht; es gab erotische Andeutungen in dem ausgewählten Text. Nachher wurde aber nicht weiter darüber geredet.

Hätte ich besser eine andere Szene nehmen sollen?  Mal abgesehen davon, dass solch eine Überlegung müßig ist, weil sich das Erlebte nicht rückgängig machen lässt, hatte ich doch das Gefühl, dass unsere Beziehungen nach der kleinen Lesung unmittelbarer, sozusagen einfacher wurden. Wir sind alle bürgerlicher Herkunft, sind mit Benimmregeln aufgewachsen, und jeder hat sich zeit seines Lebens einen eigenen Weg herausgearbeitet, damit umzugehen, die eigenen Übertretungen ausgewählt. (Ohne Regeln keine Übertretung.) Ich selbst rede ja auch nie über Erotik, aber ich habe doch einiges darüber geschrieben, das ja. Vielleicht regt mich das Erlebnis in Volkach an, über diese Diskrepanz etwas nachzudenken.

Bei den Weinproben blieb ich nüchtern, so konnte ich wunderbar diskutieren: über Politik. Sarrazin hatten wir schon auf dem Hinweg im Auto abgehakt, es folgten erneuerbare Energien, Verlängerung der Atommeilernutzung, kulturpolitische  Gegensätze. Ich musste gegen Thesen wie "90% der Menschen sind dumm" bis "Ablehnung der Atomenergie ist Hysterie" argumentieren, bei einer Weinprobe hat das den Vorteil, dass man trotzdem Freund bleiben kann. Ich roch manchmal an einem Glas, um mir eine Meinung über den Wein zu bilden; bei einem Winzer kaufte ich zwei Bocksbeutel von einem freundlichen Traminer, den ich als Aperitif zu kredenzen gedenke.

Die ganze Zeit über schien die Sonne, Farben leuchteten, Bienen summten, Vögel  - halt, ich wollte schreiben "zwitscherten", doch erinnere ich mich an gar kein Vogelgezwitscher. Erst als ich wieder zuhause war, zwischen meinen vier, fünf Bäumen ums Haus, hörte ich dieses Zwitschern, ein leises melodiöses Pfeifen, das ich nicht zuordnen kann. Es muss sich hier ein neuer Vogel niedergelassen haben, den es früher nicht gab, und der singt sogar im Winter.

So vermengen sich alt und neu ....