Tagebuch Winter 2016/17

Frankfurt, 31. März

Wie ich aus dem Haus trete, erblicke ich den ersten Spargel-Kiosk! Freilich beglückt uns derzeit ein Wetter, das schon an Sommer erinnert - aber Spargel?? Den wir früher im Mai und Juni aßen, ich erinnere mich an die Parlaments-Sitzungen in Strasburg in diesen Monaten, da gehörte einmal-Spargelessen-gehen immer dazu. Und nun am 31. März!

Dieser Tage hörte ich die Direktorin des Jüdischen Museums, Dr. Miriam Wenzel, einen Vortrag über die Zukunft des Museums halten, es war sehr interessant. In Frankfurt ist momentan nur die Filiale "Museum Judengasse" geöffnet; das Palais Rothschild am Mainufer wird grundsaniert und gleichzeitig ein weiteres Haus im ehemaligen Garten errichtet. Danach wird man dort mehr Ausstellungsfläche, mehr Platz für die Bibliothek und auch mehr Veranstaltungsräume haben, etwa ab 2019. Worum wird es in der Dauerausstellung gehen? hieß eine der Fragen, und welche Sonderausstellungen sind geplant? Welche Epochen sollen zur Anschauung kommen, und wie wird der Holokaust behandelt, im Zusammenhang mit der 800-jährigen Geschichte der Frankfurter Juden? Nun: die Judengasse wird für die Geschichte bis 1800 zuständig sein; das große jüdische Museum übernimmt die Geschichte seit der Emanzipation bis heute. Allerdings wird die Darstellung 1945 unterbrochen. Ein Raum wird der Shoah gewidmet sein.

Anders als das Berliner jüdische Museum, das vom Bund betrieben wird und sich mit dem großen Allgemeinen befasst, widmet sich das hiesige Museum im Wesentlichen den Frankfurter Juden. Es ist nicht nur der kulturelle Bruch, der 1945 offenbar wird, und welcher eine Unterbrechung in der Darstellung erfordert; es hat auch damit zu tun, dass die jüdische Gemeinde vor und nach 1945 überhaupt nicht mehr dieselbe ist. Die heutige Gemeinde, so wie sie jetzt geworden ist, will ebenfalls im Jüdischen Museum präsent sein; darum kann sich das Museum nicht allein auf die alte deutsch-jüdische Geschichte beschränken. Ein Aspekt der neuen Perspektiven bei der neuen Gestaltung ist die Darstellung von Antisemitismus - dem gegenwärtig umgehenden Antisemitismus. Wenn die jüdischen Museumsfachleute noch vor einigen Jahren den Standpunkt vertraten, dass Antisemitismus ein Problem der nicht-jüdischen Gesellschaft sei, sie ihn deshalb nicht in ihr Programm aufzunehmen brauchten, haben sie inzwischen ihren Standpunkt geändert. Dr. Wenzel ging auf diese Frage nicht näher ein.

Aber als zum Schluss auch Fragen aus dem Publikum erwünscht waren - es kamen sehr kluge und weitsichtige Fragen - da wehte einen Moment lang auch ein Schwefelgeruch durch den Raum, nämlich als ein älterer Herr mit grimmiger Stimme fragte, vielmehr seinem Wunsch Ausdruck gab, wonach Dr Wenzel doch bitte  in Zukunft deutsche Ausdrücke gebrauchen möchte und nicht englische, wie etwa "outreach". (Dr. Wenzel hatte den Terminus erläutert: er wird verwendet, wenn Museumsveranstaltungen außerhalb des Museums stattfinden.) Die Direktorin schwieg nach dieser Aussage einen Moment, sagte dann in zurückhaltendem Ton: "Darauf brauche ich wohl keine Antwort zu geben." Erleichterung. Aber war das nicht eine Äußerung von Antisemitismus gewesen? Hätte der Herr, offenbar der besseren Gesellschaft angehörend, den gleichen Einwand gemacht, wenn beispielsweise der Direktor  (oder, Gott behüte, eine Direktorin) sagen wir des Architekturmuseums einen Fachausdruck aus der Architektur gebraucht hätte, der keine deutsche Wurzeln gehabt hätte?

Das sind spekulative Fragen. Mein Gefühl sagt mir, bei einem Mann hätte sich der Herr mehr in acht genommen, aber bei einem Nichtjuden wäre ihm der Einwand gar nicht eingefallen. Vermutlich war ihm das Wort unbekannt. Unter nichtjüdischen deutschen Männern der besseren Gesellschaft herrscht auch eine gemeinsame Sprache - sie wissen, welche Fremdwörter anerkannt sind und welche nicht. Dr. Wenzel hatte mit "outreach" provoziert - und der bessere Herr ist auf die Provokation reingefallen.

In den USA spielt Antisemitismus seit Trump eine größere Rolle - unter den Juden selbst gibt es da gegenläufige Tendenzen. Trump-Gegner sehen ihn woanders als Trumpbefürworter, es entstehen regelrechte Spaltungen unter den Juden.

Es sind schwierige Fragen.

In zwei Wochen tritt Tuvia Tenenbaum in Frankfurt auf - da wird das thema auf der Tagesordnung stehen! Ich muss mir noch dringend eine Eintrittskarte besorgen.

 

 

Frankfurt, den 12 .März

 

Über Didier Eribon und seine „Rückkehr nach Reims“

Gerade ausgelesen habe ich ein französisches Buch, das in der (deutschen) Presse als „Autobiografie“ bezeichnet wird. Mir erscheint es als die Wegbeschreibung einer gelungenen Psychotherapie, einer Selbsttherapie, bei der der Autor anfangs langatmig, unsicher und voller Selbstmitleid die Welt dafür anklagt, wie schlecht es ihm früher gegangen sei, und sich  erst auf den letzten Seiten des Buches selbstbewusst, klar und in Kenntnis der Sachlage äußert. Immerhin ist er heute Professor für Soziologie in der nordfranzösischen Stadt Amiens. Am Ende verstand ich wieso. Doch über lange Strecken empfand ich das  Buch als langweilig, geschwätzig, trivial.

Dann aber nahm ich beim Lesen den Bleistift in die Hand, um einige Zeilen zu unterstreichen, die ich später wiederfinden wollte, wie zum Beispiel dort, wo von der  „Arbeiterklasse“ die Rede ist: „wir müssen im Gegenteil zu verstehen suchen, warum und wie die unteren Klassen (‚les classes populaires’) sich ihre Lebensbedingungen mal notwendigerweise  als auf der Linken, mal wie selbstverständlich als auf der Rechten verankert vorstellen.“  Es geht ihm um die Frage: warum wählen die, die früher für die Kommunisten stimmten, jetzt den Front National? Mit diesen oder analogen Fragen beschäftigen sich heute viele besorgte Menschen in ganz Europa.  Entsprechend endet das Kapitel mit der Formulierung einer an die sozialen Bewegungen und die kritischen Intellektuellen gerichteten Aufgabe: sie sollen den theoretischen Rahmen und die unterschiedlichen Möglichkeiten einer politischen Sicht auf die Realität konstruieren, die es erlauben, die innerhalb der Gesellschaft und insbesondere in den unteren Klassen wirkenden negativen Leidenschaften – nein, nicht auszulöschen, das geht nicht – aber zu neutralisieren; sie sollen andere Perspektiven anbieten und so eine Zukunft entwerfen, die man wieder ‚die Linke’ nennen könnte.“ (Meine Übersetzung)

Was mich faszinierte: eine neue Sicht auf den bis heute fortlaufenden Klassenkampf in der Gesellschaft, vor allem dessen sozusagen unterirdischen Verlauf, den die unteren Klassen oft gar nicht oder nur diffus bemerken. In Frankreich gibt es Universitäten, deren Besuch jedem Absolventen eine glänzende Karriere sichern, wie etwa die ENA (Verwaltungshochschule). In Paris beginnt die Selektion bei den Gymnasien (dort sind es zwei Gymnasien, die ihren Schülern und Schülerinnen später gute Stellungen ermöglichen). Doch um aufgenommen zu werden,  gilt es, die einzuschlagenden Wege gut zu kennen. Bourgeoise Mütter denken schon Jahre zuvor darüber nach. Nicht-bourgeoise Mütter wissen nicht einmal davon. In Deutschland ist die Entwicklung noch verborgener, insofern es von den einzelnen Lehrern in den Grundschulen abhängt, ob ein Kind sich auf eine weiterführende Schule hin bewegen kann oder darf; aber auch hier gilt: wenn die Eltern sich nicht dafür interessieren, auf welche Schule ein Kind zusteuern sollte oder könnte, wird das Kind höchst wahrscheinlich auch seinen Blick und seine Anstrengungen nicht darauf richten, und damit die Voraussetzungen für einen Aufstieg  nicht erfüllen.

Didier Eribon ist schwul, und  der Unterschied zwischen ihm und der Mehrheit drängte sich ihm relativ früh auf. Instinktiv erkannte er, dass nur Erfolge im Schulsystem ihm zur Freiheit verhelfen konnten; er passte sich an, wo immer ihm das gelang. In seiner „Autobiografie“ addiert er seinen Status als Arbeiterkind zu seiner Homosexualität – seine jüngeren Brüder beschwerten sich später, dass er sie im Stich gelassen habe, ein Vorwurf, den er im Buch weit von sich weist, angesichts seiner eigenen Probleme.  Mir erschien über weite Strecken des Buches die Vermischung der beiden Hemmnisse – Herkunft und Schwulsein – als verwirrend, schwierig, und wie gesagt, larmoyant. Als Frau begegnete ich ähnlichen Hindernissen wie ihm, dem Schwulen – und während ihm, als Mann, die Erfüllung seiner sexuellen Bedürfnisse ein Recht zu sein schien, das er trotz dummer Beschimpfungen selbstverständlich in Anspruch nahm, galt das  für Frauen ja durchaus nicht. Ebenso wenig standen Frauen Berufskarrieren offen – auch diese mussten sie sich erkämpfen. Und das ist heute nicht völlig passé. Entsprechend mochte ich kein Mitleid mit dem Mann  haben.

Bewunderung hingegen empfand ich zum Schluss, als der Autor herausfand, inwiefern manche Thesen von Foucault oder Bourdieu nur als bürgerlich zu begreifen sind, und nicht für die Arbeiterklasse gelten, was den genannten Philosophen aber nicht bewusst war. Diese Analysen erlauben mir, eigene Standpunkte zu hinterfragen und andererseits das Verhalten mancher anderer Menschen besser einzuordnen.

Ich sehe diesen Hintergrund zum Beispiel auch in dem Konflikt, der gegenwärtig im Verhältnis zur Türkei in Europa ausgetragen wird: Ehre gegen Vernunft. Jedenfalls sagte Antonia Rados (eine deutsche Reporterin, deren knappe Klarheit ich bewundere), dass viele Türken es als eine Beleidigung ihrer Ehre ansähen, wenn türkische Minister nicht in Europa Propaganda für ihr Referendum machen dürfen. Wieso „Vernunft“? Nun, ist die Abschaffung demokratischer Beschluss-Formen, wie sie das Referendum vorsieht, denn vernünftig? Ist es vernünftig, dass innerhalb der Türkei solche, die für „Nein“ plädieren, als Terroristen und Verräter bezeichnet werden? Vernünftig, wenn in Europa die türkisch-stämmigen Anteile der Bevölkerung gegeneinander und gegen ihre zumindest zweite Staatsangehörigkeit aufgehetzt werden? Andererseits, und da bin ich  möglicherweise „bürgerlich“ oder bourgeois: eine seltsame Vorstellung von „Ehre“, die mit Lügen und Beschimpfungen arbeitet.

Ob dahinter nicht im Grunde die „Virilité“ steckt, die Männlichkeit, die selbstverständlich heterosexuell ist, denn sie will die Herrschaft  über  Frauen und Männer?

„Die Rückkehr nach Reims“ von Didier Eribon, obwohl zu lang und oft langweilig, mündet zuletzt in grundsätzliche Fragen, die zu stellen sich lohnt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 


Frankfurt, den 11. März

An den Haltestellen hängen momentan Riesenplakate, von denen der Passantin das Wort "Betrete" entgegenspringt. In kleineren Buchstaben geht es weiter mit "das strahlende Reich des Sonnenkönigs". Es ist eine Reklame für Versailles, für den französischen Tourismus und für die Eisenbahn. Jedesmal ärgere ich mich, wenn ichs sehe. Natürlich ist das ungesund, ich sollte lachen. Aber du lieber Himmel - worüber denn?

In korrektem Deutsch heißt der Imperativ Einzahl des Verbs "betreten": Betritt! Hat hier ein Aggrégé d'Allemand die Übersetzung getätigt? Nein, soviele Fehler wären dem nicht unterlaufen. Denn man betritt einen Rasen, man betritt fremden Boden, aber man betritt kein Reich,  in ein Reich tritt man ein! Und dieses Reich soll auch noch strahlen - ich bitte Sie, wer möchte denn heute bestrahlt werden? Das tut man als Kranker, im Notfall. Tatsächlich erkennt man hinter den Worten ein Bild: einen prächtigen hell erleuchteten Saal, ich vermute, es ist der Spiegelsaal im Schloss von Versailles. Um zu wirken, müsste das Bild aber viel größer sein mit seinen unendlich vielen Details, wohingegen ja fast die Hälfte des Plakats  mit Schrift bedeckt ist, mit dem größeren Teil des Satzes, mit dem verlockenden Fahrpreis ("ab 39 €" - haben Sie schon mal eine Karte für 39 € ergattert? Ich nicht), mit den Logos der verschiedenen Bahn- und Touristik-Gremien.

Ich würden den Satz so formulieren: Tritt ein in die glanzvolle Welt des Sonnenkönigs!

Ja, mit Ausrufezeichen.

Aber vielleicht bin ich einfach nur alt und habe den Kontakt zur herrschenden Sprache verloren...  Trotzdem schade. Nur lustig kann ich daran noch immer nichts finden. Ob mir wohl bis morgen noch eine humorvolle Wendung einfällt?

Frankfurt, den 2. März

Jemand, den ich schätze, empörte sich darüber, dass Donald Trump nach eigener Behauptung im 68. Stock seines Wolkenkratzers wohnt, obgleich das Gebäude gar nicht mehr als 58 Stockwerke besitzt. Der Freund ärgerte sich sehr über diese Frechheit. Dabei fiel mir ein, wass ich mit eigenen Augen in New York gesehen hatte, dass nämlich in meinem Hotel der 13. Stock nicht vorkam, dass also auf den 12. gleich der 14. Stock folgte. Damals hatte mich das sehr gewundert. Als ich es dem Freund berichtete, meinte er, das sei überhaupt nicht vergleichbar. Das sei eine Frage des Aberglaubens, und damit verständlich.

Seit Tagen denke ich darüber nach: was bedeuten Zahlen? Als ich einst mit einer Drittklässlerin rechnen übte, musste ich ihr zunächst begreiflich machen, wie man zählt: keine Zahl auslassen, immer eine nach der Anderen. Jede Zahl hat ihren unverrückbaren Platz. Nur auf dieser Grundlage ist das Rechnen überhaupt möglich. 

Nun grüble ich weiter: Beim Zählen von Stockwerken nach den Regeln von Aberglauben und Trump'schem Größenwahn verlieren die Zahlen ihre Grundbedeutung, es lässt sich mit ihnen nicht mehr rechnen. Im Hotel wird das dreizehnte Stockwerk ja nicht leer gehalten, oder einfach gestrichen - man nennt es bloß das vierzehnte, es ist es aber nicht. Es ist immer noch das dreizehnte. Man sagt es bloß nicht. Im englischen Wikipedia werden ohne weiteres Mieter oder Eigentümer beim Namen genannt, die im "59." oder im "60." Stock wohnen. Das heißt, auch andere außer Trump bedienen sich unbekümmert  der falschen Nummerierung. Die Zahl wird zu einem Namen.

Da stellt sich mir die Frage: Was ist heute eigentlich Lüge? Wo fängt sie an? Führt die Unsicherheit hinter dieser Frage vielleicht auch dazu, dass Literatur immer mehr an Wert verliert? Dass man lieber Krimis oder Dokus ansieht als rein fiktionale Filme? Überhaupt: die Werbung. Sie durchsetzt unseren Alltag überall. Als mein Enkel klein war, lehrte ich ihn: Werbung ist Lüge. Mit dem, was man dort sagt oder zeigt, will man nicht die Wahrheit sagen, sondern dir das Geld aus der Tasche ziehen. Werbung zielt immer auf dein Portemonnaie!

Seit die Philosophen herausgefunden haben, dass es EINE Wahrheit nicht gibt, breitet sich insgeheim und immer offener die Lüge aus, weil nun viele Leute nicht mehr den Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge erkennen können. So ergeht es offenbar auch dem Herrn Trump. Er muss ausprobieren: was für seine persönlichen Ziele und Zwecke funktioniert, und das ist dann die Wahrheit, alles andere nicht. 

Will man die Wahrheit außerhalb des eigenen Vorteils finden, braucht man Zeit dafür. Es ist möglich, zumindest Lüge zu erkennen, doch dauert das oft sehr, sehr lange. Und man darf nicht müde werden.

Vielleicht steckt in diesem Dilemma ein Ursprung der Religionen?

 

 

Frankfurt, den 1. März

Lange hab ich nichts mehr von mir hören lassen. Ich hatte einen Monat lang selbst keinen Zugang mehr zu meinen Tagebüchern, weil das System renoviert werden musste und ich mit den neuen Formen nicht zuerecht kam. Jetzt scheint es wieder zu funktionieren!

Nun verändere ich hier und da etwas. Vor allem aber schreibe ich wieder Tagebuch. Hier folgt, was ich gestern und vorgestern geschrieben:

 

FFM, 27. Februar

Ich möchte vier Bücher nennen, die mir in jüngster Zeit zugeflogen sind und die ich sehr schön finde.  Die zu lesen, die am Abend wiederzufinden, Freude macht. Eins davon ist Band 4 der „Jacob-Böhme-Studien“ und trägt den Titel „Beiträge zu Philosophie und Philologie“.

Jacob Böhme war ein Schuster aus Görlitz; er hat dort von 1575 bis 1624 gelebt. Bekannt ist er als „Mystiker“ – ziemlich spät, wenn man bedenkt, dass er drei Generationen nach Luther geboren ist!  Hegel nannte ihn den „ersten deutschen Philosophen“.  Böhme schrieb Deutsch, aber die Rechtschreibung war noch nicht festgelegt; er ging frei damit um. Er wurde gedruckt. Nach seinen ersten Veröffentlichungen erteilte ihm die Görlitzer Obrigkeit „Schreibverbot“; er schrieb weiter für sich, um die eigenen Gedanken und Erkenntnisse festzuhalten. Nach zwölf Jahren ließ er wieder Schriften drucken, diesmal unter der Bezeichnung „philosophicus teutonicus“. Er hatte bedeutende Leser.

Eine seiner Überlegungen galt dem „Urteil“. Er erklärte sich „Ur-Teil“ als die erste Unterteilung, Differenzierung – denn vorher war alles in Gott und Eins.  Luzifer, der Lichtbringer,  entsteht aus der Teilung, und mit ihm das Gute und das Böse. Von nun an kann jeder unterscheiden, sich entscheiden: für das eine oder das andere. Jeden Tag, bei jeder Gelegenheit.  So entsteht Freiheit. Böhme hielt Freiheit sehr hoch. Jedes lebendige Ding enthält in seinem Inneren ein „Ur-Teil“, sagt Böhme. Das ist Leben. „Das Leben quillt aus der Qual“. Hegel hat diese Weltsicht dialektisch genannt. Das Leben nach Böhme wäre nur dialektisch zu begreifen.

Mein zweites Buch heißt „Unwetter über der Landschaft“ und enthält „neuere montenegrinische Dichtung und Prosa“. Herausgeber ist Ranko Cetkoviĉ; er hat auch einen großen Teil der Gedichte ins Deutsche übertragen. Der Verlag befindet sich in Cetinje/Montenegro, einer Stadt am Meer. Was macht das Buch so anziehend? Die immer poetischen Text- gleich ob Prosa oder Lyrik – lassen Zustände erstehen, wie sie zu Kriegen passen, und es ist doch kein Krieg.  Es ist Freiheit, aber wie? „wir kehren zurück / dorthin wo einst unser Friedhof war /.... ..../ wir waren die  Leere / unter der weggeworfenen Maske / erstickt durch Worte / /die uns so leicht von den Lippen“ (von Mladen Lompar – Deutsch von Ranko Cetkoviĉ). Seelenzustände, die der Verstand nicht fassen kann. Und doch findet jemand die Worte.

Mein nächstes Buch, und ich stelle keine Hierarchie, keine Wert-Ordnung auf, heißt „L’écharpe rouge“ von Yves Bonnefoy. Der Ich-Erzähler, ein alter Mann und berühmter französischer Dichter, spricht über seine Eltern, über die Zeit seiner Eltern und seine eigene Zeit, die eine ganz andere war. Er berichtet von einer Suche, die tief ins eigene Unterbewusstsein vordringt, in vergessene Erinnerungen, und mit neuen Deutungen wieder auftaucht. Es gelingt ihm, Zusammenhänge herzustellen zwischen ihm und ihnen, zwischen damals und heute, zwischen den Realitäten der Armut, der Kluft zwischen den Klassen auf der einen Seite und der zeitlosen Dichtkunst. Zeitlos zwischen Baudelaire, Valérie und Surrealismus ....

Mein viertes Buch trägt den Titel „Der tätowierte Himmel“, von Joachim Durrang aus Frankfurt, und ist schiere Dichtkunst in der Gegenwart.  Während Joachims Altersgenossen nicht viel mit seinen Gedichten anzufangen wussten, verstehen die ganz jungen Nachgeborenen sie nun schon beim ersten Hinschauen. So hat mir jemand berichtet, der es wissen kann (ein Lehrer). Ich wähle ein kurzes Gedicht aus: „BRILLENGLÄSER“ : Der Mensch ist Autor/ seiner Verzweiflung / Der Raum ist begierig / nach Wahn / Die Wände rücken immer / näher zusammen / Im Nichts beschleunigt sich / das Licht / werden die Tränen / zu Brillengläsern / ist die Liebe gefroren / und die Heilung beginnt.“

Frankfurt, 8. Januar 2017

In den 80er Jahren kursierte ein Leit-Spruch, der jene anspornte, die nach sich selbst suchten, nach ihrem Hinter- und Untergrund. Der Satz hieß: wo die Angst ist, gehts lang.

Es war da schon keine Schande mehr, sich mit seinen Ängsten zu befassen und zuzugeben: ich habe Angst. Na ja, Anfang der 80er gehörte schon noch Mut dazu, aber wenn es dann fast jeder macht, ist es kein Mut mehr. Obwohl die Auseinandersetzung mit der Angst auch wieder nichts für Feiglinge ist; es gab indes vielfältige Hilfen für den Einzelnen: in Büchern, in Zeitschriften, in  Selbsthilfe-Gruppen, mit Therapeuten, die sogar von den Krankenkassen bezahlt wurden. Wer erinnert sich noch an Horst Eberhard Richter, der zusammen mit seiner Frau Selbsthilfegruppen im Fernsehen veranstaltete? Der ein Buch mit dem Titel "Flüchten oder Standhalten" veröffentlichte? Immer ging es um Ängste.

Anfang der 90 zog ich in die Bundesrepublik. Neben vielem andern Neuem begegneten mir dort zum erstenmal junge Leute, brillante, tüchtige Studenten, die mir sagten: "Angst?? Wieso sollte ich Angst haben? Gibts doch keinen Grund für." Oder so ähnlich, es war die Zeit der Wende, und der Hochmut machte sich langsam breit. Angst war "out". Jedem stand die ganze Welt offen.

Dabei gehört Angst doch zum Menschen, von seiner Geburt an. Sie verlässt ihn nie gänzlich. Die Angst zu fallen. Die Angst, verlassen zu werden. Die Angst vor Schmerzen .....  Nun aber, gut 20 Jahre später, sehe ich: Wut. Mit meinen kleinen psychotherapeutischen Erfahrungen weiß ich: Angst, wenn sie nicht beachtet wird, verwandelt sich in Wut. Da man heute nicht mehr über "Angst" spricht, sondern sich jeder als der Stärkste vorkommen will, notfalls, weil er Deutscher ist - das begann vielleicht mit der Schlagzeile "Wir sind Papst" -, wird Wut zur natürlichen Entladung. Und schon melden sich lautstark die Superängstlichen, die immer nur an Sicherheit denken, und wollen, dass "der Staat" über JEDEN EINZELNEN in seinem Staatsgebiet Bescheid weiß! (Das verlautbarte dieser Tage ein CSU-Mann vor einer Kamera.)

Wir befinden uns also in einer Spirale hin zum Totalitarismus. Warum? Weil niemand mehr über seine eigene Angst reden darf. Nur noch über die staatlich genehmigte vor einem Terroristen. Welcher selbiger in seiner Wut - und da beisst sich die Schlange in den Schwanz - keinen anderen Ausweg als den Selbstmord zum vermeintlichen Nutzen anderer findet.

Ich gebe Feldenkraiskurse. Das halte ich für eine Arbeit am Frieden. Meine Kurse bestehen aus gesprochenen Anleitungen. Die Sprache spielt also die entscheidende Rolle bei der Vermittlung. Meine eigenen Anleitungen erhalte ich unter anderem aus Büchern mit Lektionen, die wörtlich von Moshé Feldenkrais stammen. Ich benutze die englische Übersetzung, weil ich kein Hebräisch kann. Die englische Übersetzung finde ich einfach und genau, ich kann sehr gut damit umgehen. Nun gibt es seit kurzem auch eine deutsche Übersetzung, die allerdings nicht aus dem Hebräischen, sondern aus der englischen Übersetzung übertragen wurde. Un darin finde ich Formulierungen, die mich nervös, ja, ich gestehe, wütend machen. Da finde ich z.B. den Satz: "Nehmen Sie die Beine auseinander."  Du lieber Himmel, ich kann (vielleicht) einen Motor auseinandernehmen, ihn  dann neu zusammensetzen und dann weiß ich, was ein Motor ist. In meinem Hinterkopf ertönt eine herrische, männliche Stimme: "Mach die Beine auseinander!" Hat die deutsche Übersetzerin daran nicht gedacht?

Im Deutschen gebrauche ich das Wort "spreizen". Ich sage in meiner Anleitung: "Spreizen Sie die Beine."  Das weckt bei den Teilnehmern weniger von der Situation ablenkende Bilder. Es geht um innere Sammlung.   Schlimmer noch fand ich den Satz: "Machen Sie die Bewegung nicht mit Gewalt!" Das Wort "Gewalt" hat in einem Feldenkraiskurs überhaupt nichts zu suchen. "Schnell" oder "langsam" sind Optionen; "sachte" oder "sanft" gehen auch. Besser ist, jeder verbindet die Bewegung nach und nach mit dem eigenen Atem, dann ergibt sich das Tempo von selbst und wird organisch. Eine große Erfahrung!

Ja, und falls dabei ein Hauch von Angst auftaucht, das kommt vor,  dann macht derjenige eine Pause und atmet einfach weiter. Als Feldenkraislehrerin befasse ich mich nicht mit der Angst als solcher, dafür bin ich nicht zuständig, dafür gibt es Therapeuten. Und sage das auch von Zeit zu Zeit.

In meinem kleine Kreis geht es mir also um eine Rückführung der Wut in die ursprüngliche Angst - wie ich es einst gelernt habe von so großen Lehrern wie Horst Eberhard Richter in "Flüchten oder Standhalten?" oder auch von Serge Gainsbourg mit seinen Liedern, von denen ich in den Achtzigern einige ins Deutsche übertrug. "La beauté cachée du laid de laid ..." Die verborgene Schönheit des Hässlichen ...."

 

 

 

 

Frankfurt, den 20. Dezember

Nun sind die Feiertage schon ganz nah, die Muße hört auf, jetzt kann ich nur noch das Vordringlichste tun. Allen, die dies hier lesen, Frieden und Freude wünschen, zu Weihnachten, für das Neue Jahr!

Ich wollte so vieles aufschreiben: meine Entdeckungen bei dem Tagesseminar der evangelischen Akademie über das Tabu - ja, das gibt es immer noch! Gegenstände, Themen, die brennen und doch nicht benannt werden dürfen. Ich schrieb eine Rezension über ein französisches Buch "Le crépuscule des intellectuels francais?" ("Die Götterdämmerung der französischen Intellektuellen?"), in dem die verschiedensten Vertreter dieses Kaste endlos über die die Geistlosigkeit des Fernsehen klagten. Ich endete mit der Frage, warum sie denn nicht selber im Fernsehen auftreten wollten, mit ihren eigenen Mitteln, um ihre Vorstellungen vom Gemeinwohl auch den Wählern nahe zu bringen, die keine Intellektuellen sind? Als würden sie damit ein Tabu brechen müssen, so kam es mir vor.

Ich besuchte die Frankfurter "Römerberggespräche", angelockt von dem schönen Thema "Die Sehnsucht nach Grenzen": von 10 Uhr morgens bis 6 Uhr abends sprachen kluge und bewanderte Leute dazu, und es war aufregend bis zur letzten Minute. (Auch wenn ich statt der tatsächlichen dreiviertel Stunde zwei Stunden Mittagspause machte - sonst hätte ich nicht durchgehalten!) Ich hörte niemanden zu diesem Thema sprechen, dieser "Sehnsucht nach Grenzen", seltsamerweise, es blieb im Hintergrund, es bildete das geistige Bühnenbild.

Vielleicht stammte es von dem Moderator Alf Mentzer, und keiner der Professoren und Professorinnen griff es auf, weil es nicht in sein oder ihr Thema passte. Denn auch sie sprechen nicht für jene, die man in Deutschland höflich "bildungsferne Schichten" nennt, und die doch die Mehrheit des Wahlvolks ausmachen. Alf Mentzer war auch der einzige, der Jan-Werner Müller erwähnte, zwar ein Professor, doch einer, der sich mit dem Begriff "Populismmus" ohne Hochmut auseinandersetzt.

Müller gehörte nicht zu den Geladenen, ich kannte den Namen aus der "London Review of Books", er schreibt ein herrliches Englisch, momentan lehrt er in Wien. Ich erfuhr, dass er dieses Jahr bei Suhrkamp einen Essay mit dem Titel "Was ist Populismus?" veröffentlicht hat. Dieses Wort wird momentan an allen Ecken und Enden verwendet, jeder benutzt es, immer mit Verachtung für das Volk, für den Plebs ("Der Plebs will Brot und Spiele", sagten die alten Römer.) Und deswegen, so finde ich, sollte man ein anderes Wort finden für jene politische Richtung, die um die Gunst der einfachen Leute buhlt. Dass die Verachtung zumindest jene treffe, die lügen und nur ihren eigenen Vorteil im Sinne haben ....

Ja, ich wollte auch was über Populismus schreiben, und habe es nicht geschafft, weil anderes dazwischen kam. Eine luxemburgische Freundin bat mich, etwas über das letzte Buch ihres im Frühling gestorbenen Mannes zu schreiben, und ich konnte es ihr nicht abschlagen. Ich habe es geschafft und bin dabei auf neue Zusammenhänge gestoßen.

Als nächstes will ich der "Eleganz" nachforschen. Der Urheber der Feldenkrais-Methode ("Bewusstheit durch Bewegung") hinterließ seinen Schülern den Satz, als Ziel unserer Arbeit: "Das Unmögliche möglich machen, das Mögliche leicht, das Leichte elegant." Darauf schrieb neulich ein amerikanischer Kollege, er verstehe nicht, was der Feldenkrais an der "Eleganz" finde; viel erstrebenswerter als Eleganz sei doch z.B. ein gemütliches Essen mit Freunden ...... Ach, diese Amis! denkt man gleich, politisch ganz unkorrekt; so kommt es, dass ich als Nächstes über Eleganz schreiben will....

Bis dahin: Frohe Feiertage!

 

Frankfurt, 4. Dezember

Vor langer Zeit, es mag 30 oder 40 Jahre her sein, begegnete mir ein Witz, dessen Inhalt ich, wie gewöhnlich, vergessen habe, von dem mir aber die Pointe im Gedächtnis geblieben ist. Die Geschichte spielte im Kölnischen und sie gipfelte in dem Satz: “Dat dat dat darf!“ Auf Hochdeutsch heißt das soviel wie „dass die das darf!“, doch wirkt es richtig nur in der Mundart. Es drückt sich darin eine Verwunderung aus, ein Staunen, eine Abwehr, eine Verlockung. Vielleicht noch anderes. Verbote säumten unsere Wege,  Verbote waren – ohne dass es uns meistens bewusst wurde – eine Grenze zwischen Leben und Tod. Die meisten dieser Verbote gelten  heute nicht mehr.  (Ich besuchte neulich eine Tagung über „Tabus“, dort entdeckte ich doch noch einige .....).

„Dat dat dat darf!“ Als ich dieser Tage in der Zeitschrift „London Review of Books“  einen langen Artikel über „Populismus“ am Beispiel von Donald Trump las, fiel mir der Satz wieder ein.  Es kam mir vor, als durchzöge er im Hintergrund den ganzen Text. „Dürfen“ ist ein spezifisch deutsches Wort, in den Sprachen, die ich kenne, kommt es nicht vor.  Es trägt die Absolutheit des Verbots unsichtbar wie in tausend Geheimtaschen bei sich. Text-Autor war Jan-Werner Müller, ein Politikwissenchaftler, der ein makelloses Englisch schreibt, ein Deutscher aus Honnef am Rhein, der laut Internet zur Zeit in Wien lehrt, aber auch in Princeton (USA). Für ihn wird der Satz „Dat dat dat darf“ keine Geheimnisse haben, vermute ich.  In seinem Beitrag deckt er eine Reihe von Eigenschaften nicht nur des Trump’schen Populismus, sondern auch des Orban’schen in Ungarn auf; Eigenschaften, die erwarten lassen, dass diese Art von Populismus länger regieren wird und auch Unterstützung  von außerhalb des „Volkes“ findet, dessen Held seine Führer sind.  Die Demokratie ermöglicht sie; es wird nicht mehr die Demokratie sein, die wir kennen: offen, tolerant, vielfältig.  Oder ist es dann gar keine mehr?

Bei meinen Nachforschungen entdeckte ich, dass kürzlich bei Suhrkamp ein Buch von Müller mit dem Titel „Was ist Populismus?“ erschien. Morgen werde ich gleich zum Buchhändler gehen und es mir besorgen. Denn alle Menschen, die ich kenne und die das Wort benutzen, drücken damit hautpsächlich Verachtung aus. Mit dieser Geringschätzung, so meinen sie, würde der Feind vernichtet. Nur wenig begreifen, dass sie ihn damit stärken!

Frankfurt, 3. Dezember

Wie kommt es, dass selbstgekaufte Blumen mich so viel weniger erfreuen als geschenkte? fragte ich mich dieser Tage, als ich, vom Mittagsschlaf aufgewacht, in eine Wolke aus lachsfarbenen Blumenkelchen schaute. Bei einem Familienfest erhielt ich diesen Strauß aus fünf Amaryllis-Stängeln, an denen sich schon am nächsten Tag je vier dieser riesigen Blüten öffneten. Zwischen den Stängeln standen drei Lorbeerzweige, deren Blätter einen diskreten Duft ausströmten.

Ja, wie kommt das? Geschenkte Blumen strahlen mehr als Schönheit aus, oder gerade in ihrer Schönheit strahlen sie ein Versprechen aus, Freundschaft, Wohlwollen, einen Schutz. Etwas, das ich mir selbst nicht geben kann. Da ich in meiner Jugend in ärmlichen Verhältnissen aufwuchs, gab es kein Geld für gekaufte Blumensträuße; damals pflückte ich sie lieber auf Wiesen oder am Straßenrand, und, ja, die selbst gepflückten Sträuße, die gefielen mir immer: sie erinnerten an Wanderungen, frische Luft - irgendwie an Freiheit. Schönheit und Freiheit, darin lässt sich gut leben.

Wenn die Apple-Produkte so viel Erfolg haben, so liegt das nach meiner Überzeugung vor allem an ihrer Ästhetik. Ich wundere mich nur darüber, dass ich über diesen Zusammenhang nie was lese: die Sucht auf Maschinen mit dem "i"-Namen wird als "Hype", als Mode beschrieben, der alle folgen. Als ich mir vor etwa 15 Jahren einen "Mac" anschaffte, tat ich das aus ästhetischen Gründen (und weil er einfacher zu bedienen war als die andern); in meiner Umgebung erweckte das noch Befremden. Was ich denn damit wollte? Das Gerät war ja viel teurer.

Was ist Schönheit? Was Eleganz? Wie wirken sie? Wie entstehen sie?

Der Apple-Erfinder, ein Amerikaner, war der Sohn von syrischen Eltern. Vielleicht haben sie ihm etwas von den uralten Schönheiten aus Mesopotamien vermitteln können. Von der Schönheit der Blumen zu dem Sinn für Kunst. Für etwas, das bleibt, sogar wenn der Gegenstand, an dem es sich zeigt, endlos reproduzierbar geworden ist wie unser Gerät.

Ach, darüber muss ich weiger nachdenken....

 

Frankfurt, den 20. November

Eben ist der Tag angebrochen, über einen schon hellen Himmel eilen Wolkenbänke;  doch die Bäume, die sich mit ihren noch nicht ganz leeren Ästen gegen den Himmel abzeichnen, die Bäume bewegen sich nicht.  Sturm wurde angekündigt, anscheinend tobt er in großer Höhe. Flugzeuge zeichnen sich klar gegen den Morgenhimmel ab, während sie in schrägem Winkel dem Flughafen zueilen. Der Himmel scheint blass-weißlich-blau, während die hellgrauen Wolkenbänke mit einem leichten lila Schimmer überzogen sind.

Ich räume auf: im Computer, auf meinem Tisch, im Kopf. Wenn ich versuche, die Welt zu verstehen, dann verschwinde ich manchmal ganz, oder jedenfalls so weit, dass sich mir die Worte versagen, die  Sprache. Mein Gefühl flüstert mir, dass dies und jenes überhaupt nicht zusammenpasst, und dann finde ich weder Antwort noch Frage. So erging es mir vor zwei Tagen. Ich wollte Gila Lustiger kennenlernen; doch ich habe sie nicht „kennen gelernt“, sondern nur gesehen und gehört. Mitsamt ihrem großen und wohlwollenden Publikum. Sie erhielt den Horst-Bingel-Preis für ihr jüngstes Buch „Erschütterungen“, das von dem schweren Anschlag auf den „Bataclan“ in Paris handelt. Grade jährte sich das Datum, ein großes Konzert wurde in Erinnerung an die Katastrophe veranstaltet, mit einem berühmten Musiker, und damit wurde der „Bataclan“ wieder eröffnet. Ein Franzose, dessen Frau bei dem Anschlag ums Leben kam,  hat ein Buch mit dem Titel geschrieben: „Ihr bekommt nicht meinen Hass!“ oder so ähnlich. Es hatte einen Riesenerfolg.  Die These war und ist bis heute: „wir lassen uns die Freude nicht nehmen!“, den Islam-Fanatikern ins Gesicht geschleudert. ( Warum schreibe ich nicht <Spaß>?  Aus Ehrfurcht vor den Toten?)  

Gila Lustiger schrieb über „Erschütterungen“, und ich wollte vorgestern nicht nur Gila Lustiger kennenlernen, sondern auch erfahren, um was für Erschütterungen es ihr ging. Was mich verwirrte: ich spürte keine Erschütterungen. Ich erlebte eine Gesellschaft von einander wohl gesonnenen und miteinander vertrauten Menschen, die sich freuten, zusammen zu sein, und sich mit einem Glas Wein in der Hand sicher fühlten. Es gab Reden, wie bei einer Preisverleihung üblich, und der Laudator sprach über das Buch. Doch Erschütterung spürte ich nicht. Er sprach nur darüber, und was er sagte, war alles nicht neu. Die Autorin selbst hielt eine Laudatio auf den Namensgeber des Preises, einen politisch denkenden Lyriker, und lobte vor allem, dass er sich zu seinen Lebezeiten für Lese- und Literaturförderung eingesetzt habe.

Nachher gab es ein Buffet und man konnte miteinander reden. Ich wusste aber nicht, was ich sagen sollte. Und ging verwirrt nach Hause.

Morgen will ich mir das Buch doch noch kaufen.  Damit ich ein wenig mehr Ordnung in meinen Kopf kriege. 

 

Frankfurt, den 1. November

Am vergangenen Samstag, es war der 29.10., besuchte ich hier in Frankfurt eins der seltsamsten Konzerte, das ich je gehört habe. Es hieß "Rituale des Gedenkens". Das war, angesichts der Jahreszeit zwischen Reformation, Allerseelen und dem 9. November, noch nicht verwunderlich. Aber schon die Programmankündigung auf der Einladung wirkte verwirrend: "Todesfuge" nach Paul Celan - zum 85. Geburtstag von Leon Schidlowsky; als zweites "Appeal to the stars - Archaisches Ritual" - zum 70. Geburtstag von Tsippi Fleischer; als drittes "Arc-en-ciel" for six prepared female voices, von Ansgar Beste, geb. 1981 in Schweden.

Ich wusste nicht, wer Leon Schidlowsky war und was er mit Celan zu tun hatte. Ich staunte, dass man im Anschluss an Paul Celan, dem jüdischen Dichter, einen "archaischen Anruf an die Sterne" aufführen wollte, und was ich mir unter "six prepared female voices" vorszustellen hatte, war mir ein Rätsel. Ich kannte aber den Chor, der mich einlud: "Belcanto", ein Chor aus Solosängerinnen, die unter der Leitung von Dietburg Spohr a capella singen. Ich hatte sie schon öfter gehört, es war immer ein großes Erlebnis.

So auch jetzt. Und doch ganz anders.

Leon Schidlowsky, so erfuhr ich, ist ein berühmter Komponist, ursprünglich aus Chile, der jetzt in Israel lebt. Er hatte die Todesfuge von Celan schon vor Jahren vertont, doch war die Komposition bislang noch nie aufgeführt worden. Er schreibt manche seiner Kompositionen nicht in Form von Noten auf, sondern als bunte Grafiken. Sehr eigenartig, man findet sie im Internet; ich muss mal mit einem Profi darüber sprechen. Mit seinen 85 Jahren fühlte er sich zum Reisen nicht stark genug und schickte zu seiner Vertretung seinen Sohn, David Schidlowsky.

Das Konzert begann mit Bestes Komposition; Beste erklärte sich in dem vorangehenden Einführungsgespräch zu einem "Geräusch-Komponist", und während der Aufführung verstand das Publikum, was er damit gemeint hatte. Der Rhythmus halte die Stücke zusammen, hatte Beste gesagt. Sechs Sängerinnen in bunten Seidenanzügen brachten die verschiedensten Geräusche hervor, auch mit ihren (großartigen) Stimmen, und das ganze erwies sich tatsächlich als eine Einheit. Vielleicht hätte ihm eine mehr spielerische Note noch mehr ganzheitlichen Schwung verliehen; wenn ich mich zurückversetze ins Zuhören, so empfinde ich eine leichte Unsicherheit, so als dächten die Frauen sich Was-soll-das-denn-nun-geben. Da es eine Uraufführung war, bleiben den Nachfolgern noch viele andere Möglichkeiten der Darbietung.

Die Todesfuge, echter Gesang, und dennoch fiel es mir schwer, mitzuschwingen. Es hatte mit dem Prinzip der Fuge zu tun, dieses Kanonmäßige Nacheinander-Miteinander. Die sechs Frauen traten in elfenbeinfarbigen Seidenanzügen auf. Sie zeigten sich in ihrer Kunst zuhause. Es war große Musik, nur dass sie nicht wärmte. Und rundum dieser Saal (wir saßen im Haus der Chöre) mit seinen Stellflächen und den der Akustik dienenden Wänden - kein Trost nirgendwo. Neben mir saß Schjidlowskys Sohn; er war mit der Uraufführung sehr zufrieden.

Schließlich das "Archaische Ritual" von Tsippi Fleischer. Die Komponistin war zugegen, berichtete, wie sie die altsemitischen Sprachen gelernt, auf ihren Klang untersucht habe und zu neuem Leben erwecken wollte; sie ist nicht nur Komponistin, auch Sprachwissenschaftlerin für altsemitische Sprachen, Israelin. Sie trug einen gestickten, bunten arabischen Seidenanzug und wirkte sehr jung. Bei ihrem Text handelte es sich um ein altbabylonisches Gebet an die Götter der Nacht, in der Originalsprache. Hier hatten die Sängerinnen sich ein Gewand geschneidert, in dem jede an der anderen hing, die Ärmel  aneinandergenäht, nach vorn offen, so dass sie ihre Arme frei bewegen konnten, aber in einer "siamesisch" anmutenden Gemeinschaft vor uns standen.

Ich würde das ganze Konzert gern noch einmal hören, vielleicht sogar noch zweimal, um besser zu verstehen, was da geschah.

Am Ende wurde an alle Beteiligten - Sänger- Komponisten etc. - eine golden-rote Chrysantheme verteilt. Auch David Schidlowski nahm eine für seinen Vater entgegen. Er fragte sich, wie er die auf der Flugreise tranportieren solle, sah eher schwarz und fragte mich, ob ich die Blume haben wolle? Ich zierte mich einen Moment lang, wie es sich gehörte, ich strahlte, ja, es würde mir Freude machen. Und so steht sie jetzt neben meinem Schreibgerät auf dem Tisch: Schidlowskys Chrysantheme. Ich habe  sie fotografiert.

Noch Anderes. Ich habe gründlicher nachgeschaut, wer die beiden eigentlich sind, und habe sehr viel gefunden. David Schidlowsky ist nicht nur ein Spezialist für Pablo Neruda, nein, er hat auch über die "Neuchristen" von Brasilien geschrieben, mit einem andern Wort: über die Marranen, d.h. die Juden, die sich in spranisch- und portugiesisch-sprachigen Ländern taufen lassen mussten und sich dennoch Erinnerungen an ihre ursprüngliche Religion bewahrten. Darin wurden sie bestärkt in dem Brauch der Kolonialherren, sie jahrhundertelang als "Neuchristen" zu registrieren. Dieses Buch werde ich mir zu verschaffen suchen, denn es führt mich wieder hin zu den besonderen Geschichtsauffassungen im Zusammenhang mit der jüdischen Überlieferung. Vor einem Jahr hatte mich Yerushalmi auf dieses Gebiet geführt, und ich hatte dabei sehr viel gelernt.

Meine Bewunderung gilt David Schidlowsky in seiner wie selbstverständlichen Vielsprachigkeit: zwischen Deutsch und Hebräisch, zwischen Spanisch und Portugiesisch immer der eigenen Geschichte nach.....

 

 

 

 

 

 

 

Frankfurt, den 26. Oktober

Es ist ein altes Land, das französischsprachige Belgien, ein Bergland in den Ardennen. Vor dreißig Jahren sprach man in manchen Tälern dort noch einen Dialekt, der mehr nach Lateinisch klang als nach Französisch; ich weiß nicht, wie es heute damit steht. Die wichtigste französische Grammatik, der "Grévisse", kommt aus der Wallonie. Die Reichen zogen nach Flandern, mitsamt ihrem Französisch und einem darin verborgenen Hochmut, und den verziehen ihnen die Flamen lange nicht.

Plötzlich steigt das alte Selbstbewusstsein wieder hoch, wird sichtbar. Mehr als die Hälfte der europäischen  Bevölkerung ist gegen die Freihandelsverträge, doch allein die Wallonen stehen noch öffentlich zu diesem Widerstand. Geheimverträge, Geheimgerichte sind eigentlich nirgendwo mit der überlieferten Demokratie vereinbar. Die Neoliberalen - allein der Profit zählt - wollen ihre Gesinnung nicht nur zur allgemeinen Geschäftsgrundlage, sondern auch zum Grundgesetz werden lassen! Und nur Wallonien steht dagegen auf!

Julius Cäsar begann seine Memoiren über den gallischen Krieg mit dem Satz: Gallia est omnis divisa in partes tres, quorum unum incolunt Belgae (Gallien teilt sich insgesamt in drei Teile auf, von denen einen die Belgier bewohnen). Seit der Schuizeit weiß ich diesen Satz auswendig. Zwar schätzten die Nazis in meiner Kindheit mehr die Flamen als die Wallonen; doch hab ich mich in Wallonien immer heimischer gefühlt. Es gibt dort ein besonderes Französisch, in dem tief innen auch flämisches Blut fließt - hier verbinden sich die germanischen und die romanischen Ströme Europas, wenn ich so reden darf. Ich war einst mit einem Franzosen verheiratet, daher die Bilder. Da fühlte ich Unterstützung bei dem Dichter Michel de Ghelderode, der französisch schrieb (er verfasste Theaterstücke)und doch etwas besaß, dass ich hier hilfsweise "Gemüt" nennen möchte, so ein Fühlen, das sich nicht vollständig in Kategorien einzwängen lässt, aber deswegen auch schwer auszudrücken ist. Den Franzosen ist sowas eher fremd. Bei Ghelderode, und anderen, verschmolz das wie selbstverständlich...

Ich hoffe, dass die Belgier durchhalten, die Wallonen, mit ihrem Französisch, über das die Franzosen immer spotteten, das sie nicht verstanden, auch nicht zu verstehen brauchten, weil ....

Nein, Europa entwickelt sich weiter. Europa kämpft mit neuen Mitteln. Mit den Mitteln des Rechtsstaats. Wie sagte jemand dieser Tage auf der Buchmesse? Europa bestand schon immer aus römischen Normen und Grenzüberschreitungen .....

 

 

 

 

 

 

 

Frankfurt, den 30.Oktober

Das Lutherjahr steht bevor, es ist schon seit zwei Jahren die Rede davon. Vor fünfhundert Jahren verkündete Luther seine Thesen. Er wollte die Kirche zurück zum Wort Gottes führen, weg vom Ablasshandel (mit Geld retteten die Leute damals ihre Seele vor der Hölle, gegen Zahlung wurden ihnen ihre Sünden „abgelassen“), weg vom Prunk und Lasterleben der Kirchenfürsten, hin zur eigenen Verantwortung jedes einzelnen Christenmenschen.  Der Kurie in Rom gefiel das nicht, und so nahm die Kirchenspaltung ihren Lauf.

Zwanzig, dreißig Jahren  vorher war der Buchdruck erfunden worden. Druckoffizinen entstanden, auf den Märkten verkauften sich die Schriften. Gewiss nicht jeder konnte lesen, und erst recht verstand nicht jeder Latein. Luther versteckte sich auf der Wartburg und übersetzte die Bibel ins Deutsche. „Und wenn ihr mit Menschen- und Engelszungen redetet und hättet der Liebe nicht, so wäre es tönend Erz und klingende Schelle.“ Das ist so eine Luther-Übersetzung, so klang Christus auf Deutsch.

Kein Wunder, dass sich überall in den Klöstern gelehrte Menschen darüber beugten, sich fragten, ob das Ketzerei sei oder nicht vielmehr die Wahrheit.  Nicht lange, und die Sache wurde politisch. Die Landesherren entschieden sich für oder gegen den Reformator. Martin Luther hatte Glück, sein Fürst hielt seine schützende Hand über ihn. Luther wurde Theologie-Professor in Wittenberg, und von überall her strömten die Studenten, um ihn persönlich anzuhören, um von ihm zu lernen. Mönche folgten seinem Beispiel, verließen ihr Kloster, siedelten sich in der Welt an. Sie fanden Stellen, ihr Wissen wurde gebraucht. Und weil Jesus nirgendwo das Zölibat predigt, heirateten sie auch.  Luther heiratete die ehemalige Nonne Katharina von Bora; sie bewohnten ein verlassenes Kloster.

Von ihr möchte ich berichten, von dem Buch, das Maria Regina Kaiser über sie geschrieben und jüngst veröffentlicht hat. Katharina führte im „Schwarzen Kloster“ von  Wittenberg ein großes Haus, mit häufigen Gästen, mit Kostschülern, und bedurfte dafür einer immer umfangreicheren Hauswirtschaft: Ställe und Gärten lieferten das, was auf den Tisch kam, so brauchte man kein Geld dafür auszugeben. An Geld hat es immer gefehlt. Katharina lenkte geschickt alles auf Mehrung, auf jenen Zugewinn, den die Zeit bringt, bei entsprechender Vorsorge: Aus dem Nussbaumsetzling wird ein Nussbaum, und manchen Abend lassen sich die Kinder mit Nüssen satt kriegen. Die Muttersau wirft Ferkel – und nach einem Jahr feiert man das erste Schlachtfest. In Maria Regina Kaisers Buch erleben wir, wie klug und zielstrebig Katharina ihren Haushalt aufbaut und festigt. Eine echte Unternehmerin.  So bietet sie ihrem Mann die Grundlage für seinen Umgang mit der Welt.  Dazu gebiert sie alle zwei Jahre ein Kind, insgesamt sechs.

Wie aber gehen sie mit der Religion um? Ich meine: wie werden im Alltag aus Katholiken denn Protestanten?  Wie lässt uns die Autorin an diesem Wandel teilhaben? Als Wandel eben, als etwas, das sich organisch entwickelt, nicht plötzlich da ist. Luther predigte gegen jeden Heiligenkult, er ließ die Heiligenbilder und natürlich die Heiligenaltäre aus den Kirchen entfernen. Katharina, bei der Eheschließung schon 26 Jahre alt, war mit der Madonnenverehrung aufgewachsen. Sie hatte im Kloster eine gründliche und umfassende Ausbildung erhalten: viehzüchterisch ebenso wie medizinisch – sie wusste im Kräutergarten bescheid – und verstand es, Vorräte für den Winter anzulegen. Auch das Bierbrauen gehörte damals zur Hauswirtschaft.  Die regelmäßigen Gebete ebenso. Indem die Autorin uns Katharinas Alltag beschreibt, fließt die Frömmigkeit wie von selbst mit ein. Maria Regina Kaiser hat die vielen Quellen gründlich studiert, und sie hält es für möglich, dass Katharina das Bildnis einer Madonna mit Kind in der Wohnung an der Wand hängen ließ (oder es selbst wieder aufhängte). „Ach neige, du Schmerzensreiche dein Antlitz gnädig meiner Not ...“ lässt noch 250 Jahre später der protestantische Goethe Fausts Gretchen beten.  Luther muss es schließlich wohl hingenommen haben, dass seiner Frau dann und wann ein „Ave Maria“ herausrutschte.

Diese „Roman-Biografie“ bietet also einen lebensnahen Einstieg ins Lutherjahr.

 

Maria Regina Kaiser: „Katharina von Boöra und Martin Luther -  Vom Mädchen aus dem Kloster zur Frau des Reformators“. Herder-Verlag. 2016