Tagebuch Winter 2012/13
Frankfurt, den 23. April
Heute Abend ging ich zu einem Vortrag über Walter Benjamin. Dem Vortrag war mühsam zu folgen. Der Redner las ab, sein Abstand vom Mikro war etwas zu groß, und ich verstand nicht jedes Wort. Dennoch vermochte ich einigermaßen zu folgen, konnte mir sogar einige Stichworte notieren. Ich merkte, dass nicht alle Sätze gleich wichtig waren. Zumindest für mich. Benjamin, so sagte der Redner, ging vom "Phänomen" aus, übersetzte es in "Begriffe" und diese Begriffe nützt er dann als Elemente (der Redner zog persönlich das Wort "Momente" vor) für eine "Idee". Der Gebrauch der Begriffe in diesem Zusammenhang sei Benjamins Erfindung, sagte der Redner und führte später noch aus, dass Benjamin "Bilder" gebrauchte, die im Begriff vollständig "aufgingen" und diesem dadurch ihre Lebendigkeit schenkten. Mich begeisterte diese Konstruktion, weil ich darin etwas Verwandtes wie zwischen der Beziehung von Leib und Denken (wie bei Moshé Feldenkrais) entdeckte , für die ich eben KEINE Begriffe gefunden hatte. Freilich war heute abend zu keinem Moment vom Leib die Rede. Gott behüte. Ein Hörer, der mir schon bei andernorts als Angeber aufgefallen war, erhob sich nach Ende des Vortrags, um eine Frage zu stellen. Es war aber nur eine Behauptung. Er fand, der Vortrag habe die Dinge zu sehr vereinfacht. Es bestehe doch bei Benjamin in Wahrheit ein Bruch. Nämlich eben der, wenn er ein Bild in einen Begriff verwandle: "Das kippt einfach um!" sagte er empört, "das kippt doch!" und fand nichts mehr von Kant darin. Der Redner wiederum - ich empfand ihn als sehr höflich, denn anstatt zu sagen: da haben Sie eben Benjamin nicht verstanden - antwortete, dass nach seiner Überzeugung die Bilder bei Benjamin rückstandslos in den Begriffen aufgingen.
Von wegen "vereinfacht": vier Damen der besseren Gesellschaft erhoben sich mitten im Vortrag, um den Raum zu verlassen, nachdem sie vorher schon mit Mimik und Gesten gezeigt hatten, dass sie keinen einzigen Satz verstanden.
Behaglich war mir nicht, als ich in den halblauen Frühlingsabend hinausging: Der Wissenschaftler hatte sich arge Mühe gegeben, wissenschaftlich zu klingen, immerf dieser Zwang der deutschen Akademiker, unverständlich,zu sein; andererseits wagte keiner zu sagen, er habe irgendwas nicht verstanden! Jemand, eine Frau, meinte, der Vortrag werde sie veranlassen, den betreffenden Aufsatz von Benjamin noch mal zu lesen. Das nahm ich mir auch vor, ich kannte ihn gar nicht.
Auf der Schweizer Straße überfiel mich ein Hunger und ich fragte in einer schicken Trattoria den Kellner, ob ich wohl Nudeln, gut gewürzt, aber ohne Fleisch haben könnte. Selbstverständlich, Signora!, und servierte mir "Spaghetti alla Calabrese". Es schmeckte wirklich fein. Am Nebentisch saßen zwei junge Paare, redeten Small Talk, aber völlig ohne Klischees. Es klang richtig sympathisch. Eine der Frauen lächelte mich sogar an.
Zwischendurch erklang ein Massenaufschrei aus einem Lokal auf der andern Straßenseite. Fußball? Auf "meiner" Terrasse reagierte niemand. Wirklich ein guter Ort.
Auf dem Heimweg fiel mir ein: in der Zeitung hatte ich gelesen, dass heute Bayern gegen Barcelona spielte; beide hatten irgendwas mit Steuerhinterziehung zu tun. Kurz vor meinem Haus standen zahlreiche Männer vor der Tür einer kleinen Schenke, die einen Fernseher hat, und rauchten friedlich. Ich erkühnte mich und fragte locker einen Mann, an dem ich vorbeiging: "Wie steht's?" "Eins zu null", sagte er mit verhaltenem Stolz. "Für -?" "Bayern! Verdient!" Ich hob den Daumen und eilte meinem Hauseingang zu.
Das war ein lustiger Abend. Vor allem, weil das, was ich von dem Vortrag verstanden hatte, nämlich wie laut Benjamin ein Kunstwerk zustandekommt - wie Steinchen sich zu einem Mosaik formen und so einen Sinn finden, der im einzelnen Steinchen nicht ist, wobei die Glasur der Steinchen aber handwerklich perfekt sein muss, und jedes Mosaik ist anders und jeder Sinn ist anders - dass ich so meine Romane geschrieben habe und meine Geschichten, und wenn ich Glück habe, dann gelingt mir das auch in meinem kleinen Vortrag über Luise Büchner. (Daran arbeite ich seit Wochen, ist für den 26. Mai.)
Es war ein schöner Abend.
Frankfurt, den 16. April
Schon über zwei Monate, dass ich nicht mehr geschrieben habe!
Es lag nicht daran, dass nichts zu berichten gewesen wäre. Ich hatte zu viel zu tun, es blieb keine Muße, ich musste meine Gedanken auf das Machbare konzentrieren.
Und obendrein: Das Wetter! Diese Kälte, diese Erschöpfung der Lebensgeister! Als die ersten Spuren von Knospen an den Sträuchern erkennbar wurden, versprach ich meinem Lesepatenkind: in den nächsten Tagen werden Bäume und Sträucher und Blumen explodieren! Er lachte über "explodieren", als erfahrener Computerspieler stellte er sich wohl was anderes darunter vor; doch ich musste beim nächsten Mal einräumen, dass meine Voraussage nicht eingetroffen war. Nichts wuchs und blühte, die Flora blieb grau und schwarz und unbewegt. Nur die Vögel sangen ein wenig. Erst jetzt, in den letzten vier Tagen, ist meine Voraussage wahr geworden. Welch eine Wonne!
Eine große Arbeit bedeutete für mich in den vergangenen drei Monaten die Wahl des Bundestagskandidaten der SPD für meinen Wahlkreis; ich beteiligte mich nach bestem Wissen und Gewissen daran, und es wurde anstrengend. Wir hatten zwei Anwärter für den Kandidatenposten; die jeweiligen Anhänger mussten ihr Bestes geben - es wurde Klassenkampf betrieben, es wurde mit Schmutz geworfen, es wurden Tricks eingesetzt.
Eine Schwierigkeit ergab sich daraus, dass in dieser Auseinandersetzung zwei "Wahlsysteme" nebeneinander verwendet wurden (was Teil der Trickkiste war). Das Parteistatut sieht vor, dass jeder Ortsverein entsprechend seiner Gesamtmitgliederzahl Delegierte wählt, die anschließend bei einer Wahlkreisversammlung den Kandidaten bestimmen. Die Delegierten sind in ihrer Entscheidung nur ihrem Gewissen verpflichtet.
Nun wurde aber beantragt und gebilligt, dass außerdem im Bereich des Orstvereins - der sich nicht mit der Ausdehnung des Wahlkreises deckt - eine schriftliche "Mitgliederbefragung" durchgeführt würde. Es gab nicht mehr viel Zeit, das Ganze lief hektisch. Auf der Versammlung, auf der die "Delegierten" des Ortsvereins gewählt wurden, erhielten eine deutliche Mehrheit jene Delegierten, die sich für einen bestimmten Kandidaten ausgesprochen hatten, wohingegen die Mitgliederbefragung den anderen Anwärter bevorzugt hatte. Was war jetzt "demokratischer"? Das Gewissen der Delegierten oder das Ergebnis einer übereilten Mitgliederbefragung?
Eine rhetorische Frage, ich bitte um Verzeihung, ich bin auch heute noch Partei.
Doch hat diese Auseinandersetzung ein wenig meine Gesundheit beeinträchtigt, vor allem aber sehr viel Zeit gekostet, und danach, als alles geschafft war, habe ich beschlossen: ich kandidiere nicht mehr. Letzten Samstag ist im Ortsverein der Vorstand neu gewählt worden, und ich habe mich nicht mehr zur Wahl gestellt.
Ein Gefühl der Erleichterung erfüllte mich.
Ich habe ja noch eine Reihe anderer Projekt am Laufen.
Das Schönste davon ist das Studium von Luise Büchner, einer Schwester des Dichters Georg Büchner.
Darüber beim nächsten Mal mehr.
Frankfurt, 11. März
Der achte März im Römer
Mehr ist der Frauentag vom 8. März noch nie gefeiert worden als dieses Jahr! Schön, dass Frauenthemen wieder geachtet werden, dass öffentliches Interesse besteht.
Ich wohnte dem Empfang im Römer bei, das „Frauenreferat Frankfurt am Main“ hatte Vertreterinnen von zahllosen Organisationen, Initiativen, Vereinen eingeladen – dieses Jahr zum erstenmal auch die Direktorinnen von Frankfurter Schulen (so sehr viele waren das wohl nicht). Ich vertrat den „Literaturclub der Frauen aus aller Welt e.V.“.
Es war ein prachtvolles Ereignis: mit einer fünfköpfigen Folklorekapelle begann es im vollen Kaisersaal; die Musik schien bei vielen Anwesenden Erinnerungen zu wecken, sie klatschten mit und jubelten und pfiffen vor Freude nach jedem Stück. Dann stieg Frau Sorge, die Leiterin des Frauenreferats, mit Schwung und kessen Worten aufs Podium. Sie begrüßte, weil es so üblich sei, viele Anwesende, sie grüßte ausdrücklich „im Namen des Magistrats“ und nicht im Namen des Oberbürgermeisters (der indessen die Einladung unterschrieben hatte). Frau Sorge gehört der Partei der Grünen an, die derzeit in Frankfurt eine Koalition mit den Schwarzen (d.h. CDU) führt; aber im Herbst ist Landtagswahl, und der Wahlkampf hat wohl schon begonnen. Sie beklagte ausführlich, dass die Stadt nun nicht mehr „von einer Frau“ geführt werde, ohne konkrete Nachteile zu erwähnen, die dadurch für Frauen entstünden.
Frau Sorge sprach über sich, über ihre Arbeit und über die künftigen Projekte des Frauenreferats sehr zuversichtlich: hinsichtlich des Erreichten, aber auch mit Blick auf das noch zu Erreichende. Da gab es Ziele: die Verringerung des Armutsrisikos für Frauen zum Beispiel; so beträgt zur Zeit die durchschnittliche Altersrente einer Frau in Frankfurt 661 €, während derselbe Durchschnitt für Männer bei 1.034 € liegt. Sie forderte ferner, dass „Frauen und Mädchen nicht seelischer, körperlicher oder sexualisierter Gewalt ausgesetzt“ seien und vieles andere – die Themen wurden auf 16 extra für diesen Tag vom Frauenreferat in Auftrag gegebenen Postkarten dargestellt, die jede Gästin in einem einfachen Karton mit nachhause nehmen durfte. Es kamen darin Sätze vor wie: „dass kulturelle Vielfalt gleichberechtigt gelebt werden kann“ (wie geht das konkret??), und „wir arbeiten daran, Sexismus in Werbung und Medien zu unterbinden, um Frauen und Mädchen ein gesundes, selbstbestimmtes Körperbild zu vermitteln“. Wie soll denn ein heranwachsendes Mädchen sein Körperbild „selbst bestimmen“? Soll es nur noch dem Spiegel glauben, und was sagt der Spiegel? Wo sonst sieht sie ein Bild von sich? Braucht sie nicht Vor-Bilder? Kurzum, im Einzelnen wäre über die Forderungen viel zu diskutieren. Jedenfalls zeigten die Postkarten anschaulich alle nur möglichen Mängel in der Perspektive von Frauenpolitik.
Um nicht im Jammern stecken zu bleiben, lud Frau Sorge ihre Gäste zu einem Buffet ein, das üppigste Buffet, das mir bisher im Römer begegnet ist (ich habe, zugegeben, darin nicht viel Erfahrung). Eine Mahlzeit aus mehreren köstlichen Gängen, dazu Wein nach Belieben – das freute alle, die da waren. Ich nützte die Gelegenheit, um im Einzelnen etwas Werbung für meinen Club, den „Literaturclub der Frauen aus aller Welt“, zu machen. Zufällig traf ich dabei auf Frauen, die sich mehr für Zahlen interessierten als für Sprache: eine Mathematikerin, eine Steuerprüferin; jede meinte, sie sei für Literatur nicht zuständig, wolle mein Faltblatt aber weitergeben, und ich unterhielt mich gut mit ihnen.
Die fröhliche Stimmung, der schöne Überfluss ließen jedenfalls den Schluss nicht zu, dass der neue „Herr im Haus“, Oberbürgermeister Peter Feldmann, das Frauenreferat in irgendeiner Weise behindere.
Frankfurt, den 9. März
Heute bin ich in den Regenbogen gegangen. Er spannte sich über den Main, als ich über den Eisernen Steg wanderte. Ich blieb stehen und schaute. Der Steg bebte unter mir. Eine Mutter mit zwei kleinen Kindern setzte jedes auf ein winziges Plastikauto und band die Autos hintereinander und zog. Auf der abschüssigen Seite des Stegs rollte das hintere Kind schneller als das vordere, es bremste mit den Füßen, die Mutter war ungehalten .....
Dann verschwand der Regenbogen und die Glocken läuteten. Alle Glocken vom linken und rechten Mainufer erklangen. Nach einer ganzen Weile schwiegen sie wieder, wie ich mich jetzt erinnere; in dem Moment selbst habe ich es nicht bemerkt. Denn die Sonne ging unter und verbreitete ein solches Gewebe von Farben und Formen am Himmel, dass fast alle Leute, die mir entgegen kamen, stehen blieben und den Sonnenuntergang mit Main und Brücken fotografierten. Ich war auf dem Weg zum EZB-Turm, wie viele andere Frankfurter auch. Es sieht jetzt mehr nach Baustelle aus als vorher, wohl weil jetzt auch die Flächen rund ums Gebäude schon hergerichtet werden. Der Turm besteht eigentlich aus zwei Türmen, die sich gegenseitig stützen; noch ist das Innere an einer Seite geöffnet, es sieht tatsächlich nach "Innerei" aus, nach starrem Gedärm. Die gläserne Außenhaut ist größtenteils schon angebracht. Ich stieg auf die alte Eisenbahnbrücke, die einen schönen Fußweg enthält, und genoss von oben den Ausblick: die einfallende Dämmerung, der farbige Horizont boten ein traumhaft schönes Bild der Stadt mit ihren Türmen, dem stillen Fluss in der Mitte. Ein Bild, das sich nach wenigen Schritten immer wieder verwandelte: andere Farben, andere Spiegelungen und Schattenrisse, neue Perspektiven. Auf dem linken Ufer angekommen, spazierte ich plötzlich durch das herrlichste Vogelkonzert. Lange habe ich einen Spaziergang nicht mehr so genossen wie diesen.
Gestern war ich auf dem Frauentagsfest des "Frauenreferats" der Stadt Frankfurt. Doch bevor ich darüber schreibe, muss ich noch ein wenig darüber nachdenken, was ich schreibe .....
Frankfurt ,den 7. März II
Es geschieht so viel. Zum Beispiel führten wir innerhalb der SPD einen Vor-Wahlkampf. Es ging um die Frage, wer wird Landtagskandidat in unserem Wahlkreis für den 22. September? Wir hatten zwei Bewerber, und der Kampf war dramatisch, wurde erbittert geführt. Irgendwie war ich auch dahinein geraten, wollte den Standpunkt vertreten, dass man innerhalb seiner Gruppe unterschiedliche Meinungen haben darf, ohne gemobbt, beschimpft, verleumdet zu werden. Allein dies kann einem schon Feindseligkeiten eintragen! Aber eben auch Freunde. Und wenn sich nach der Auszählung zeigt, dass wir mit unserem Standpunkt die Mehrheit überzeugt haben, dann ist die Freude groß. Das erlebte ich gestern abend.
Jetzt werden sich viele Menschen dafür einsetzen, dass unser Kandidat im Wahlkreis direkt gewählt wird. Von jeher gehörte der Wahlkreis einer CDU-Mehrheit. Seit die CDU aber in der Landesregierung und auch in Frankfurt die Bürger mit den Versprechungen wegen der neugebauten und vor anderthalb Jahren in Betrieb genommenen Landebahn auf dem Flughafen betrogen hat, seit die Leute also zwischen 5 Uhr morgens und 11 Uhr abends das Dröhnen der Flugzeugmotoren über ihren Dächern ertragen müssen, seitdem hat sich die politische Lage in unserem dicht besiedelten Wahlkreis geändert.
Unser Kandidat heißt Ralf Heider; er ist ein ruhiger, gebildeter, klar sprechender selbständiger Geschäftsmann mit sozialen Zielen. Was meine ich mit "sozialen Zielen"? Derjenige hat sie, der nicht nur ans eigene Wohl denkt, sondern auch an die wenig Begüterten, einer, der möglichst alle mitnehmen möchte. Das ist Politik.
Frankfurt, den 7. März
Auf dem Kopf gehen.....
Frankfurt, 6. März 2013
Berührt werden und dadurch lernen – das war ein Kerngedanke der Debatte über Georg Büchner, die sich gestern an den Film „... dass er nicht auf dem Kopf gehen konnte“ in der Naxos-Halle anschloss. Gisela Wölbert, unsere Gisela, hatte den Film bei einer Wanderung durch die Vogesen entdeckt, und Venera hatte ihn über ihre Verbindungen zum Theater Willi Praml dort auf die Leinwand gebracht. (Dafür erhielten wir Mitglieder des „Literaturclubs der Frauen aus aller Welt“ sogar Freikarten.)
Worum ging es? Georg Büchner, der 1837 mit 23 Jahren an Typhus starb, hatte vorgehabt, eine Erzählung mit dem Titel „Lenz“ zu schreiben. Er hinterließ eine Reihe Textfragmente, und daraus haben Germanisten den Text zusammengestellt, den wir heute als „Lenz“ von Büchner lesen können, der übrigens auch im Lehrprogramm der Oberstufen steht. Lenz war zur Zeit von Goethe ein namhafter Dichter und Schriftsteller, eine Zeitlang sogar Gast am Weimarer Hof. Doch hatte er sich irgendwie „schlecht“ benommen und wurde aus dem Land gejagt. Er entwickelte psychische Auffälligkeiten; ein Bemühen um Hilfe bestand im Besuch bei einem Pfarrer Oberlin im Elsaß, dem heilende Kräfte nachgesagt wurden. Vergebens. Lenz kam vorübergehend sogar in eine Anstalt. Oberlin hinterließ einen Bericht über Lenz, den Büchner fünfzig Jahre später entdeckte, und der ihn ansprach. Nicht der Dichter war verrückt, so schien es ihm, sondern die Gesellschaft war krank. Damals, vor der französischen Revolution, und nun, dreißig Jahre danach, wieder oder immer noch. Das war jetzt Büchners Problem (der geschrieben hatte: „Friede den Hütten und Krieg den Palästen!“).
Der Film war liebevoll gemacht, mit sehr schönen Bildern, inhaltlich vielleicht ein wenig einseitig; die Sprechweise des zitierenden Schauspielers gefiel mir persönlich nicht, weil sie affektiert war. Aber das ist Geschmackssache. Interessant war Willi Praml, der Theaterdirektor, der zur Zeit auf seiner Bühne auch ein Stück „Lenz“ nach Büchner laufen hat und das anzuschauen wohl der Mühe wert wäre. Praml hatte sich seit einem halben Jahr mit nichts mehr befasst als mit Büchner und konnte wunderbar vielseitig darüber sprechen. So kam er auch zu der Erkenntnis, dass Schüler, selbst wenn sie „Lenz“ nicht richtig oder nur halb oder gar nicht gelesen haben und damit ins Theater kommen, in der Hoffnung, sich das Lesen zu ersparen, dass die dann, wenn sie von Büchners Sprache berührt werden, anfangen, sich wirklich zu interessieren.
Und darauf kommt es doch an, nicht wahr? Es war ein sehr schöner Abend. Danke Gisela, danke Venera!
Frankfurt, 3. März
Barbara Höhfeld, 60598 Frankfurt am Main
ZUR ERÖFFNUNG DER IMMIGRATIONSBUCHMESSE
Frankfurt-Nordweststadt, 1. März 2013
Meine Damen und Herren, liebe Freunde, lieber Hamidul,
Es ist mir eine Ehre, Sie hier im Namen des Literaturclubs der Frauen aus aller Welt begrüßen zu dürfen. Wir schreiben Geschichten, wir arbeiten an Texten, wir veröffentlichen. Darum fühlen auch wir uns als Schreibende, als Buchproduzentinnen, mit meist anderssprachigen Wurzeln, in einem Projekt mit dem Namen „Immigrationsbuchmesse“ zuhause und wünschen, dass es weiter gedeihe und sich ausbreite. Sprachen werden eben nicht nur gesprochen, sie werden auch geschrieben und gelesen. Seit fünfhundert Jahren in gedruckten Büchern, auf Papier, seit neuestem auch auf Glasscheiben – Voraussetzung ist und bleibt das Lesen, das Lesenkönnen.
Das kommt Ihnen gewiss wie eine Binsenweisheit vor. Aber ist sie das?
Ich betätige mich seit drei Jahren als ehrenamtliche Lesepatin an einer Grundschule. Mir begegnen dort Kinder, die zuhause ohne Bücher aufwachsen und denen das Lesen schwer fällt. Es bedeutet Mühe, das Lesen; Gehirnspezialisten können Ihnen darlegen, wie komplex der Vorgang des Lesens im Kopf eigentlich abläuft. Ich versichere Ihnen, da geschieht eine Menge!
Lesen bedeutet Verstehen. Diesen Satz wiederhole ich gern. Wer nämlich liest ohne zu verstehen, bleibt doppelt dumm: weil er nicht versteht und weil es keiner merkt (jedenfalls eine ziemliche Zeit lang). Wie lernt man aber lesen UND gleichzeitig verstehen? Die meisten von Ihnen werden sich nicht daran erinnern, so selbstverständlich ist es Ihnen.
Ein Kind lernt die Schrift lesen an Wörtern, die es schon kennt. Diese Wiedererkennung ist ein magischer Vorgang: etwas, das ich gehört habe, etwas das ich kenne, etwas, das ich weiß, - auf einmal finde ich es in diesen Buchstaben, in diesen geschriebenen Zeichen wieder. Vom Hören und Sprechen wechsle ich zum Sehen! Ich sehe, was ich bis dahin nur gehört habe! Das heißt Lesen lernen.
Was aber geschieht mit Kindern, die das Lesen an Wörtern lernen, die sie nicht kennen? Und an dieser Voraussetzung ist noch mehr beteiligt als nur das Wort, das ich zufällig nicht kenne: dieses Wort habe ich vielleicht noch nie benötigt, oder meine Mutter gebraucht es nie, oder die Kinder, die es verwenden, wollen von mir nichts wissen. Sie schließen mich aus ihren Spielen aus. Ich bin zu stolz, um ihnen nachzulaufen. Ich will mit ihnen auch nichts zu tun haben. Also überhöre ich die Wörter, die sie rufen oder sich zuflüstern. Ich will sie gar nicht wissen.
Es gehören viele Aspekte zum Lesen lernen, und dies sind einige, die dazu führen, dass ich lese, aber nicht verstehe.
Vor ein paar Wochen lernte ich als Lesepatin einen neunjährigen Jungen kennen, ich nenne ihn Memed. Er sitzt im dritten Schuljahr mit einer Fünf in Deutsch. In dem Alter erzählen die Kinder noch gern; ich fragte ihn dies und das, er berichtete mit Freuden. Er konnte Gedichte auswendig, er behielt rasch, und er stellte Fragen. Ein wunderbarer Schüler. Aber: Das Wort „Segen“ war ihm unbekannt. Das Wort „Eichhörnchen“ sprach er in etwa so aus: „Eichrrrrn“. Das Wort „fürchterlich“ wurde zu „fürchtrrrr“. Aus „zwinkern“ machte er beharrlich „zwickern“. Und so fort. Ich muss hinzufügen, dass er zuhause praktisch kein Deutsch redet; er ist das einzige Kind, und es scheint ihm sonst an nichts zu fehlen. „Ich bin nicht dumm!“ betonte er im Gespräch; ich erwiderte: „Nein, überhaupt nicht, du bist intelligent. Aber du kannst nicht lesen. Was wollen wir machen?“
Mein Programm lautet: zum flüssigen Lesen gelangen. Im Jungen den Anspruch wecken und stärken, dass er das Recht hat, alles, was er liest, auch zu verstehen. Zwei kolossale Forderungen! Wenn es gelingt, ihm das Lesen im Gehen und Stehen, Tag und Nacht, auf der Straße und in den Räumen, wo immer er sich aufhält, schmackhaft zu machen, dann gewinnen wir vielleicht die Geläufigkeit. Aber der Wortschatz? Was könnte in ihm eine Aufmerksamkeit für den Wortschatz wecken? Dieser Tage rief er mir nach unserer Stunde auf dem Flur hinterher: „Meine Mutter liest mit mir!“ – „Schön!“ rief ich zurück. Wieder einen Schritt voran, dachte ich. Vielleicht kann ich die Mutter bald mal kennenlernen.
Ein guter deutscher Bildungsbürger fragt spätestens jetzt: und die Eltern? Warum tun die nix? Dazu kann ich im Moment nicht viel sagen, aber ich habe vom Lehrer und vom Kita-Personal gehört, dass die Eltern im ersten Schuljahr da waren, damals auf das Personal nicht den besten Eindruck gemacht haben, und seither nicht mehr erscheinen. Ich weiß aus anderen Erfahrungen, dass wenig gebildete Eltern, die obendrein nicht gut Deutsch können, ungern mit dem Schul- oder Hort-Personal reden, weil dieses seine eigene, für die Eltern oft unverständliche Sprache spricht und gar nicht fragt, was die Eltern denn wissen möchten, sondern ihnen vor allem vorhält, was sie, die Eltern, tun sollten.
Es ist eine Frage der Bildungslücken, auf allen Seiten. Immer und immer wieder: auf beiden Seiten. Es geht dabei nicht um angebliche oder wirkliche ethnische Unterschiede, sondern um das Wissen, um das anwendbare Wissen. Es geht darum, dass die Kinder hier in Deutschland Deutsch können müssen. Denken Sie zum Beispiel nur daran, dass einer, der schlecht liest, aber gut rechnet, schon in dem Moment verloren ist, wo er Textaufgaben rechnen muss.
Bücher helfen nur, wenn einer sie lesen kann. Wenn einem Kind die Fähigkeit des Lesens Anerkennung verschafft, ist das Kind bereit, sich anzustrengen und das Lesen zu lernen. Das gilt natürlich für alle Altersstufen, auch für Erwachsene. Das Lesen, das Schmökern – und sei es auch auf der Glasscheibe statt im Papierbuch – das ist hier unwichtig – der Wortschatz, den Kinder lernen von klein auf, der Horizont, der sich mit jedem neuen Wort neu auftut, egal, in welcher Sprache – damit das Lesen lernen erstrebenswert wird, dafür können wir eine sogenannte „Immigrationsbuchmesse“ brauchen. Sie könnte auf lokaler, vielleicht regionaler Ebene Brücken bauen: vom Bengalischen zum Deutschen, vom Türkischen zum Deutschen, vom Serbokroatischen zum Deutschen,vom Russischen zum Deutschen und von all den weiteren vielen Sprachen, die hier in Frankfurt gesprochen, manchmal geschrieben, von vielen verstanden werden, auch untereinander, von einer zur anderen Sprache. Hier, auf der Immigrationsbuchmesse, sollten sich alle Sprachen zuhause fühlen können, die gesprochenen, aber vor allem auch die geschriebenen. Das wäre mein Wunsch, für dieses und für die kommenden Jahre.
Frankfurt, den 28. Januar
Gestern war Vollmond, darum schlug gestern auch das Wetter um. Die Macht des Frostes ist gebrochen. Von den Dächern tropft es, die Bäume ragen wieder völlig schwarz gegen den grauen Himmel; die eisfreien Pfade auf den Bürgersteigen verbreitern sich zwischen den Schnee- und Eisresten. Und wahrhaftig: es riecht ein wenig schon nach Frühling!
Am Freitag und am Samstag hatte die "Gesellschaft zur Förderung der Literatur in Asien, Afrika und Lateinamerika" zu den "Afrikanischen Literaturtagen" in das Frankfurter Literaturhaus eingeladen. Der Zuspruch des Publikums war wieder - wie im letzten Jahr mit der "arabischen Literatur" - überwältigend, nicht jeder fand einen Platz.
Dennoch war es anders. Lag es an einer gewissen Routine? Oder eben doch daran, dass die meisten der auftretenden Literaten stark von Europa oder USA geprägt waren und nur noch gelegentlich bei ihren afrikanischen Landsleuten vorbeischauen?
Nein: das subsaharische Afrika unterscheidet sich wesentlich von arabisch-sprechenden Ländern dadurch, dass es in diesen Verlage und Buchläden gibt, in jenem fast gar nicht. Ein afrikanischer Schriftsteller hat in seinem afrikanischen Land keine oder kaum Veröffentlichungschancen. Er/sie muss sich auf Paris, London, Lissabon stützen.
Was ich bewahre von diesen afrikanischen Literaturtage ist die Erkenntnis, dass es in Nigeria, in Simbabwe, in Senegal wunderbare und viele Dichter_innen und Autoren_innen gibt, aber auch in Äthiopien; die Dichterin aus Sao Tomé e Principe beeindruckte mich tief. Am stärksten beeindruckte mich Patrice Nganang aus Kamerun, der in Princeton (USA) einen philosophischen Lehrstuhl innehat. Er beeindruckte mich, weil es ihm mehr als allen anderen gelingt, den Bogen von der europäischen (Philosophie-)Geschichte zur afrikanischen Geschichte zu schlagen. Er besteht auf der Notwendigkeit, afrikanische Geschichte zu schreiben; er begann vor Jahren mit einem Ansatz in der Literaturgeschichte und vertieft sich nun schon lange in die Geschichte Kameruns. Eine Trilogie will er darüber schreiben; der erste Band erschien jetzt auf Deutsch ("Der Palast des Sultans"); der zweite Band wird im März auf Französisch herauskommen. Im ersten Band widmet er sich der Geschichte Kameruns im ersten Weltkrieg. Ja, der erste Weltkrieg hatte prägende Bedeutung für Kamerun! Der Kolonialismus, nicht nur der Krieg, spielte sich unter bestimmten Fahnen ab, die Fahnen wechselten, damit auch die Form des Kolonialismus! Wie erlebten die Menschen das? Wie wirkte sich das auf die verschiedenen Generationen aus? was ist davon bis heute geblieben?
Patrice Nganang wird übrigens heute abend im "Haus am Dom" an einer Diskussion über "Panafrikanismus" teilnehmen. Er spricht Deutsch, und es lohnt sich immer, ihm zuzuhören.
Wie kam ich auf "Routine" ? Ich glaube, dieser Eindruck entstand durch manche der äußerst routinierten Moderatoren. Sie brachten alles auf das Niveau von "ersten Programmen", d.h. jeder soll was verstehen. Das heißt auch, man setzt fixe Ideen voraus. Zu diesen fixen Ideen gehörte m.E. auch, dass mindestens zwei Programmpunkte auf "Krimis" spezialisiert waren. Im Krimi steht eben die Leiche im Mittelpunkt, und wenn er gut ist, spielt er in einer plausiblen zeitgenössischen Umgebung. Aber ist ein Krimi nicht doch nur eine populäre Abart von Literatur? Weil sie immens vieles im Alltag als selbstverständlich voraussetzt, während doch der Literat gern viele Fragen ins angeblich Selbstverständliche hinein stellt?
So kam ich mit mehr Fragen heraus als ich reingegangen war, - und das ist doch auch ein Erfolg. Die Dichterin aus Sao Tomé e Principe (ein Land, das aus zwei Inseln auf Äquatorhöhe vor der afrikanischen Westküste besteht) hieß übrigens Conceiçao Lima; ihre Gedichte sind auf deutsch unter dem Titel "Die Gebärmutter des Hauses" erschienen.
Frankfurt, den 27. Januar
Vor gut einer Woche lernte ich eine Frau kennen, die mir erzählte, dass sie einen Roman über Sprachlosigkeit geschrieben habe.
Die Mitteilung elektrisierte mich. Auch ich habe einen Roman über Sprachlosigkeit geschrieben, und wusste, diese Aufgabe hat es in sich. Welche Sprache steht einem zur Verfügung, wenn man über "Sprachlosigkeit" schreiben will? (Eine ähnliche, die mich eine Weile beschäftigte, hieß: wie beschreibt man Langeweile, ohne langweilig zu werden? Doch ist das wohl was anderes.)
Ich hatte Distanz zum Thema gefunden, ich hatte Vergleichsmöglichkeiten entwickelt. Meine neue Bekannte aber wählte einen anderen Weg. Ihr Roman trägt den schönen Titel "Drei Worte auf einmal" und ihr Name ist Maria Knissel.
Die Geschichte beginnt in den 70er Jahren in der Bundesrepublik, im perfekten Kleinbürgermief, und die ersten siebzig, achtzig Seiten zeigen klar und deutlich, dass dort Eltern nicht mit ihren Kindern sprachen. Sie erklärten ihnen die Ereignisse nicht, sie nahmen keine Rücksicht auf sie. Ich kenne dieses Verhalten aus noch früheren Jahrzehnten; damals wurde allerdings immer begründet, warum man die Kinder nicht mitnehme: zu Beerdigungen, zu Festen. Sie galten als "zu klein" oder sie störten, oder sie "gehörten da nicht hin". Kinder gehörten ins Kinderzimmer. Man behauptete auch, Kinder könnten dies und das nicht verstehen, deswegen müsse man es ihnen nicht erklären.
Der Roman "Drei Worte auf einmal" aber stützt sich auf eine grundsätzliche und umfassende Kommunikationsverweigerung beider Eltern gegenüber ihrem etwa zwölfjährigen Sohn. Sie wollen keine Gefühle zeigen, es ist, als hielten sie Gefühle für unanständig und müssten sich ihrer schämen. Über Gefühle spricht man nicht. Der Roman zeigt nur diese Wirklichkeit, er zeigt nicht ihre Wurzeln. Vielmehr wird sie, diese Wirklichkeit, selbst zur Wurzel all dessen, was folgt.
Der Junge wächst heran und nichts gelingt ihm; doch zu seinem Glück erobert er sich einen Zugang zur Musik. Er wird Saxonfon-Spieler, kann das zu seinem richtigen Beruf machen, und es ist im Laufe dieser Ausbildung, dass er begreift, wie wichtig das Zuhören ist. Nur wer genau hört, kann Musiker werden - oder einfach: Mensch.
Ein Roman wäre keiner ohne eine ordentliche Liebesgeschichte. Hier entwickelt sie sich aus dem Verhältnis des Buben zu seinem älteren Bruder. Dieser hat einen Motorradunfall, fällt ins Koma und bleibt stark behindert. Man muss sich um ihn kümmern, Mutter, Vater und schließlich auch der jüngere Sohn sind davon überzeugt, dass solches Kümmern Vorrang vor allen andern Interessen hat. Schuldgefühle treiben sie an, Schuldgefühle beherrschen alle Beziehungen und wickeln auch die Sprache in ein Netz von Stummheit ein. Nur indem sich der Sohn daraus langsam befreit - er braucht 20 Jahre dazu -, schafft er es, die Liebesbeziehung zum Bruder zu entwickeln, sich bewusst zu machen. Vielleicht wird er überhaupt erst von der Schuld erlöst, als der Bruder schließlich stirbt.
Es ist ein spannender und einleuchtender Roman; einer, der besser, genauer als vieles, was ich sonst gelesen habe, die Befindlichkeiten der Bundesrepublik-West in den 70er und 80ern schildert.
Natürlich enthält er auch alles, was man sonst gern liest: Flirts, Liebesaffären, Hochzeiten, ergreifende Konzerte, und vor allem viele schöne Freundschaften.
Der Roman geht mit dem Thema "Sprachlosigkeit", wie gesagt, anders um als ich mir das gedacht hatte, als ich es selbst angegangen bin. Dem Ich-Erzähler fehlt ein bisschen die Distanz zwischen "damals"" und "jetzt"; er geht in der jeweiligen Vergangenheit auf, oder doch fast. Um Politik und Geschichte macht er einen Bogen. Dennoch ist diese Geschichte spannend, kurzweilig, gut lesbar und regt zum Nachdenken an.
"Drei Worte auf einmal" von Maria Knissel, im Societäts-Verlag, Frankfurt/M.
Frankfurt, den 17. Januar
Heute will ich noch mal ganz kurz über Laurent Mignon schreiben. Vier Gedichte aus einem französischen Gedichtband von ihm hatte ich ins Deutsche übersetzt, und die Zeitschrift "Zeichen und Wunder" hat sie gedruckt. (War das 2010?) Er ist aber nicht nur ein Dichter, sondern auch Professor für türkische Literatur in Ankara; außerdem lehrt er in Oxford. Er stammt aus Luxemburg, und dort veröffentlicht er manchmal auf französisch und so erhielt ich Zugang zu seiner Gedankenwelt.. Er schreibt für Gerechtigkeit und Verständigung zwischen den Völkern und Regionen. Hier ein Ausschnitt aus einem Briefwechsel über das Brückenschlagen zwischen den westlichen und östlichen, den nördlichen und südlichen Ufern des Mittelmeeres:
"... et cela nous ramène à notre pont. Le dialogue, c’est bon de le rappeler, se réalise entre personnes.“
Meine Übersetzung:
„Das führt uns zurück zu unserer Brücke. Ein Dialog, und es ist gut, daran zu erinnern, wird zwischen Menschen geführt. Mit wem soll man also den Dialog führen und wie? Man braucht Kriterien als Grundlage für einen Dialog, Man kann keinen Dialog mit Personen führen, die andere Personen ablehnen, nicht, weil sie anders denken oder was anderes glauben, sondern sie ablehnen für das, was sie sind. Es liegt daher auf der Hand, dass man mit Vertretern von rassistischen, frauenfeindlichen oder homophoben Theorien nicht diskutieren kann. Ein Dialog bedarf einer grundsätzlich humanistischen Basis.“
(Aus „Galerie“ Nr. 4 von 2010, Luxemburg: „Deux rives, une mer – Notes sur la nécessité de nouvelles passerelles“ -
Briefwechsel zwischen Laurent Mignon und Giulio-Enrico Pisani, Zitat von Seite 490)
Wie komme ich denn jetzt auf Laurent Mignon? Nun, in der Sachsenhäuser SPD (Frankfurt) ist ein Streit entbrannt, so schlimm, dass täglich die Presse darüber berichtet! Und in den wütenden internen Mail-Wechsel habe ich mich nun auch eingemischt, und dabei habe ich Mignon zitiert mit: Für einen Dialog braucht man eine grundsätzlich humanistische Basis.
Vom Feindbild sprach ich, das einem Soldaten hilft, ohne Skrupel einen anderen zu töten. Von Beschimpfungen, die nichts bringen; vom Dialog, der nur im Respekt mit dem anderen geführt werden kann. Von Grabenkämpfen in Sachsenhausen, und wie die wohl in der Perspektive eines Nahost-Spezialisten aussehen ....
Ich bin als "Migrationsbeauftragte" im Ortsvorstand, und so darf ich mich auf einen so illustren Migranten wie Professor Laurent Mignon gewiss berufen.
Mignon fährt in seinem oben zitierten Brief fort mit: "Ich glaube nach wie vor, dass ein radikaler Humanismus, der von einer Kritik des Kolonialismus und des Kapitalismus begleitet ist und der auch Selbstkritik vorsieht, eine linke Idee ist. .... Nun begeh ich aber nicht den Fehler zu glauben, dass das politische Schachbrett Westeuropas einen universalen Wert hätte. Die türkische Partei, die gegenwärtig an der Macht ist, eine islamisch-konservative Partei, steht ohne jeden Zweifel in vielen Fragen weiter links als die 'Republikanische Volkspartei', Hauptpartei der Opposition, die allerdings Miglied in der Sozialistischen Internationalen ist ......."
Frankfurt, den 10. Januar 2013
Allen Leserinnen und Lesern ein friedliches Neues Jahr!
Die Zeit rennt, und es ist ja nicht so, als würde nichts passieren. Ich war zwei Wochen verreist und habe viel erlebt. Aber ich frage mich doch immer häufiger, ob ich das, was ich erlebe, gleich öffentlich machen soll. Andersherum gedacht: was von meinem Leben kann ich abgeben, damit sich andere ("die Welt" klingt zu angeberisch) daran ergötzen? Ich werde geizig, wie mir scheint, ich brauch das alles erstmal selbst.
Jedenfalls habe ich meinen dritten Roman beendet (muss ihn noch mal durcharbeiten), habe einen Artikel für "kulturissimo" geschrieben, die Kulturbeilage des luxemburgischen "tageblatt"; habe eine Erzählung geschrieben, für die der Titel noch nicht feststeht, die aber für die nächste Anthologie des "Literaturclubs der Frauen aus aller Welt" bestimmt ist. Ich schreibe fast täglich; doch habe ich auch immer öfter Gelegenheit, mit Gleichgesinnten mich zu unterhalten.
Für das neue Jahr habe ich ein Projekt. Noch weiß ich nicht, ob ich es durchführen will oder kann; zunächst geht es um Vorbereitungen. Das Projekt wäre ein Buch über das Luxemburger Frauentheater, das von 1981 bis 1989 jedes Jahr zum 8. März eine eigene Produktion auf die Bühne brachte (fast jedes Jahr, ich muss das recherchieren). Ich war dabei; doch mir geht es wie allen, die ich bisher gesprochen habe, die auch dabei waren: wir haben sehr viel vergessen. Es war eine gehetzte Zeit. Die Frauen standen alle im Beruf, und das Theater forderte einen großen Teil unserer Freizeit. Wir spielten mit Leib und Seele Theater; so ging uns manches sehr nah, näher als eigentlich gut tat, als wir gelegentlich verkraften konnten. Es war eine Laientruppe, wir verdienten kein Geld damit.
Eine heiße Zeit, und die Erinnerungen steigen langsam wieder auf. Doch erstmal versuche ich, meinen Roman abzuschließen und unterzubringen.
Dann springt mir manchmal was Aktuelles ins Gesicht, ich muss mich dann damit auseinandersetzen. So begegnete mir in einer bekannten Luxemburger Fernsehzeitschrift ein Artikel, den ein Börsenspezialist, ein Finanzmanager geschrieben hatte, um den einfachen Leuten etwas klar zu machen. Als Aussicht für das neue Jahr sagte er dem Mittelstand zunehmende Armut voraus. Wer nämlich einfach sparen wolle, um sich ein Haus zu bauen oder die Ausbildung der Kinder zu sichern und so weiter, derjenige werde beim Sparen mit so niedrigen Zinsen abgespeist, dass die Inflationsrate das Kapital mit der Zeit aufessen werde. Nein, richtig Geld verdienen, so der Spezialist, könne man nur mit sehr hohen Summen und Risikogeschäften. Nur diese bringen noch die acht oder zehn oder zwölf Prozent Profit, die Reichtum verheißen. Nur wer viel Geld habe, der könne auch Geld dazugewinnen.
Der Artikel war also geeignet, einfachen Leuten Angst zu machen. Was hat der Direktor einer Vermögensverwaltung - also wahrscheinlich ein Auftragsspekulant - davon, wenn die einfachen Leute sich fürchten? Nun, sie werden die Konservativen wählen, und diese wiederum schützen die Finanzwirtschaft. Heißt aber "Risikobereitschaft" nicht auch, dass man beim Spekulieren alles verlieren kann? Gewiss, doch hat sich ja in unserm Fall erwiesen, dass die Finanzinstitute bei zu großen Verlusten vom Staat (auf Kosten der Steuerzahler) freigekauft werden. Das erwähnte der genannte Spezialist natürlich nicht. Und doch verriet er sich auf seltsame Weise. Er schrieb, der Mittelstand sei von "siechender Armut" bedroht. Ich vermute, er meinte: von schleichender Armut. Doch hatte die Redaktion diesen Ausdruck von der "siechenden Armut" sogar in den Titel gesetzt. Er fiel ins Auge, aber anscheinend keinem auf. Was wäre das denn, eine "siechende" Armut? Das wäre eine Armut, die krankt, die dahinsiecht, die bald verschwunden sein wird. Wer würde sich das denn nicht wünschen? Eben. Der Autor hat unbeabsichtigt an sich selbst gedacht. Als Vermögensverwalter kann er nur gewinnen, und kann selber immer nur noch reicher werden. Je reicher seine Klienten, desto mehr fällt für ihn ab. Während der Mittelstand verarmt, wird er immer reicher werden.
Ob er überhaupt gemerkt hat, dass er sich subrepticement selber verrät? Die Redaktion scheint es nicht erkannt zu haben. Sonst hätte sie doch wohl den Fehler korrigiert.
Frankfurt, 17. Dezember
Als ich meinen Eintrag vom 11. Dezember schrieb, war ich sehr empört, wie LeserIn leicht erraten kann. Doch nährte sich meine Empörung nicht allein aus den Mitteilungen der taz, sie brachten sie nur zur Explosion. Vorbereitet hatte sie sich (meine Empörung) bei der Lektüre eines Romans, den ich am Abend zuvor gerade ausgelesen hatte. Er heißt "Kostas stille Tage" und ist von Franco Biondi. Es geht darin um junge Leute, um die zweite Generation von Migrantenfamilien in Deutschland (West). Sie sind in Deutschland geboren, dort zur Schule gegangen, sie kennen sich aus. Und doch schleifen sie unsichtbar ein fremdes Schicksal hinter sich her, oft unbewusste Erinnerungsfetzen an Krieg, Elend, Vertreibung. Die Gleichaltrigen aus den einheimischen Familien ahnen davon gar nichts.
Der Autor begleitet eine Handvoll Heranwachsender aus solchen Gruppen über die Jahre 1984 bis 1993; LeserIn erlebt mit, wie die Jungen und Mädchen sich zurechtfinden oder nicht, wie sie miteinander umgehen, und vor allem - in bezug auf meine Empörung - wie manche in die Gewalttätigkeit abrutschen und wie niemand, die Eltern und Familien nicht, kein Jugendamt, keine Polizei ihnen helfen kann. Gegen Ende der Geschichte stürzt die Titelfigur Kostas im tiefen Wunsch, eine Katastrophe zu verhüten, ins Jugendamt und ruft: "Dabei merkt ihr vor lauter amtlicher Betreuung nicht, dass eure 'Klientel' an gebrochenem Herzen dahinkrebst!" Da antwortet die Verantwortliche (die einer junge Frau ihr Baby wegnehmen will), sie wolle nur den Kindern der Unglücklichen "eine Chance für die Zukunft" geben. Kostas ruft: "Und? Erreicht ihr das? Alle diese Leute sind mal Kinder gewesen -- wo waren die amtlichen Kinderbeschützer, als sie in Not waren?"
Sie waren nicht da, sie sind nicht zuständig, sie kümmern sich nur um Dinge, die sie verstehen, und was geht sie, um ein Beispiel zu nennen, die Vertreibung der Griechen zur Zeit von Kemal Atatürk an ..... (Endlich ein Unrecht, mit dem die Deutschen rein gar nichts zu tun haben! Aber das sagt Biondi natürlich nicht.)
Kurzum, das Buch hatte mich aufgebracht, und die taz-Schlagzeile "Menschenrecht für Pyrotechnik" war genau das Streichholz, das mich entzündete.
Es bleibt mir daher an dieser Stelle nur, Franco Biondis Roman "Kostas stille Jahre" zu empfehlen.
Frankfurt, 11. Dezember
Auf dem Titelblatt der "taz" steht heute eine wahrhaft memorable Schlagzeile: "Menschenrecht auf Pyrotechnik".
Vielleicht hat die Redaktion das etwas zugespitzt. Ich denke, es wird Menschen geben, die das nicht oder anders verstehen. Anders als was?
Als dies: da kommen gewisse Jungs zum Fußballplatz und wollen "Spaß", immer mehr, immer neuen "Spaß". Ihre jüngste Errungenschaft von Vergnügen im Stadion besteht darin, dass sie erdnah brennendes Feuerwerk, sogenanntes bengalisches Feuer, mitten auf der Tribüne oder am liebsten auf dem Fußballplatz selbst zünden wollen. "Pyromanie" hieß sowas früher. Heute gilt es für diese verwöhnt-gefühllosen Bengels als "Bürgerrecht"!!
Ich werde einen Leserbrief an die taz schreiben mit der Bitte, sie möchten mal erforschen, wie es den Frauen in dieser "Fankultur", bei den sogenannten "Ultras", geht, wie oft die vergewaltigt werden, wie oder ob sie sich wehren können, wie sie dem Gewaltmilieu möglicherweisen überhaupt entkommen, wieviele dort umkommen usw.
Und die taz schreibt obendrein auf der ersten Seite: "... die Sicherheitsapologeten in der deutschen Politik ..... wollen mit aller Macht die totale Kontrolle über die Stadien ,.... sehen ... wie rechtsstaatliche Standards aufgeweicht werden ..... befürworten eine Denunziationskultur .... finden es angebracht, wenn Sicherheitsdienste den Fans in den entblößten After schauen - es könnte ja darin Pyrotechnik ins Stadion geschmuggelt werden ...."
Ich glaube, ich spinne. Wenn es mir also widerstrebte, neben einem wild tobenden bengalischen Feuer im Stadion zu sitzen, dann wäre ich gegen die Demokratie??
Und als Sicherheitsdienst würde ich dazu verdonnert, wild gewordenen Fans im nackten Hintern rumzustochern, weil sie sonst doch noch die Welt mit bengalischen Feuern bedrohen würden???? Wer will denn das?
Nein, liebe taz, hier geht Ihr in Eurer Fussballliebe ausgesprochen zu weit.
Ich räume gern ein, dass es Leute gibt, die das anders verstehen. Gewiss sind sie von unsern 80 Mio eine Minderheit. Glücklicherweise. Sonst müsste man ja wirklich auswandern.
Bedenkt doch: Die Freiheit ist immer auch die Freiheit des Anderen. Sogar im Stadion.
6. Dezember
Was bedeutet "Tratsch"?
Diese Frage stellte sich mir, seit ich, ganz privat, meine Meinung zu einem Buchgeschenk geäußert habe. Es handelte sich um "die Tagebücher" eines renommierten Journalisten, die ich zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Glänzend geschrieben, bieten sie doch in der Hauptsache nur "Tratsch", fand ich.
Was ist denn schlecht am Tratsch, was bedeutet das Wort eigentlich?
Was stört mich daran, dass ich Tratsch als negativ beurteile?
Obwohl ich einräume, dass ich manchmal, ganz selten, auch selbst der Versuchung nachgebe zu tratschen. Dann rede ich mit vertrauten Menschen über eine abwesende Person, über möglicherweise intime Dinge, die die/den Abwesende/n betreffen. ich urteile, verurteile womöglich und bei all dem folge ich meinem "Bauchgefühl", das heißt im Grunde meinem eigenen Bedürfnis. Ich kann mich der abwesenden Person für einen Moment überlegen fühlen. Ich kann ihr eine Position zuordnen, die meine eigene stärkt. Und, absolute Voraussetzung: derjenige, der mir zuhört, versteht aufs Wort und augenblicklich, was ich meine. Ich bewege mich also auf dem Gleise des Selbstverständlichen, des Unhinterfragten, des Vorurteils und der fixen Ideen.
Theodor Fontane hat das, ein wenig spöttisch, in einem Gedicht beschrieben: "Man wird nicht besser mit den Jahren / wie sollt' es auch, man wird bequem / und bringt um sich die Reu zu sparen, / die Fehler all in ein System. // Das gibt dann eine glatte Fläche / man gleitet unbehindert fort / und 'allgemeine Menschschwäche' ist unser Trost- und Losungswort." Allerdings, und darin liegt Fontanes Größe, hat er die Sache auf eine Ebene der Allgemeingültigkeit und kritischer Haltung gebracht.
Eine solche Größe vermisste ich in den besagten "Tagebüchern". Sie beschreiben zwanzig Jahre Bundesrepublik, den Kulturbetrieb vor allem, aber von Seiten des Schreibers immer aus einem persönlichen Gefühl des Mangels heraus: er will, er braucht Bestätigung, und nach diesem Bedürfnis ordnet er seine Beschreibungen von Wirklichkeit. Er vermag sich nicht über seine eigenen Bedürfnisse zu erheben.
Immerhin will ich ihm zugute halten, dass er Häme immer vermeidet. Kein Mobbing, höchstens mal eine Klage.
Bei Fontane folgt noch eine dritte Strophe, die will ich zum Schluss aufsagen:
"Die Fragen alle sind erledigt, / das eine geht, das andere nicht. / Nur manchmal eine stumme Predigt / hält uns der Kinder Angesicht."
Ja, das war im wilhelminischen Deutschland, in der guten alten Zeit! Heute sind die Kinder nicht mehr stumm und beteiligen sich selbst am - Tratsch!
Frankfurt, 2. Dezember
Ein Festwochenende liegt hinter mir, eine Woche mit Gästen - es ist nun schon fast eine weitere Woche vergangen, seit ich wieder für mich bin. Ich muss nicht mehr daran denken, den Hauhalt zu besorgen, Essen aufzutischen, das Fest zu organisieren. Es war ein herrliches Fest, ein Familientreffen zu meinem Geburtstag, und mein Enkel gab ein klassisches Klavierkonzert in der "Klosterpresse". Gut dreißig Gäste erlebten das mit, es gab ein orientalisches Buffet vor dem Konzert, und ausführliche Gelegenheit zum Gespräch, Möglichkeiten, sich mit anderen Gästen bekannt zu machen, wenn man wollte. Natürlich konnte ich nicht jeden Einzelnen jedem vorstellen - wehmütig denke ich an den Ausrufer bei großen Bällen im 19. Jahrhundert, der Namen und Titel jedes Gastes bei dessen Eintritt laut bekannt gab. Nein, bei mir, bei den Künstlern der Klosterpresse lief alles weniger förmlich und ohne Personal ab. Viele halfen mit, allen sag ich hiermit noch einmal Dank! Dieser konkrete Beweis von Solidarität war ein besonderes Geschenk zum Geburtstag, vielleicht das größte. Gleichbedeutend mit Emils Konzert, in dem er einen Querschnitt durch sein Répertoire zeigte.
Aber ich will nicht werten, nicht hierarchisieren - es waren herrliche Stunden.
Am Montag wurde mir dann noch ein Vergnügen zuteil: mit zwei jungen Damen Einkaufen gehen. Wir begannen rund um die Konstablerwache und landeten viele Stunden später unweit der Alten Oper. Erschöpft, aber doch glücklich, weil die beiden schließlich ein Teil von dem, was sie sich gewünscht hatten, tatsächlich auch fanden: ein paar Schuhe zum Ausgehen die eine, eine richtig passende Handtasche die andere. Bis dahin aber sahen wir unendlich viel Ware, der es an Stil und Schönheit mangelte. Wenn ich jetzt durch die Stadt gehe und sehe die wulstigen Daunenmäntel, in die sich Alt und Jung, Reich und Arm zwängen, dann steigt ein Anflug von Ekel in mir hoch. Was für eine seltsame Mode.... Gewöhnlich bemerke ich nicht oder kaum, was die Leute anhaben.
Nur wenn ich selbst mal was suche, schaue ich mich ein wenig um. Kommt eher selten vor. Ich seh dann sowieso nur, was mich interessiert.
Am nächsten oder übernächsten Tag, wo alle wieder abgereist waren und ich in meinen gewohnten Rhythmus einzusteigen versuchte, wurde ich ein wenig traurig: Zwar kann ich, wenn ich Besuch habe, nicht schreiben oder mich mit meinen Interessen beschäftigen, doch geht es mir immer sehr gut dabei, und nachher falle ich wie in ein Loch.....
Jetzt wende ich mich entschieden meinem Roman zu: ob es mir gelingt, ihn in einer Woche fertig zu schreiben? Ich nehme es mir vor.
Da soll alles andere zurückstehen.
Frankfurt, 22. November
Fortsetzung von gestern:
Ich habe meine Enkelin zu Besuch, und sie geht vor! Darum kann ich erst heute weiterschreiben.
Zu meiner Überraschung erhielt die meisten Punkte ein Thema, das sich mit der "Haltung" eines Mentors auseinandersetzen wollte. Mit war nicht klar, was der, der das Thema vorgeschlagen hatte, unter "Haltung" verstand; für mein Gefühl war es etwas Starres, was mir unsympathisch war.
Ich entschied mich für eins der restlichen ausgewählten Themen: Wie gewinnt man erfolgreiche Zuwanderer als Mentoren? (Die zwei übrigen waren: Kennen und mobilisieren, und Fachkraft versus Laie/ Finanzierung).
In jeder Gruppe wurde einer für die nachherige Berichterstattung bestimmt, und eine der wiederkehrenden Fragen an diesen Berichterstatter lautete später: Was hat Sie am meisten beeindruckt?
Ich möchte hier wiedergeben, was mich selbst am meisten an der Tagung beeindruckt hat:
Ein alter Herr hielt einen Anfangsvortrag zu der Frage, wieweit ein Impuls zum "Mentoring" (ich würde ihn lieber "Gemeinsinn" nennen) genetisch begründet sei. Er widersprach einer angeblich verbreiteten Auffassung, wonach der Mensch als Egoist geboren werde, und hielt dem entgegen, dass Menschen genetisch vor allem an der "Gruppe" orientiert seien. Einen Beweis dafür sah er darin, dass manche Menschen sogar ihr Leben für die Gruppe opferten. Seine Stimme wurde bei diesen Behauptungen von einem leichten Tremolo getragen. Mir war unbehaglich dabei. Sprach hier vielleicht ein ehemaliger Kriegsteilnehmer mit einem Rechtfertigungsbedürfnis? Sind die radikalisierten jungen Männer, die sich in die Luft sprengen, nicht eher Opfer fanatischer Ideologien und ihrer eigenen Hormon-Überproduktion?
Sind die Beziehungen der Menschen untereinander nicht tatsächlich vielmehr das Ergebnis einer vielfältigen, hochkomplexen Entwicklung vom Mutterleib an bis hin zur ganzen Umgebung des Kindes und gleichzeitig der Zustände in der Epoche ihre Aufwachsens? Diese Frage wurde an dem Tag nicht weiter behandelt.
Der andere Punkt, der mich beeidnruckte, sagen wir ein wenig aufschreckte, aber nicht so sehr wie der erste, war diese Zustimmung zur "Haltung". Was meinte man damit? Etwas Sektenähnliches, oder Religiöses, das sich nicht dekuvrieren will? Woran hält sich diese "Haltung"? Was legt man ihr zugrunde, das man nicht nennen will?
Ich weiß darauf keine Antwort, weil ich zunächst meinem Instinkt folgte und die Gruppe mit diesem Thema mied. Aber ich werde es noch mal in Ruhe untersuchen.
Für mich beruht die "Mentorenarbeit" auf einer Verantwortung. Ich selbst habe in meiner Jugend viel Unterstützung und Hilfe erhalten und möchte das einfach weitergeben. Damit jeder und jede ihre Chance im Leben erhalte. Soweit es in meinen Möglichkeiten steht, überall, nicht nur innerhalb eines Vereins.
Frankfurt, 21. November
Jemand gründet gerade in Frankfurt einen Verein für "Mentorentum" oder das "Mentorenwesen", auf Englisch besser bekannt als "Mentoring". Unter Mentor versteht man eine ehrenamlich tätige Person, die Kinder oder Jugendliche persönlich unterstützt, sei es in ihren Schulkarrieren, sei es in sonstigen Bereichen des Alltags. Es gibt zahlreiche, vielleicht gar zahllose Gruppierungen, die auf diesem Felde ackern. Der neu gegründete Vereine will alle diese Gruppen vernetzen, ihnen neue Horizonte öffnen, die Anwerbung von neuen Mentoren erleichtern, für Fortbildung sorgen und was sonst noch so infrage kommt.
Ich nahm neulich an einem Tagesseminar des neuen Mentorenvereins teil. Auf der Tagesordnung standen einige Referate und anschließend Gruppenarbeit zu verschiedenen Themen. Die Themen durften die etwa 40 Teilnehmer selbst vorschlagen. Es kamen zwölf oder fünfzehn zusammen, unter diesen mussten nun wieder vier Themen ausgewählt werden, und dies geschah, indem jeder Teilnehmer zwei Klebepunkte erhielt und diese auf das von ihm vorgezogene Thema kleben sollte.
(Forts. folgt)
Frankfurt, 12. November
Es wird wieder viel über "Urheberrecht" geredet. Weil mir die Argumentationen nicht klar waren, habe ich mich auf der Buchmesse im Oktober ein wenig umgehört und bin dann zu folgenden Ergebnissen gelangt: wir brauchen ein Urheberrecht, das den Autor schützt. Nach dem, was ich begriffen habe, gibt es das schon. Manche verstoßen dagegen, da muss man klagen. Andere schließen Verträge ab, die das Urheberrecht individuell oder für ganze Branchen aufheben - was anscheinend in der Musikbranche der Fall ist oder war. Tja, was soll man da machen. Pacta servanda sunt - Verträge muss man einhalten.
Grundätzlich: entweder bezahlt man für eine Ware, oder man bekommt sie umsonst. Das Internet an sich begründet keine Umsonst-Lieferung. Vielleicht macht es die Eintreibung der Schulden schwieriger, aber dieses Stadium scheint auch schon überwunden zu sein.
Menschen, die gern Eigenes unbezahlt ins Netz stellen, haben diese Freiheit, sie steht ihnen zu.
Wenn sie aber Fremdes ins Netz stellen, ohne den Autor zu fragen - da beginnt der Streit. Aus meinen Gesprächen und dem, was ich auf der Buchmesse gehört habe, schlussfolgerte ich, dass die jüngere Generation Orte wie Facebook, oder auch die eigene Webseite, als "privaten Ort" betrachtet, so wie man früher ein Fotoalbum hatte und es den Freunden zeigte. Heute gilt ein Facebook-Kunde automatisch als "Freund" anderer Facebook-Kunden. Das nenne ich einen Missbrauch von Sprache, oder zumindest eine Veränderung der Bedeutung des Wortes "Freund".
Können wir uns einigen auf: Ins-Netz-stellen bedeutet "Veröffentlichen" ?Eventuell mit klaren Ausnahmen, wenn nötig?
Frankfurt, den 6. November
Ein Regenfeld zieht über uns dahin. Das Wochenende verbrachte ich im Taunus, wo die Wolken über den Bergkämmen lagen, wo Nebelfetzen sich in den Wipfeln verfingen. Es sah schön aus, und es lockte mich doch nicht nach draußen. Drinnen, im schönen, neu hergerichteten Haus der evangelischen Akademie, ereignet sich alles, was in dem Moment zählte.
Der Schatten der Reformation über den Juden und dem Judentum. Luther und die Juden. Die evangelische Kirche will im Jahr 2017 "500 Jahre Reformation" feiern, und die Frage war gestern in Arnoldshain: wird sich die EKD, die Evangelische Kirche Deutschlands, dann ganz öffentlich von Luthers Hetzschriften gegen die Juden distanzieren? Das hat sie bisher nicht getan. Wie ich es verstanden habe, liegt der Grund darin, dass die Protestanten traditionell Politik und Theologie ganz und gar nicht auseinanderhalten. Luther tat das auch nicht. Wenn man Luthers Größe feiern will, so darf man, das meinen wohl manche Kirchenmänner, nichts abschneiden. Lieber ein bisschen verschweigen.
Luthers Judenhetze in seinen späten Jahren nahm indes eine so gewaltige, geradezu pathologische Form an, dass sich jeder vernünftige Mensch explizit davon distanzieren muss. Niemand konnte bisher nachweisen, dass es auch zu Luthers Zeit irgendeinen konkreten, sei es auch nur persönlichen Anlass für seine Hasstiraden gab. Nur den Nazis sprachen sie aus dem Herzen, sie benützten sie.
Es waren sehr viele kluge, wissensreiche und liebevolle Menschen in Arnoldshain, größtenteils evangelische Theologen. Auch Micha Brumlik aus Frankfurt war eingeladen. Er referierte über "Luthers Judenhass als Ausdruck seines politischen Denkens". Brumlik filterte in seinem Vortrag die politischen Standpunkte systematisch vom übrigen und bewirkte dadurch größere Klarheit.
Micha Brumlik, Professor der Erziehungswissenschaften, ist kein evangelischer Christ, sondern Jude und brachte daher einen Blick von außen mit. Das wurde von den meisten Zuhörern sehr geschätzt.
In der ersten Hälfte dieses Jahres führte das Frankfurter Schauspielhaus Shakespeares "Kaufmann von Venedig" auf und inszenierte es so, dass eine Sammlung von Lutherzitaten aus Luthers antijüdischen Hetzschriften mit einbezogen wurde, dadurch die Verhältnisse, in denen Shylock lebte, noch verdeutlichend. Wir hörten in Arnoldshain den Schauspieler, der Luthers Sätze im Schauspielhaus vorgetragen hatte. Er hinterließ einen tiefen Eindruck.