Tagebuch Sommer 2013

Frankfurt, 22.Oktober

In der Zwischenzeit ist mir durch den Kopf gegangen, was wohl der entscheidende Unterschied zwischen den Wirtschaftsformen im Sowjetreich und denen im Westen war: die Produktivität. "Drüben" hat keiner unter dem Gesichtspunkt der Produktivität gewirtschaftet, das ist m.E. die Frage nach dem Mehrwert. Die hat keiner richtig gestellt.

Das erinnert mich an "Hans im Glück", das Märchen von Grimm. Der junge Mann hatte viele Jahre seinem Herrn tüchtig gedient. Nun bat er um Abschied, er wollte seine Mutter noch mal sehen. Da der Herr mit ihm sehr zufrieden gewesen war, gab er ihm als Lohn einen Goldklumpen mi.

Offenbar ist Hans so ungebildet, dass er von dem Goldklumpen nur das Gewicht bemerkt, und auf der Straße ist es sehr heiß. Er muss ihn schleppen! Da kommt ein Reiter vorbei, und Hans tauscht sein Gold gegen das Pferd, um leichter vorwärts zu kommen. Leider hat er das Reiten nicht gelernt und wird abgeworfen. Das gefällt ihm nicht, und er tauscht das Pferd gegen eine Kuh, und immer so weiter, bis es Abend wird und er nichts mehr hat.

Ich fand das Märchen immer so blöd, dass ich nichts davon wissen wollte. Was geschieht darin aber? Ein junger Mann, der immer gehorcht hat und tat, was man ihm sagte, der perfekt Dienende, erhält an einem Tag seines Lebens die Chance, selbst zu entscheiden. Selbst verschiedene Möglichkeiten zu erproben. Eigene Erfahrungen zu machen. Er ordnet alle Erfahrungen im Rahmen seines Wissens und seines Weltbildes ein, und das Ergebnis ist, dass er sich zum Schluss glücklich fühlt, glücklich und leicht. Das finanzielle Defizit ist ihm nicht bewusst. Geld interessiert ihn nicht.

So war es vielleicht auch in der Sowjetunion: Geld sollte keine Rolle spielen, jeder durfte sich selbst verwirklichen (zumindest nach der Theorie). Auf Produktivität achtete man nicht. Das ganze Land arbeitete im Defizit.

Das war den meisten nicht bewusst.

 

 

Frankfurt, den 20. Oktober

Die Messe ist vorbei, ich habe meinen Bericht an "kulturissimo" geschickt (dieses wird im November, ich glaube am Donnerstag der zweiten Woche, dem luxemburgischen "tageblatt" beiliegen) und kann mich nun anderen Themen zuwenden.

Könnte, wenn nicht noch nachwirkte, was ich so alles erlebt habe.

Professor Schlögel zum Beispiel beschäftigt mich noch. Er war der Laudator in der Paulskirche, bei der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels an Swetlana Alexijewitsch. Zum erstenmal, seit ich diesem Zeremoniell vor Ort beiwohne, gab es vom Publikum her bei der Preisrede keine Reaktionen (wenn ich davon absehe, dass ein Mann ohnmächtig wurde). Das lag zum Teil gewiss daran, dass Prof. Schlögel sehr schnell, ja hastig sprach, geradezu als würde er gejagt. Das ZDF wird wohl seine Zeitvorgaben streng durchgesetzt haben, denke ich mir; doch konnte der Professor seine Rede nicht einfach ein wenig kürzen, damit er mehr Zeit hatte und damit er so sprechen konnte, dass seine Zuhörer den Eindruck bekamen, er meinte, was er sagte?

In der Wirklichkeit las er einfach nur ab, ohne Engagement. So verklang auch der Beifall rasch. Welch ein Unterschied zum letzten Jähr, wo Liao Yiwu auf der Flöte spielte und der Applaus nicht enden wollte.

Dabei hätte Swetlana Alexijewitsch den gleichen Zuspruch verdient. Auch sie setzt ihr Leben dafür ein, Menschen eine Stimme zu geben, die sonst niemand hört. Lebensläufe einfühlsam zu beschreiben, die im kapitalistischen Alltag niemand wahrnimmt. Ein "Sowjetmensch" war häufig ein Idealist, ein Mensch, der sich für andere, für ein allgemeines Ziel einsetzte.

Professor Schlögel war Professor für Geschichte Osteuropas, für Kulturgeschichte und ist seit April 2013 emeritiert. Offenbar erschien er als ein besonders geeigneter Mann für eine Autorin, die die sowjetische Zeit von unten und die nachsowjetischen Jahre aus der Sicht der Verlierer beschreibt. Er müsste sich auskennen.

Auskennen in was? Im Mitgefühl? In der Wahrnehmung von menschlicher Wärme, von menschlicher Grausamkeit, von Trauer und Liebe im Krieg? Davon und noch viel mehr berichtet Alexijewitsch. Schlögel hingegen nennt glückliche Momente im sowjetischen Alltag "harmlos". Er setzt eine "Meistererzählung vom nahtlos gelingenden Übergang von der Diktatur zur Demokratie, vom Kommunismus zur Marktwirtschaft" voraus -und findet sie nicht. Wo gibt es die denn? Das ist doch bloß eine Fantasie von Leuten, die nicht selbst genug erleben, ein Wunschtraum von Bildungsbürgern.

Prof. Schlögel ist zwar dankbar, dass er als Westler es ohne eigenen Verdienst geschichtlich besser getroffen habe als die Menschen in Alexijewitschs Büchern, aber es gelingen ihm dennoch nur seltsam weltfremde Äußerungen: "Nun muß man einem neuen Druck standhalten: dem der Konkurrenz und dem Stress, den die Freiheit mit sich bringt." Nach seiner Auffassung seien die "neuen Helden" die, die diesen Stress ertragen! Grad so, als sei der gesetzlose Zustand Anfang der neunziger Jahre in der ehemaligen Sowjetunion, wo ohne Strafe geraubt und gemordet wurde, die "Freiheit"! Als sei Geschick fürs Kommerzielle die einzig erstrebenswerte Fähigkeit für einen Menschen. Er sieht, "was geradezu an ein Wunder grenzt", dass Stimmen von Personen auftauchen, "die allen Schwierigkeiten zum Trotz nicht darauf warten, dass das Manna vom Himmel fällt, sondern sich in Bewegen gesetzt haben, um für sich und die ihren ein neues Leben aufzubauen - ein halbwegs normales Leben." Was wohl für diesen Professor, der so alt ist wie die westdeutsche Bundesrepublik, "normales Leben" bedeutet? Wenn Lehrerinnen im Alter hungern? Wenn es außer Geldwert nichts Erstrebenswertes mehr gibt? Wer im ganzen Buch von Alexejiwitsch erwartet Manna vom Himmel? Überhaupt keiner.

Diese Behauptung, alle, die nicht auf die Straße gingen und irgendwas verkauften, seien Leute gewesen, die auf das Manna vom Himmel warten - wohlgemerkt, die Leute kamen gerade aus dem kirchenfernen Sozialismus - empfinde ich geradezu als eine Beleidigung. Da ist wohl der katholische Bayer mit dem Professor durchgegangen.

In dieser Bemerkung steckt ein Vorurteil, das offenbar ein lebenslanges Studium von Osteuropa nicht hat auflösen können. Seltsam. Mit begegnet hierzulande immer wieder eine Form von Antikommunismus, die ich nicht verstehe. Auch diesen Ausrutscher rechne ich darunter. Irrational, im Unterbewusstsein verankert, für Argumente unzugänglich.

Ich hoffe, dass möglichst viele der tausend Besucher aus der Paulskirche die Bücher von Alexijewitsch selber lesen.

Das neueste auf Deutsch heißt: "Secondhandtime" und beschreibt die nachsowjetische Zeit ab 1992.

 

 

Frankfurt, den 12. Oktober

Jeden Tag auf der Buchmesse, Bekannte, Freunde getroffen, Gespräche geführt - ja es hat Spaß gemacht und war nicht so anstrengend, wie ich es befürchtet hatte. Ich fühlte mich geradezu heimisch auf der Messe - zumal zwar enorm viele Neuerungen versprochen worden waren, ich aber eigentlich keine mehr fand. Darin fühlte ich mich mit Dr. Honnefelder, dem Vorsteher des Börsenvereins, einig: über die Jahre ändert sich nicht viel.

Eins fehlte: der Luxemburger Stand. Dort, wo ich ihn in den vorangehenden Jahren besuchte, zwei oder dreimal die Woche über, dort hatten sich jetzt die Schweizer ein wenig weiter ausgebreitet. Immerhin gehe ich auf die Buchmesse, um darüber in Luxemburg zu berichten, und die Ziele der Verleger am Luxemburger Stand, das, was sich dort während der Messe ereignete, gehörte zu den wichtigen Themen meiner Reportage. Manchmal konnte ich auch ein Buch erstehen, das mich interessierte.

Die Luxemburger Verleger, so hörte ich, wollten von jetzt an lieber auf kleinere Buchmessen gehen statt auf die eine, die große, die Frankfurter.

Bin ich "Journalistin" genug, um herauszufinden, was in Luxemburg geschehen ist? Kenne ich Luxemburg noch gut genug, um mir so meine eigenen Gedanken zurecht zu legen?

Und wollte ich die wohl veröffentlichen? Nein, natürlich nicht, dafür sitz ich doch hier als Journalistin mit Presseausweis. Da veröffentlicht man keine Vermutungen und Unterstellungen! Nicht die eigenen und nicht die der anderen.

Alles nicht so einfach.

Freilich habe ich auch auf der Webseite der luxemburgischen Verleger keine Antwort auf meine Frage gefunden: Wo sind sie geblieben? Nur indirekt: ich las, dass man die "Büchertage in Walferdingen", mit dem Luxemburger Bücherpreis in vier Kategorien, ausrichtet, wie in den vergangenen Jahren, und dass man die Buchmesse in Karlsruhe besuchen will. Kein Wort zu Frankfurt.

Es wird genauso gehen wie mit manchen anderen Nachrichten im Großherzogtum: sie gelangen nicht bis in die Presse, die meisten Leute interessieren sich nicht dafür, und die, die es genau wissen wollen, die erfahren es bei Freunden und in ihrer Kneipe. Ist denn nicht eine Nachricht, über die die Öffentlichkeit nichts erfährt, von vorn herein viel aufregender??

Morgen um zehn vor elf, oder vorher, muss ich mich in der Paulskirche einfinden, um bei der Verleihung des Friedenspreises an die belorussische Autorin Swetlana Alexejiwitsch dabei zu sein. Ich muss dort nicht nur meine persönliche Einladung und meinen Personalausweis vorweisen, nein, ich muss auch ein blaues Band um mein Handgelenk schlingen. Aus Sicherheitsgründen.

 

 

 

Frankfurt, den 8. Oktober

Der Sommer ist vorbei, jetzt kommt noch die Buchmesse.

In den letzten drei Wochen intensivierten sich die Festlichkeiten ...

Am 1. September wurde mein Urenkel geboren, und am 18. September durfte ich ihn zum erstenmal im Arm halten. Es war in Israel, und dort ging der Sommer ja noch weiter, mit all seiner Wärme und Herrlichkeit. Datteln und Feigen reiften, aber auch die Äpfel....

Wie wurde das Kind von allen Seiten willkommen geheißen! Es heißt Halel, das bedeutet, der Lobpreisende, und diese Stimmung entsprach ganz der seiner Eltern, seiner Tanten, seiner Großeltern. Zur Brit Mila kamen schätzungsweise 100 Gäste, überwiegend Verwandte, aber auch viele Freunde. Wie ging das Kind von Arm zu Arm, und fühlte sich sichtlich wohl! In den etwa zehn Tagen, in denen ich seine Entwicklung miterleben konnte, wuchs und gedieh es und veränderte sich täglich ein bisschen.

Übrigens las ich zufällig zur gleichen Zeit, dass Kinder gleich nach der Geburt Stoffe entwickeln, die sie immun gegen viele Krankheiten machen; mit jeder Person, die das Kind auf den Arm nahm, gewann es also zusätzliche Abwehrkräfte! "Bionom" nennen Wissenschaftler heutzutage die Sammlung von Bakterien, mit der jeder Mensch sozusagen in Wohngemeinschaft lebt.

In Israel kam ich dieses Mal nicht viel zum Zeitung lesen; einerseits fehlte mir öfter die Zeit, andererseits, das war der Hauptgrund, fand ich einfach keine Zeitung. Aus dem Straßenbild ist die Zeitung fast verschwunden. Vor wenigen Jahren noch konnte ich zumindest in den größeren Städten überall meine zwei englischsprachigen Tageszeitungen erstehen; jetzt gab es die fast nirgendwo, aber auch hebräische Zeitungen nicht. In der Altstadt von Jerusalem sah ich einen einzigen Zeitungshändler, er führte eine einzige arabische Tageszeitung. Die drei, vier Zeitungen, die ich mir in den zwölf Tagen meines Aufenthalts kaufte, fand ich in einer Buchhandlung. Aber auch die Buchhandlungen sind erschreckend geschrumpft. Wie erklärt sich das? Nun. Israel ist ein Paradies des Digitalen, ist sozusagen ein zweites Silicon Valley. Jeder liest die Nachrichten auf dem Schirmchen seines Telefons oder auf seinem Computer. Die Fernsehnachrichten werden zuhause immerhin noch regelmäßig angestellt. In dem Hotel, wo ich mich drei Tage aufhielt, gab es aber auf dem Fernseher überhaupt keinen israelischen Sender mehr. Dafür war de deutsprachige Sender nicht RTL, sondern die deutsche Welle!

Ich verbrachte nur drei Tage im Hotel, ansonsten schlief und wohnte ich bei der Familie: der meiner Tochter, der meines Enkelsohnes; bei einem geschiedenen Schwiegersohn. Überall habe ich mich sehr willkommen und wohl gefühlt.

Nach dieser Reise hätte ich Tage brauchen können, nur um all das durchzudenken, was ich erlebt habe.

Es ging jedoch gleich weiter: singen im Projektchor; auf dem Programm steht der Psalm 91, in verschiedenen musikalischen Fassungen und teilweise auch auf Hebräisch. Das will geübt und vorbereitet sein! Aufführung ist übrigens am 4. November in der evangelischen Akademie am Römer, in Frankfurt.

Meine Arbeit mit meinem Lesepatenkind setzte ich fort. Ich hatte ihn ein paar Wochen nicht gesehen, und ich merkte: niemand hat ihn angeleitet während dieser Zeit. Allerdings liest er jetzt viel besser. Dafür ist seine Neugier zurückgegangen.

Amn 3. Oktober fuhr ich für drei Tage nach Berlin. Dort gab es nicht nur wieder ein großes Familienfest, sondern auch die Uraufführung eines Films. Es war der Abschlussfilm meiner Nichte Nadja Caroline Heidinger, die an der Berliner Film- und Fernsehakademie studiert hat. Der Film heißt "Jonathan James Thomas Highlane" fand allseits großen Beifall.

Und jetzt wird es Zeit für die Buchmesse: um 11 Uhr ist die Pressekonferenz zur Eröffnung.

Frankfurt, 15. September

Gestern besuchte ich eine Wahlveranstaltung der SPD. Das muss ich mir deutlich klar machen. Mehr war es nicht, auch wenn es um Kultur ging. Zwar gab es eine ästhetisch sehr gelungene Einladung mit dem Titel "Fenster zur Kunst", geboten wurden drei Gesprächsrunden, je eine über Film, bildende Kunst und Literatur, und die Gesprächsteilnehmer trugen klingende Namen. Aber von der SPD waren nur eine Handvoll Verantwortliche gekommen, die teilweise auch früher weggehen mussten; von den Kunstsparten vielleicht je drei, vier - aber kein allgemeines Publikum und schon gar keine normalen Parteigenossen.

Auch hatten schon irgendwelche Arbeitsgruppen spezifische Programme erarbeitet, die getippt seitlich auf einem Tisch lagen und nur beiläufig erwähnt wurden. Den Umstand, dass gleichzeitig zu dieser "Hochkultur"-Veranstaltung im Gallus ein SPD-Fest mit Popkultur lief, erfuhr keiner; der Veranstalter Michael Siebel wusste nicht mal etwas davon. Ich hatte es auch erst kurz vorher erfahren.

Mich interessierte natürlich vor allem die Literatur, irgendwie hatte ich hochfliegende Erwartungen gehabt. Tatsächlich war von einem schon recht konkreten Projekt die Rede, das Hartmut Holzapfel, der Unermüdliche, ausgearbeitet hatte: ein Haus der Kunst und der Literatur, einzurichten im Brentano-Haus in Eltville. Ein Haus, in dem schon Goethe übernachtet hat! Wenn die Regierung es nicht übernimmt, dann wird wohl ein internationales Hotel darin entstehen. Ansonsten dürften dort zwei Künstler, vier Schriftsteller gleichzeitig ein halbes Jahr (oder so) zu Gast sein und Hessen etwas aus dem Ruch des ewig Kommerziellen herausziehen. (Immerhin hat Hessen - im Rahmen seiner jahrelangen 'Wut der Schlösser-Neugestaltung - in Schlitz ein Schloss renoviert und eine Musikakademie draus gemacht; in Offenbach arbeitet in dem betreffenden Schloss die hochberühmte Hochschule für Gestaltung. Aber Literatur? So ein romantischer Gutshof mit seinen Wirtschaftsgebäuden würde ihr gut anstehen.)

Gestern redeten die Herren ansonsten über Literatur im Allgemeinen, schwärmten von Festivals im ganzen Land, in kleinen Städten, unter Einbeziehung der örtlichen Kräfte - etwas das sie nie gemacht haben und nicht machen werden. Aber es beschrieb genau das Programm der Literaturgesellschaft Hessen! Ich fühlte mich verhöhnt (ich war acht Jahre lang die schwer arbeitende Vorsitzende der LIT!), zumal ich nicht einmal das Wort erteilt bekam. Es mir zum Schluss freilich nahm. Was auch nicht zu meinen Gunsten ausging, zu groß mein Zorn. Meine Zeit ist vorbei.

Freilich könnte ich noch Geschichte schreiben: die Geschichte der Literaturgesellschaft von 1996 bis zu meinem Ausscheiden 2008. Das steht nirgendwo, auch auf der Webseite der heutigen LIT nicht.

Es berührt mich seltsam, wie wenig auch ich mich für Geschichte, d.h. für eine übersichtliche Archivierung der Vereinstätigkeiten, interessiert habe, so lange ich selbst aktiv war. Immer vorwärts, immer was Neues, das trieb uns an. Ich stopfte alle Schriften in das Archiv der Webseite, was dieses natürlich etwas unübersichtlich machte. Als ich aus dem Amt ausschied, löschten die Nachfolger einfach alles, eben weil es nicht übersichtlich war. Weg, unwiederbringlich weg.

Ja, ich müsste auf ein paar Seiten die Geschichte von 1996, dem Jahr der Gründung unter Heinrich Dröge, bis 2008 aufschreiben. Ich nehme es mir fest vor.

 

 

 

Frankfurt, den 5. September

Nun hats mich erwischt, für kurze Zeit darniedergestreckt: ich kam vor einer Woche ins Krankenhaus, bin prompt operiert worden, alles gut, nun muss ich mich nur noch davon erholen.

Das ist eine gesunde Übung, weil ich nämlich standardmäßig eher dazu neige, mich zu übernehmen, und daran kann ich nun gut arbeiten. Erstmal alle Termine absagen.

Absagen! In der ersten Septemberwoche! Wo alles so richtig los geht!

Immerhin gibt es Freunde und Freundinnen, die mir versichern, ich werde noch gebraucht und tue recht daran, mich jetzt zu schonen. Also gut. Beim Schonen kann man sich so leicht nicht übernehmen.

Auch lade ich die eine oder den anderen telefonisch zum Besuch ein. Das wiederum ist gar nicht selbstverständlich. Anscheinend ist es üblich, lieber abzuwarten, dass die betreffende Person wieder gesund und flexibel wird, bis man sie trifft, als nach ihr zu schauen, wenn es ihr nicht so gut geht. Findet eine solche Einstellung niemand seltsam? Ich glaube, dass die bewusste Idee dahinter die ist, nicht stören zu wollen. Aber unbewusst steckt doch vielleicht auch dahinter dass man keine zusätzlichen Lasten auf sich nehmen will. Man hat doch eh schon genug davon.

Ich glaube, es liegt im Zug der Zeit, dass man sich normalerweise übernimmt.

 

Im Krankenbett las ich einige Aufsätze von Moshé Feldenkrais, die neu herausgegeben worden sind. Mir fielen besonders die Passagen über die Unterscheidung von "Bewusstsein" und "Bewusstheit" auf. Diese Unterscheidung kommt in der deutschen Sprache schlecht rüber, statt Bewusstheit" sollte man besser "'Gewahrsein" gebrauchen, was indessen auch nicht gebräuchlich ist und worunter man sich auf den ersten Blick nicht viel vorstellen kann.

Das englische Wort, das dem zugrunde liegt, heißt "awareness". Die Fähigkeit, etwas gewahr zu werden. Im Deutschen haben wir auch das schöne Wort "merken", es passt hier aber ebenfalls nicht ganz. "Gewahr werden" bedeutet was anderes als "wahrnehmen", doch ist es sich ähnlich. Ich kann mancher Dinge gewahr werden, ohne es zu merken, d.h. sie treten nicht in mein Bewusstsein, doch mein Gehirn hat sie registriert. In einer Hypnose z.B. könnte das unbewusst Wahrgenommene zutage treten.

Das meint "Bewusstheit".

Nun bietet die Feldenkrais-Methode Wege an, um die eigene "awareness" zu verbessern. Ein solcher Weg wäre etwa, dass man in Ausruhposition einen einzigen Finger fast unmerklich anhebt, um mehr oder weniger genau dabei zu spüren, wie sich die Bewegung des Fingers in der Hand, im Arm fortsetzt. Das erfordert eine bestimmte Konzentration, die sich, wenn sie gelingt, auch auf den Atem auswirkt. Den man dann auch in die Bewegung einbeziehen kann.

Jedenfalls bieten mir diese Art Überlegungen ein breites Tätigkeitsfeld, das ich auch bei Schonzeit beackern kann.

Soviel für heute!

 

 

 

 

 

 

 

Frankfurt, den 25. August 2013

Im Skulpturenpark Mörfelden-Walldorf 2013:

 

GUDRUN SCHEIBLES KONFIGURATIONEN

 

Es zieht mich in eine Mitte, zu einer Verdichtung in der Mitte des Parks.

Zu EINER Figur unter den anderen.

Zu einer Gestalt - ist es ein Labyrinth? Vielleicht, aber nicht begehbar. Seine Ordnung so geheim, dass sie nur im Überblick, nur als Ganzheit zu fassen ist, in diesem Moment, da ich durch den Skulpturenpark wandle, hierhin und dorthin schaue und von IHR gefesselt werde.

Ein Labyrinth würde ich mit Füßen und Augen erkunden, mit einem Orientierungssinn, der sich verwirren lässt, um schließlich doch den Ausgang zu entdecken. Hier in der Skulptur sind kein Ausgang und kein Eingang vorgesehen. Ich sehe keinen Aufbau, keine Kausalkette. Und doch spüre ich eine Ordnung ….

 

Die Skulptur heißt "Zwischenräume", aber selbst die "Zwischenräume" werden verstellt und verdeckt von diesen Gebilden, diesen bretterähnlichen Holzformen, die sich einander zuwenden wie Leute auf einem Markt. Kein Teil gleicht genau dem andern, jedes besitzt eine Originalität. Tatsächlich heißt das Werk aber "Zwischenräume und zwischen Räumen", es geht hier also nicht nur um die Abstände und die Beziehungen zwischen den Einzelteilen, sondern auch um Abtrennungen, also um konkrete Abgrenzungen, durch die "Räume" überhaupt erst geschaffen werden. Was hat das mit den Räumen auf sich, wie find ich sie?

 

Sie arbeite mit dem Material Eichenholz, erklärte die Künstlerin. Die wimmelnde Vielteiligkeit des Werkes kann sich also zumindest auf die Festigkeit von Eichenholz verlassen, auf seine Natürlichkeit, seine gewachsene Kraft. Eiche, das weckt Zuversicht in mir. Und doch erklärt mir "Eiche" nicht die lebendige Schönheit dieses Kunstwerks. Würde es sich ändern, wäre es aus Nussbaum- oder Mahagoni-Holz? Ja, sagt die Künstlerin, ihr ist an "harten Kanten" gelegen, die sie nur bei Eichenholz findet. Klarheit der Form.

 

Das Holz wurde zu Brettern gesägt, wurde fein gehobelt und mit anderen Bretterteilen verbunden. Das Grundbrett erkenne ich an seiner Größe im Vergleich zu den mit ihm verbundenen Stücken, die um ein mehrfaches kleiner sind. Verbunden wurden sie auf zünftige Schreinerart, mit Dübeln. An den 30- bis 50 cm langen Seiten habe sie je vier Dübel angebracht, sagte die Bildhauerin, und man sieht es: die Stücke sind solide und äußerst präzise miteinander verbunden. Sie arbeite nicht "aus dem Stamm", sagt sie, nicht "materialabtragend", sondern sie "setze zusammen".

Jahrtausendealtes Handwerk schaut mich hier aus den Augenwinkeln schräg von unten an. Begriffe aus dem Schreinerwesen treten in meine innere Vorstellung: Zapfen, Falz, Schwalbenschwanz. Nur, dass diese Handwerkskunst hier nicht dazu dient, einen Tisch zu schaffen, ein Dach zu bauen oder ein Gefäß zu schnitzen - nein, hier zeigen sich verschiedene Holzverbunde als reine Form, und die Vielfalt ihrer Formen stellt die Künstlerin zusammen zu einer Gestalt. Die fertige Gestalt kommt mir wie ein Schwarm vor. Eine Schwarm-Ästhetik? Gibt es das?

Das Werk sammelt meine Blicke, stößt sie gleichzeitig ab und lässt sie doch nicht los. Alle übrigen Werke, rundum, ziehen sich zur Seite, weichen aus meinem Blickwinkel, lassen sich nicht sehen. Ich umkreise die weißen Scheite in ihrer Unübersichtlichkeit. Sie sind nicht nur fein geglättet, sondern auch weiß angestrichen. Sie weisen einen Ort des Handelns aus, einen Ort des Fleißes - ein Moment wird festgehalten, eine Dynamik um der Dynamik willen, ohne eigenes Ziel.

Oder erkenne ich das Ziel nicht? Ich suche es.

 

Holz - welch ein Geschichte, welch eine Dichte, welch eine Zielstrebigkeit, vom Steckling an. Er wächst, der Baum wächst über Jahre, erhebt sich, verzweigt sich; er steht. Im Sturm neigt er sich, und dennoch: er steht.

Der Mensch fällt ihn. Menschen fällen Bäume seit Jahrtausenden. Von den Wikingern erzählt die Stickerei von Bayeux: da sie in der Normandie beschlossen hatten, überzufahren nach England und dort sich die englische Krone aufzusetzen, die ihnen wegen einer Erbschaft zustand, da fällten sie zuallererst Bäume und zimmerten daraus ihre Schiffe. Ruderschiffe, groß genug, um auch Pferde einzuladen. Auch nach hundert Jahren Sesshaftigkeit wussten die Wikinger noch, wie man seetüchtige Boote baut. Sie eroberten damit den englischen Königsthron.

 

Holz. Mein Urgroßvater besaß eine Bauschreinerei. Meine Großmutter muss ihn gekannt haben, doch sie erzählte mir davon nichts. Niemand erzählte von der Bauschreinerei. Es hieß nur: als der Mann mit der Bauschreinerei starb, hinterließ er jedem seiner sechs Kinder ein Haus. Wer übernahm die Bauschreinerei? Darüber sprach keiner. Ich weiß es nicht. Aber seltsamerweise baute mein Vater Schränke, als hätte er das gelernt. Mein Vater war der Enkel des Bauschreiners und hat ihn nie gesehen. Mein Vater besaß eine Drehbank, Hobel, gleich nach dem Krieg schaffte er sich wieder Werkzeug an. Es war ihm wie selbstverständlich, und doch hatte er das nirgendwo gelernt. Geheimnisvolle Wege der Überlieferung.

 

Im Holz steckt mehr als ein Stuhl, ein Tisch; im Holz steckt eine Erinnerung an die Wurzeln, an die Erde; das Holz zeigt Maserung, das sind Zeichnungen, die niemand gezeichnet hat und denen doch eine Beziehung anzumerken ist. Eine geheimnisvolle Schönheit. An der Maserung erkennt jeder Eingeweihte die Baumart, ob Pappel, Linde oder Esche, und doch ist nicht eine Maserung schöner als die andere. Eine Vielfalt, eine Gelegenheit zu Entscheidungen des Menschen über eine Auswahl. Eine Möglichkeit zur Freiheit der Wahl. Am Holz entstand ein Wissen, das tiefer reichte als die Baumwurzeln. Da Noah die Arche baute, verstand er es schon, mit Holz zu arbeiten. Die Arche schwamm auf der Sintflut, schützte ihre Insassen, bis das Wasser wieder abfloss.

Abt Suger von Sankt Denis sagte: "„Der schwache Geist erhebt sich zur Wahrheit durch das Materielle“. Im Mittelalter sollen manche Denker das Handwerk über die Wissenschaften gestellt haben, weil es die Seele stärker bewegen konnte als diese. Handwerk wurde damals Kunst; die Kunst der Steinmetze, die Kunst der Maler, die Kunst der Holzschnitzer.

 

Schiller dachte über "das Schöne" nach und fand, es stifte einen Übergang zwischen den zwei Wahrnehmungsweisen des Menschen, dem Verstand und der Sinnlichkeit. "Begreifen" im ureigentlichen Sinne. Kunst lässt sich nur mit beiden erkennen, mit der Ratio und mit den Sinnen zugleich; und so frage ich mich hier, neben diesem Scheit-Haufen, diesem Flammen-Herd von Gudrun Scheible - so heißt die Künstlerin -, der nicht brennt, aber an Feuer erinnert, mit seinen sorgsam ausgetüftelten, stets wechselnden Formungen der einzelnen Flammen: Was erzählt er, das so neu ist, dass ich keine Worte dafür vorrätig habe?

 

Handelt es sich bei den "Zwischenräumen" um den schmalen Platz, der jedem Einzelteil gewährt wird, sparsam, da es um das Ganze geht und nicht um den Einzelnen? Jeder Zwischenraum hat eine andere Gestalt, genau wie auch die Holzformen jede eine andere Gestalt zeigen und damit den Raum um sich herum definieren.

 

Ich denke an die Vogelschwärme bei Rosch Pina, wo die vom See Genezareth aufsteigende warme Luft hinauf zieht weit über tausend Meter hoch, an DEN Ort also, wo sich fast alle europäischen Vögel auf ihren Wanderungen nach Afrika und zurück begegnen, wo sie in Schwärmen tanzen, ehe sie sich für die Nacht irgendwo niederlassen - die im Schwarm immer neue, stetig wechselnde Formen bilden, und dem, der ihnen zusieht, eine ungewohnte Beweglichkeit in die Seele fließen lassen.

Wieviel Raum bewahrt sich ein Vogel, der im Schwarm fliegt, wieviel Raum darf er beanspruchen, um Teil des Schwarms zu bleiben?

 

Sind wir Menschen nicht auch Teil eines Schwarms? Individuen, gewiss, und gleichzeitig ….. Erst im Mitschwingen, im gemeinsam erlebten Schweifen fühlen wir uns vollständig. Gudrun Scheible hat sich dem Schwarm der Schreiner und Zimmerleute auf eine ungemein individuelle Weise angeschlossen. Vielleicht erkennen junge Zimmerleute, frisch ins Gesellenleben geworfene Handwerker, nicht gleich diese Zugehörigkeit, und doch: erblicken sie Scheibles Skulptur, wissen sie sofort, dass es sie betrifft, auch wenn sie nicht verstehen wieso. Der Zweck hinter diesem Werk reicht tiefer, viel tiefer als ein Dachsparren, ein gedrechseltes Tischbein, eine geschnitzte Madonna, selbst als ein Gefäß, das wegen ungewöhnlicher Oberflächenbehandlung zur Kunst gerechnet wird, aber immer noch ein Gefäß bleibt, ein Gebrauchsgegenstand, wenn auch unbrauchbar. Scheibles "Zwischenräume" weisen mit sauberen Holzverbindungen in völlig zweckfreiem Zusammenhang einen anderen Weg: es ist die Momentaufnahme eines Aufloderns, einer Schwarmbewegung, eines Aufatmens, einer Befreiung aus den Zwängen einer Zunft.

 

Vorgetragen bei einer Lesung der Literaturgruppe Poseidon am Skulpturenpark in Mörfelden-Walldorf am 25. August 2013

 

Frankfurt, 17. August

Haben Sie schon mal schwarze Nudeln gegessen? Da ich nach meiner Heimkehr nicht viel im Kühlschrank vorfand, habe ich endlich gewagt, mir eine Portion schwarzer Nudeln zu kochen, die schon länger meine Vorräte bereicherten. Der Teig wurde mit der Tinte von Tintenfischen gefärbt, und so strömten diese Nudeln beim Kochen einen sanften Meeresgeruch aus. Auch nachher blieb das sehr dezent, und mit meiner gemischten gedünsteten Gemüsebeilage ergab das eine sehr schmackhafte Mahlzeit.

Langsam richte ich mich zuhause wieder ein. Ich fand zwei Bücher oben auf dem Stapel, die ich eigentlich schon ausgelesen hatte. Sie lagen da aber noch, und als ich wieder hineinschaute, wurde mir bewusst, wie großartig diese beiden Bücher sind - wie zufällig ebenfalls in einem schwarzen Umschlag. Tintenfisch-Bücher, sozusagen, die mit langen und geschmeidigen Tentakeln eine ganze Welt umfassen.

Das eine Buch heißt "Kongo", vielleicht hab ich es schon mal erwähnt - es stellt die bislang vollständigste, beste und am besten verständliche Geschichte von Belgisch-Kongo dar, geschrieben von einem flämischen Belgier, David van Reybrouck, dessen Vater mal im Kongo gearbeitet hat. Der Sohn, studierter Historiker, aber auch Journalist (und noch manches mehr), arbeitete vor allem mit Interviews, die er mit einer Unzahl von sehr alten bis jungen Menschen aus dem Kongo selbst führte. Er ließ sich in den drei Jahren dieser Arbeit von niemandem finanzieren, er arbeitete völlig unabhängig. Darauf pocht er. Denn natürlich gibt es im Kongo mit seinen unvorstellbaren Bodenschätzen, und außerhalb, genug Leute, die gern alles Wissen über das Land selbst bestimmen und unter Kontrolle halten wollen.

Van Reybrouck geht, scheinbar einfach, streng chronologisch vor, und richtet viele Fragen über den jeweiligen Hintergrund an die Afrikaner, an die eigentlichen Bewohner des Kongo selbst, und diese wissen, wovon sie reden! In all den Jahren, da ich mich mit der Geschichte des Kongo abgegeben habe, begegneten mir niemals diese Aussagen aus dem Land. Wahrscheinlich, weil niemand gefragt hatte. Van Reybrouck erwarb sich das Vertrauen seiner Interviewpartner, er nahm sich Zeit. Es ist ein wunderbares Buch (deutsche Ausgabe von 2012) und hat auch schon Preise erhalten. Sehr zu Recht.

Das zweite Buch heißt "Morgen des Zorns" und beschreibt auf eine seltsam indirekte Weise den Beginn des Libanon-Krieges. Streit zwischen Familien, doch selbst dies wird dem (nicht eingeweihten) Leser nicht deutlich, nicht plausibel nahe gebracht. Der Autor Jabbour Douhay beschreibt auf anschauliche Weise Menschen, Menschen in den christlichen Schulen des Libanon, wo die Patres Französisch reden, Menschen aus einem Dorf, ihre Beziehungen untereinander. Der Leser lernt richtig Leute kennen. Aber er versteht lange nicht, was sie zusammenhält. Und auch nicht, wer eigentlich erzählt. Es ist eine Geschichte aus vielen Mündern. Ich war nach etwa einem Drittel fast entschlossen, das Buch wegzulegen. Und war später froh, dass ich es ausgelesen habe. Ein großer Roman, der uns Europäern ein wenig Einsicht in die Verhältnisse jener Epoche, vor fünfzig Jahren oder so, und eine ungefähre Vorstellung der Mentalitäten vermittelt.

 

Das nächste Buch auf meinem Stapel heißt: "Schulfrust ohne Ende? Von den Schwierigkeiten und Chancen pädagogischer Beziehungen an Großstadt-Hauptschulen" von Gabriele Frenzel. Ich hatte es schon vor Monaten angefangen und bleibe immer wieder hängen, bin grade auf Seite 58 angelangt. Zuerst erschütterte mich der Satz, der von einem Pädagogen aus den zwanziger Jahren stammt: "Die alte Erziehung ging aus von den Schwierigkeiten, die das Kind machte, die neue von denen, die das Kind hat."

Ach, wenn das doch die Leute im Hort beherzigten!

Irgendwann las ich weiter. Jetzt bin ich an folgendem Zitat stecken geblieben: es geht darin um Kinder, die "in ihrer frühen Kindheit nicht genügend positive Beziehungserfahrungen erleben konnten" und die darum auch in der Schule Schwierigkeiten haben, denn "sie brauchen noch einen Großteil ihrer seelischen Kräfte zur Bewältigung ihrer psychischen und psychosozialen 'Altlasten', eine Behinderung und Einschränkung für intellektuelle und soziale Lernerfahrungen."

Worin die erlebten Mängel bestehen, kann ich schwer bestimmen; doch dass dem Kind das Lesen schwer fällt, weil Lesen bedeutet, mit jedem Wort und jedem Satz etwas zu erfahren, was man vorher nicht wusste, das also das eigene Bild von der Welt verändert, und weil solche ständige Veränderungen dem Kind Angst machen und es sich instinktiv dagegen sträubt - das leuchtet mir ein! Das entspricht meinen Erfahrungen als Lesepatin. Nun sinne ich nach, was ich mit dieser Erkenntnis anfangen kann? Nichts natürlich, denn ich bin ja keine Therapeutin.

Doch handelt man je entsprechend dem eigenen Wissen. Ich weiß, dass ich nicht mit Dummheit zu tun habe, sondern mit irgendwas anderem. Vielleicht mit Angst.

Ich werde es bedenken.

 

 

 

 

 

 

Wiener Neustadt, 10. August

Plötzlich sucht man wieder den direkten Sonnenschein - so kühl ist es über Nacht geworden. Der Schatten verliert sofort seine Attraktion. Gestern war Regen für den Abend angekündigt, ich hatte auf Wetterbildern im Fernsehen die Gewitterfront über das ganze zisalpine Europa fegen sehen, während hier noch der blauste Himmel herrschte: aber gegen Abend türmten sich am Horizont schwarze Wolkenwände, sie wuchteten sich in verschiedenen Himmelsrichtung auf. Um halb neun sollte auf dem Hauptplatz ein Freiluftkinofilm gezeigt werden, ich ging hin, fand einen passenden Platz; während der Film begann, näherten sich dramatische Wolkenfetzen von allen Seiten, als hätten sie alle nur ein Ziel: den Hauptplatz von Wiener Neustadt. Blitze leuchteten. Donner rollten aus diskreter Ferne. Der Film begann, es war eine Geschichte von halb kriminellen Faulenzern; ich meine mit faul solche Leute, die nicht mal dem, WAS sie tun, irgendeine Aufmerksamkeit schenken. Geschweige denn Aktionen, die zu tun wären. Solche Leute nenne ich dumm, aber richtig dumm. Und wie kann aus diesen ein gescheiter oder auch nur unterhaltsamer Film entstehen? Ein paar Tropfen fielen, ich öffnete meinen Regenschirm. Sie hörten auf. Dann kamen sie wieder. Gegen neun regnete es sich ein. Erleichtert erhob ich mich: der Film war wirklich zu blöd. Österreichischer Klamauk. Ist nicht besser als deutscher.

Heute Abend gibt die "International Piano Summer Academy" ihr Abschlusskonzert im städtischen Museum in Wiener Neustadt (20 h, wenn's jemand wissen will!). Um der Pianisten willen freut man sich, dass die große Hitze vorbei ist. Es sind diesmal wieder oder auch ganz außerordentliche, junge Pianisten dabei, und die drei "Preisträger" vom letzten Jahr wirken daneben wie Senioren, das ist lustig mit zu erleben. Vor allem weil mein Enkel Emil Reinert einer der "Preisträger" (vom letzten Jahr) war und ich nun allen Grund habe, stolz auf ihn zu sein.

Ich will übermorgen abreisen aus meinem Schlaraffenhotel, wo das Essen zwar nicht alle Wünsche erfüllt, dafür aber die Arbeitsmöglichkeiten groß, die Betreuung freundlich, die Ungestörtheit enorm sind. Ich habe in diesen Tagen darüber gebrütet, wie ich ein Holzkunstwerk, das momentan in Mörfelden-Walldorf steht, beschreiben, verstehen und anderen vielleicht zugänglicher machen , wie ich seine Ästhetik in Wort fassen kann.

Am 25. August wird das Ergebnis im Skulpturenpark Mörfelden zu hören sein (11 Uhr)!

 

 

 

Wiener Neustadt, 4. August 2013

Vor den blauen Bergen am südlichen Horizont stand heute Nachmittag eine fasrige Wolkensäule. Das sah nach Regen aus, zumindest Regen, doch Sturm mochte auch noch drinstecken. Es waren Gewitter, die nun seitlich an der Stadt vorbeigleiten, mit entfernten gelegentlichen Blitzen und Donnern, und zuletzt auch einigen Windböen. Trotzdem lass ich noch immer die Klimaanlage laufen, sonst wär es zu heiß im Zimmer. Inzwischen kleiden sich die blauen Berge am Horizont schon wieder in goldene Himmelstücher ...

Dort bei den Bergen beginnen die Alpen; es fasziniert mich immer wieder, wie die Ebene von Wiener Neustadt nach Süden zu platt und glatt bis zu einer bestimmten Grenze sich erstreckt, wo fast von einem Schritt auf den andern der Anstieg beginnt. Das ist dann aber immer noch Niederösterreich, welches sich bis auf circa 2.600 m erhebt; erst dahinter beginnt die Steiermark, und weiter westlich Kärnten. Eben hörte ich: "Die Steiermark, das ist Slowenien!", gesprochen mit Nationalstolz, und danach abgemildert eingeräumt: "die südliche Steiermark ist slowenisch, die nördliche Steiermark österreichisch." Mit Hauptstadt Graz, und wer zweifelte denn, dass Graz österreichisch ist? Aber auf diese Weise lerne ich sachte die Gegend kennen, so dass ich sie mir im Kopf - und ohne Navi - richtig vorstellen kann. Keine 10 km östlich hinter Wiener Neustadt fließt die Leitha, die viele Jahrhunderte lang die Grenze nach Ungarn markierte und zu deren Schutz diese Stadt überhaupt gegründet wurde. Im Osten also liegt Ungarn, mit einem Stück Land wie ein Sporn nach Österreich hineinragend, auf dem Schopron liegt, was ich morgen oder übermorgen mit dem Zug besuchen will. Knapp Dreiviertel Stunden Fahrzeit, versichert mir dern Mann am Schalter, und die Züge fahren jede Stunde. Es wird Zeit, dass ich ein bisschen Tourismus betreibe.

Bisher habe ich nur Feste gefeiert, Feste mit Menschen, Begegnungen, Wiedersehen, gemeinsame Konzertbesuche und anschließend zum Heurigen ....

Auf der Hotelterrasse unter majestätischen Bäumen sitzen, sich verwöhnen lassen und sich unterhalten ..... Zum Beispiel mit einer japanischen Klavierlehrerin aus Japan und einer niederländischen Klavierlehrerin aus USA. Wir reden Englisch, und erzählen einander, was wir machen, was uns wichtig ist. Wir finden gemeinsame Standpunkte, wenn es um soziales Denken geht; wir freuen uns, wenn junge Menschen die Gelegenheiten zum Lernen nützen, die wir, jede auf ihre Art, ihnen bieten. Über solcher Freude können wir Freundschaft schließen, die möglicherweise länger hält als nur während dieser wenigen Tage des "International Austrian Piano Summer" in Wiener Neustadt. Die Japanerin ist hier, um den Unterricht des französischen und des amerikanischen Meisterlehrers ins Japanische zu übersetzen, weil die jungen Leute aus Japan noch nicht genügend Englisch können (aber schon sehr gut Klavier).

Ich habe mir auch Zeit zum Lesen genommen, jeden Morgen den "Standard" zum Beispiel, wodurch mir österreichische Standpunkte nahegebracht werden. Den Standard schätze ich oft, wenn es um Tanz und Literatur geht; er ist unterhaltsam, wenn er österreiche Korruptheiten ins Visier nimmt; die Frauen als solche wiederum nimmt er nicht besonders ernst - sehr wienerisch insgesamt.

Ich habe Bekanntschaft mit dem Werk von Josef Winkler geschlossen, einem hiesigen Dichter, der auch in Deutschland großen Erfolg hat, weil er in vollendeter Manier seinen Stil pflegt, und dabei Sachen erzählt, die man lesen mag. So entdeckte ich bei Michèle vor einer Woche sein jüngstes Buch "Ich reiß mir eine Wimper aus und stech dich damit tot", das in Wirklichkeit ein raffiniertes Gespräch mit Zitaten aus Büchern von mehr oder weniger unbekannten Autoren ist und wo es um Grundsätzliches geht und dennoch ein Gegenwarts-Leben durchscheint, ja, tatsächlich eine weite Reise mit einem Kind. Sehr raffiniert und immer wieder überraschend. Hier am Ort kaufte ich mir dann ein anderes Buch, das überquillt von Sterbefantasien des Dichters als Kind und junger Mensch. Er stammt aus einem Kärntner Dorf, wo man beschränkt und katholisch ist, noch immer die alte Geschichte, aber auf einmal wieder neu und gegenwärtig und erschreckend.

Ich kann den Text nicht vollständig lesen, überspringe immer wieder Passagen, um mich nicht anstecken zu lassen von einem, den ich bewundere und der selber immun scheint gegen die Zumutungen des Todes.

Auch Monika Helfer schreibt dieses Wochenende in der Zeitung eine eigentümliche Sterbegeschichte, die manche Leute vielleicht esoterisch lesen, die nach meinem Eindruck aber Wirklichkeit zu erfassen versucht, und die grade darum unvergesslich bleibt, sobald man sie in Ruhe gelesen hat.

 

 

 

Wiener Neustadt, 2. August

Welch ein Abend! Welch ein Fest!

Der Sommer in seinem herrlichsten Gewand. Durch einen langen Gewölbegang gelangen die Besucher in den Innenhof der Festung: der "Theresianischen Militärakademie". Die Bühne wurde unterhalb der gotischen Glasfassade errichtet, die so echt gotisch nicht ist, alle wissen, Wiener Neustadt wurde im zweiten Weltkrieg so zerbombt, dass von der ganzen Stadt nur 17 Häuser stehen geblieben sind, darunter nicht die Militärakademie! Und dennoch blicken mindestens 500 Jahre Geschichte von den Fensterfronten auf uns Besucher herab. Ohne Schwere. So leicht wie der Oberst, der uns in Vertretung des Generals im Hemd mit kurzen Ärmeln begrüßt. "Führungsqualitäten werden Sie heute Abend erleben", verspricht er, "und Führungsqualitäten sind das, was die Akademie weiterzugeben sich vor allem bemüht!"

Es gab ein Konzert, das "Konzert der Preisträger" vom letzten Jahr, und mein Enkel Emil Reinert war unter ihnen. Er spielte das 1. Klavierkonzert von Beethoven. Und er spielte so offen, so leicht, so konzentriert, mal zart, mal kräftig, klar und stolz wie hingebungsvoll und zerschmelzend; er stand in fortwährendem Dialog mit dem Orchester; es waren die Wiener Neustädter Instrumentalisten und es schien mir, als gingen sie auf Emil ein, ließen sich von ihm mitreißen in die Empfindungen, in die feinen und raffinierten Gefühle...

Es war Emils erstes Konzert mit Orchester. Morgen werden die Künstler noch mal auftreten, dann in der Burg Perchtoldsdorf, nahe bei Wien ......

Und der Sommer strahlt weiter.

 

Wiener Neustadt, den 31. Juli

Was für ein Sommer! Seit drei Wochen in der Hitze baden!

Dass man kaum zum Schreiben kommt.

Ich habe einiges weggeschickt in diesem Monat, zu Wettbewerben - oder war es nur einer, und das übrige ist auf andere Wege geflossen?

Morgen wird mein Enkel Emil Reinert Beethovens erstes Klavierkonzert in der hiesigen Theresianischen Militärakademie geben - das ist doch ein würdiges Reiseziel. Sein erstes großes Konzert mit Orchester.

Derweil stöbere ich hier und dort - ein Artikel im Standard über "el sistema" in Venezuela beschäftigt mich, wo arme Kinder Gelegenheit erhalten, Instrumente zu spielen, in Orchester oder in Chöre einzutreten und sich ihnen so die Welt öffnet. "Musik lässt materielle Armut zu geistigem Reichtum werden", verkündet der Schöpfer dieses Systems, José Antonio Abreu, in Wien.

Ich lese Büchner, und ich hänge mir Fotos vom "Skulpturenpark" in Mörfelden-Waldorf an die Wand, welcher unter dem Motto steht: "Mir wird ganz Angst um die Welt, wenn ich an die Ewigkeit denke." Ich würde übrigens "angst" klein schreiben: mir wird angst und bange, sagte man früher. Ich muss noch rausfinden, welchem Text das Zitat entnommen wurde.

Die Literaturgruppe Poseidon, oder fünf ihrer Mitglieder, wollen am 25. August eine Lesung abhalten, bei der sie in einen Dialog mit der Ausstellung treten, in ein Gespräch mit den Figuren und Werken, die einen Monat lang im Mörfelder Bürgerpark zu betrachten sind. An diesem Dialog arbeite ich und strecke dabei meine Intuitionen nach vielen Richtungen aus. Es hat was vom Fliegen, vom Schweben .... Gestern besuchte ich das hiesige Museum "Aviaticum", das eine beträchtliche Anzahl alter und sehr wohl erhaltener Flugzeuge besitzt, die einem einen rechten Begriff vom Fliegen vermitteln. Beim Betrachten aber wurde ich in einen Geist des Kriegerischen getaucht, seltsame Zurückstellung in die Kindheit, meine Kindheit im Krieg. Es zählt nur das Siegen, nicht die Opfer. Ein bestimmtes Flugzeug, eine Messerschmidt Bf 109, hat es in vieltausendfacher Stückzahl gegeben, und doch wurde und wird sogar bei Wikipedia der Eindruck erweckt, dass kaum ein Exemplar dieser Maschine erhalten geblieben ist. Es liegt irgendeine Magie über dem Flugzeug. Da schreiben sie doch wahrhaftig: "Kampferprobt wurde die Bf 109 erstmals im spanischen Bürgerkrieg in der Legion Condor ab Sommer 1937 und war sehr erfolgreich ...." Wikipedia treibt das Erfolgsdenken noch weiter: dort wird die besondere Stärke des Fluggeräts an der Zahl der Abschüsse gemessen, die von dort aus getätigt wurden! Menschen bleiben ohne Bedeutung. Sie sind Piloten oder Ingenieure, sie haben für den Sieg einzustehen. Der Sieg wurde nicht errungen, weil die Amerikaner zuletzt (1945) ein Flugzeug gebaut haben, das besser war als die Me 109. Mehr Abschüsse damit erzielten.

Ich weiß gar nicht, wie ich mit solcher Einfalt umgehen soll.

So hab ich mir heute ein antiquarisches Heft von 1926 gekauft, in dem ein Pater einem "Freidenker", der Priester war und und aus der Kirche ausgetreten, die Leviten liest, d.h. ihm nachweist, dass selbiger ein Lügner und Dummkopf ist. Ebenso schrecklich. Des Verfassers Zorn gipfelt in der Feststellung, dass der andere, der sogenannte Freidenker, intellektuell eben den jüdischen Freimaurern zum Opfer gefallen ist. Die Juden sind ihm der wahre, der oberste Feind. Warum? Muss er nicht beweisen oder erläutern. Das Heft führt mich für einen Moment in die hitzigen weltanschaulichen Kämpfe der 20er Jahre zurück, und so finde ich einen roten Faden zur Me 109 ....

Der Gedanke an Cassierer hilft mir aus der Finsternis, Ernst Cassierer hatte Ende der 20er deutlich gemacht, dass verschiedene Weltsichten - etwa die des Glaubens und die der Naturwissenschaft - nicht miteinander vergleichbar und darum auch nicht gegeneinander auszuspielen sind. Jede stützt sich auf andere Voraussetzungen. Dem Menschen wird die Wahl zwischen der einen oder anderen Anschauung nicht erspart. Er muss selber denken und sich selbst entscheiden. Die Toleranz beginnt danach.

Ob Joseph Ratzinger wohl Cassierer kennt? Aber gewiss doch. Dennoch versucht er, Vernunft und Glauben unter einen Hut zu bringen ...

So, und jetzt geh ich ins Kino.

Ade ihr Leser.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Frankfurt, den 1. Juli

Ab heute ist das Land Kroatien volles Mitglied in der Europäischen Union. Mit Slowenien wird es der zweite Staat aus dem alten Jugoslawien, das der EU beitritt. Ich bin gespannt, wie sich die Neuen einfügen in die seit bald 60 Jahren gewachsene Organisation der Gemeinschaft. Es ist erstaunlich, wie rasch die Neuen sich den Jargon, die Denkweisen aneignen.

Übrigens habe ich gelesen, dass der EP-Präsident Martin Schulz plötzlich und unerklärterweise sich in den strittigen Haushaltsfragen dem Standpunkt des Rates angeschlossen hat! Dieser will die Bezüge der EU-Beamten und möglichst auch der Pensionäre kürzen (und natürlich noch vieles, vieles mehr). Mit den heimischen ("nationalen") Beamten traut sich das keiner! Und der zuständige Kommissar klagte schon vor einem halben Jahr (als ich in Brüssel war und ihn hörte), dass die Kommission keine Spitzenleute einstellen kann, weil sie zu niedrige Gehälter anbietet! Ich bin gespannt, die Begründungen für die neuesten Entwicklungen zu lesen.

Gestern habe ich wieder über Luise Büchner gesprochen. Peter Oehler hatte mich zu seiner schon legendären "Wohnzimmerlesung" eingeladen, der 19. . Während ich am 26. Mai in Darmstadt vor allem die schriftstellerische Seite von Luise Büchner untersucht hatte, fragte ich diesmal nach der politischen Relevanz ihrer Forderungen und Errungenschaften für uns heute, für die Gegenwart. Es gelang mir, die Aufmerksamkeit des Publikums über 30 Minuten hin wach zu halten, und es wurde nachher noch viel drüber gesprochen. Viele hoben auch den Gegensatz zum zweiten Autor hervor, Cornelius Zimmermann, der lyrische Texte vortrug, in denen es um die Gefühle, auch um Einsamkeit des lyrischen Ichs ging. Im Grunde gänzlich unpolitisch. Er kommt aus der Dirnfellner-Schreibwerkstatt in Höchst. Diejenigen, die darüber sprachen, fanden den Gegensatz sehr interessant und belebend.

Wenn ich es recht bedenke, dann geht es mir in meinen Luise-Büchner-Texten darum, die Aufmerksamkeit für Geschichte zu wecken. In der Geschichte lässt sich viel "Ich" finden und sie kann auch helfen, Einsamkeit zu überwinden.

Damit verabschiede ich mich für heute, es ist noch so viel zu tun und in zwei Stunden kommt Besuch!

 

 

 

Frankfurt, den 21. Juni

Letzten Mittwoch machte ich einen schönen Ausflug nicht nur in eine sommerliche Landschaft, zu einem Monument der Geschichte, sondern auch in die gegenwärtige Politik. Es war gewissermaßen ein Ausblick in die Vergangenheit mit Blick in die Zukunft, wenn sowas möglich ist. Auch wenn der Referent auf die Frage: "Wie geht es weiter?" antwortete: "Ich bin kein Prophet."

Ich fuhr bei den herrschenden gut 30° Hitze mit der Bahn am Rhein entlang nach Koblenz, nahm dort einen Bus nach Ehrenbreitstein, bestieg den "Schrägaufzug" und erreichte eine pächtige, einst preußische Festung, in der sich heute eine Jugendherberge wohl fühlt, wo auf einem der Exerzierplätze ein Kinderspielplatz eingerichtet war, auf dem fröhliche Kinder tobten, wo vor anderen Eingängen ein Catererwagen mit wartendem Chauffeur stand, wo junge Leute gerade in die Festungskirche hineingingen. Es war sechs Uhr abends. Ich erreichte einen Saal, in dem bundesrepublikanische Friedensforscher ihr neuestes "Friedensgutachten" vorstellten. Dieses steht 2013 unter dem Motto: ""Frieden schaffen mit Waffen?" und dreht also die frühere Hippie-Parole ("Frieden schaffen ohne Waffen") versuchsweise einfach um. Hier ließ ich mich nieder.

Mehr als zwei Stunden lang referierten und diskutierten zwei kundige Männer - Dr. Bruno Schoch und Dr. Marc von Boemcken hießen sie und kamen der erste von der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, der zweite vom "Bonn International Center for conversion GmbH - , also sie sprachen etwa über die Frage, welchen Stellenwert der deutsche Rüstungsexport für die deutsche Außenpolitik hat, oder nach dem Umfang, in dem der Bundestag über diese Frage mitbestimmen darf. Kommt die Demokratie zu ihren Recht, wird das Grundgesetz eingehalten?

Während das Grundgesetz Waffenexporte nur in einzelnen, gründlich geprüften Fällen erlaubt, haben die wechselnden Bundesregierungen längst Lizenzen auf deutsche Gewehre und Panzer in entlegene Länder vergeben, von wo aus der Weiterverkauf sich vollständig der Kontrolle durch die Bundesregierung entzieht. Während in einer vor mehr als zehn Jahren ergangenen, auch heute gültigen Regierungsverpflichtung gesagt wurde, dass "beschäftigungspolitische" Erwägungen KEINE Rolle für den Waffenexport spielen dürften, verteidigt man diesen heute mit der Begründung, dass man Arbeitsplätze schützen müsse! Wie ein Referent treffend sagte: wenn 20.000 "Schleckerfrauen" einfach ins Nichts geschickt werden dürfen, ohne das der Staat sich drum kümmert, warum sollen die Arbeitsplätze von ebensovielen Arbeitnehmern aus der Waffenindustrie staatlich geschützt werden? Ja, in Wahrheit geht es natürlich eher um das Knowhow jener Waffenschmiedegesellen, denen der Bedarf des deutschen Heeres allein kein ausreichendes Beschäftigungsvolumen verschaffen kann. Da braucht man dann schon den Anschub eines Milliarden-Auftrags aus Saudi-Arabien ....

Ein großes Thema waren natürlich die "Drohnen", die als ferngesteuerte Waffen verstanden werden, ein Gebiet, das dahin tendiere, die menschliche Entscheidung "an Algoritmen" abzugeben. Weil die Computer ja viel schneller arbeiten als das menschliche Gehirn. Im Moment besitzt der Westen noch einen technischen Vorsprung auf diesem Gebiet. Aber China, so hörte ich, biete schon 27 verschiedene Drohnenarten auf einer einschlägigen Messe an.

Die Friedensforscher verlangten ein Verbot von Drohnen als Waffen.

Spannend waren an dem Abend nicht nur die Einblicke, sondern auch die Diskussion, bei der sich herausstellte, dass viele Anwesende ehemalige Militärs waren. Und was mich erstaunte, und freute!, war, dass diese Männer sich für eine Politik des Friedens und der Demokratie einsetzten. Mehr Transparenz im Bundestag! war eine andere Forderung, die sich aus der Debatte ergab und die auch in den Vorträgen immer wieder vorgetragen wurde. Demokratische Verfahren sind die einzige Hürde gegen eine versteckte oder von der Waffenindustrie induzierte Kriegslüsternheit.

Das "Friedensgutachten" kann man sich schicken lassen. Im Internet findet man auch Zusammenfassungen.

 

 

 

 

Frankfurt, den 14. Juni

Die Frage nach einer Notwendigkeit von "Bescheidenheit" ist nicht die einzige, die mich beschäftigt.

Anfang der Woche begegnete mir das Wort "Vermeidungsstrategie" und lässt mich seitdem nicht mehr los.

Ich traf es während der Pause einer Tagung über die Lehrformen der deutschen Sprache für Kinder, die zuhause eine andere Sprache als Deutsch sprechen. Im Jargon heißt das "Deutsch als Zweitsprache", abgekürzt "DaZ". Die Eingeweihten reden nur von DaZ und wissen dann genau, was gemeint ist.

Glauben sie jedenfalls. Die beiden Vorträge, die wir auf der vom AMKA ("Amt für multikulturelle Angelegenheiten") und vom Schulamt organisierten Tagung hören durften, zeigten, dass auch Eingeweihte auf diesem Gebiet ihre Kenntnisse noch vertiefen können. Es bestand jedenfalls kein wissenschaflticher Zweifel mehr an dem Faktum, dass ein Kind die sogenannte "Zweitsprache" umso besser, leichter, gründlicher lernt, je besser es die sogenannte "Erstsprache" beherrscht. Ich habe zum ersten Mal begriffen, wie es zu dem Wort "Erstsprache" kommt - es ist damit ein rein zeitlicher Vorsprung gemeint. Die Sprache, der das Babygehirn als erster ausgesetzt ist. Die Umgangssprache, also die in der Umgebung am häufigsten gesprochene Sprache - hierzulande gewöhnlich das Deutsche - wird dann eben die "Zweitsprache" genannt, weil das Kind ihr im allgemeinen erst auf der Straße, im Kindergarten oder womöglich erst in der Schule ausgesetzt ist.

Es soll damit keine Rangfolge ausgesprochen werden, doch war gerade das der Eindruck, den ich zunächst hatte. Zweitrangig, durchaus mit Fehlern behaftet, eben nicht so wichtig, so fasste ich das Wort auf. Auf Französisch wird es "la langue vernaculaire" genannt, also die für den Umgang übliche Sprache - man könnte auch sagen: die herrschende Sprache.

Kurzum: die Sprache, die über die berufliche Zukunft der Kinder entscheidet.

Eine "Zweitsprache"??

Mein Eindruck als Lesepatin ist allerdings, dass häufig die Lehrer nachgeben mit der Entschuldigung: ist ja ein Ausländer, da darf man nicht so streng sein, wenn der mal Fehler macht. Das z.B. würde ich eine "Vermeidungsstrategie" nennen, nämlich ein Weg, sich zusätzliche Arbeit zu ersparen, weil ein etwa achtjähriges Kind mit unvollständigen Deutschkenntnissen eine andere Didaktik benötigt als ein nur mit Deutsch aufgewachsenes Kind desselben Alters.

Nun mach ich den Lehrern keine Vorwürfe, gar keine: sie werden von ihrem System (Ministerium) auch so schon überfordert, stehen ständig unter Zeitdruck, müssen sich um viel zu viel kümmern, und dann sollen sie noch Sonderwege erforschen??

Aber auch die Kinder entwickeln "Vermeidungsstrategien", wo sie nur können. Lernen IST eine Anstrengung, und wer vermeidet nicht gern jede Mühsal?

Wir Erwachsenen kennen doch alle die Mogelmöglichkeiten, die man nutzt, wenn man nicht genug gebüffelt hat. Das ist universal.

Das Wort schenkte mir in der Pause eine Psychologin; da bezog es sich auf die Ämter, die Kindern mit Schwierigkeiten eigentlich helfen sollen. Und sie zeigte mir auch gleich, wie es geht: ich legte ihr einen Fall dar, in dem für mich ein entscheidender Schritt wäre, das ein kompetenter Mensch mit Mutter und Kind reden würde: ein persönliches Gespräch. Die Psychologin empfahl mir einen "Flyer", d.h einen Zettel, auf dem eine Stelle angezeigt wäre, an die sich die Mutter wenden könnte.

Sie glaubte offenbar, dass eine solche diffizile Situation mit einem "Flyer" zu lösen wäre! Mir verschlugs die Sprache. Soll die Mutter sich einem "Flyer" anvertrauen, wenn sie schon keinen Menschen findet, mit dem sie ausführlich und vertrauensvoll reden kann?

Auch ein Flyer ist Teil einer Vermeidungsstrategie.

 

Frankfurt, 13. Juni

Eben habe ich eine Hymne beendet, ein Loblied auf eine Frau, und das Lob gipfelt darin, dass ich die "Bescheidenheit" dieser Frau preise.

Jetzt staune ich, ja, mache mir Vorwürfe: ist das, im Zeitalter des Feminismus, wirklich die beste Eigenschaft einer Frau? Warum sollte eine Frau denn bescheiden sein? Frauen werden doch eh schon genug gemobbt.

Indem ich darüber nachdenke, sage ich mir: eine Frau, die Macht besitzt, eine Frau, die das Leben in eine Position mit Entscheidungsgewalt gebracht hat, muss mehr bedenken als sich selbst. Wenn sie sich die Fähigkeit der Einfühlung erwirbt, wird sie verantwortlicher handeln können als ohne. Ihre eigenen Wünsche und Regungen wird sie zurückstellen, um denen, für die sie Verantwortung trägt, einen größeren Raum zu schaffen.

Zeichne ich mit solcher Beschreibung eine ideale Mutter? Nein, es gilt genauso für Männer in verantwortlichen Positionen. Also vielleicht für einen "Vater".

Meine Hymne richtet sich an eine Großherzogin aus dem 19. Jahrhundert, an die sich fast niemand mehr erinnert, an Alice von Hessen und zu Rhein. Sie war die zweitälteste Tochter der Queen Victoria, und schon als junges Mädchen sprang sie helfend ein: 1861 war die Königin vom Tode ihres geliebten Mannes, Prinz Albert, so erschüttert, dass sie die Staatsgeschäfte schleifen ließ, und während dieser Zeit übernahm Alice, selbst kaum zwanzig Jahre alt, einen Großteil der mütterlichen Aufgaben. Noch während des Trauerjahrs aber heiratete sie auch, genau wie es die Eltern geplant hatten. Sie heiratete nach Hessen, in ein Land voll bitterer Armut, sie kam nach Darmstadt, und es fehlte ihr fast an allem. Und so fort. Meine Hymne ist für eine CD über Darmstadt bestimmt, an der wir Mitglieder der Literaturgruppe Poseidon arbeiten.

Dass passt zu einem anderen Thema, das mir vorgestern Abend bei einem Vortrag begegnete: die Geschichte Europas. Wir könnte man Kindern die Geschichte Europas erzählen? Wie entsteht eine "europäische Identität"? Brauchen wir die?

Das ist der springende Punkt: ja, wir brauchen sie. Sobald Konflikte entstehen, wenn der Zorn ausbricht, etwa so wie jetzt, wo Griechen und Spanien Not, ja, Hunger leiden, in solchen Momenten bedarf es eines europäischen Zusammengehörigkeitsgefühls, dann müssen auch andere Gesichtspunkte als ein gewisser nationaler Vorteil - etwa für die Deutschen - eine Rolle spielen. Andere Ziele als der unmittelbare nationale Gewinn. So wie es in Deutschland den "Länderausgleich" gibt, einen gewissen Finanztransfer zwischen reichen und armen Bundesländern, so muss es auch einen Ausgleich zwischen armen und reichen Mitgliedern der Europäischen Union geben. Bis zu einem gewissen Grade existiert der schon, seit die Europäische Gemeinschaft gegründet wurde; freilich verlangt jede Generation neue Begründungen und Rechtfertigungen, und auch neue Formen. Ein gemeinsames Geschichtsbild wäre dabei hilfreich.

Meine hessische Großherzogin zum Beispiel befand sich unversehens in einem Krieg gegen ein Land, in dem ihre eigene Schwester die Kronprinzessin war! (1866, Preußen gegen Österreich, und Hessen war mit Österreich verbündet.) Was tat sie? Sie blieb im Land, was gar nicht selbstverständlich war. Sie legte in den Lazaretten mit den verwundeten Soldaten den Grundstein für eine weltliche Krankenpflege; sie entwickelte ein Curriculum für diplomierte Krankenpflegerinnen - wie übrigens ihre Schwester in Berlin auch, und sie tauschten sich aus darüber. Beide versammelten Bürger um sich - Frauen und Männer - die im gleichen Sinne handelten. Bis dahin bildeten nur die Kirchen zum Beruf der Krankenpflegerin aus. Seit jener Zeit ist es mit dieser Vorrangstellung vorbei. Eine gute Krankenpflegerin wird für ihre Arbeit bezahlt! Dafür setzte die Prinzessin ihre Machtstellung ein und gewann.

In England waren die Verhältnisse damals schon fortschrittlicher als z.B. in Hessen, die Grossherzogin brachte Vorbilder mit. Das ist europäische Geschichte!

Marx und Heine fanden Zuflucht in Paris. Das natürlich auch.

Bei den Vorträgen vor zwei Tagen hörte ich noch etwas: Krisen, sagte die Professorin, sind Katalisatoren, sie führen zum Wachstum, ja, Wachstum setzt Krisen voraus. Denken wir Vielfalt, dann entsteht ein Miteinander von Verschiedenem.

Ich hörte, dass in Brüssel nächstes Jahr ein "Haus der europäischen Geschichte" eröffnet werden soll. Und wenn sich die Schulklassen dort drängeln - weil das Museum natürlich viel anschaulicher ist als etwa das Europäische Parlament, in dem zwar eine Sitzung gehalten wird, doch wo die meisten Mitglieder grade woanders sind; der fast leere Saal füllt sich meistens nur, wenn eine Abstimmung stattfindet - wenn sich also zu viele Schulklassen im Museum drängeln, dann werden noch mehr solche Museen entstehen, im Westen wie im Osten und schließlich auch im Süden. So hoffen wir, hoffe ich, denn europäische identität entsteht schon in den frühen Jahren eines Kindes.

 

 

Frankfurt, den 31. Mai

Meine Verlegerin hat ihren Verlag aufgegeben. Einfach geschlossen. Um Schlimmeres, sprich einen Konkurs, zu vermeiden, schrieb sie in einem Brief. Schon früher schickte sie mir die gesamte Auflage meines Gedichtbandes "Aus Bildern zusammensetzen" über eine Transportfirma nachhause.

Was sie mit den übrigen Büchern macht, hat sie nicht mitgeteilt. Ich war überrascht und habe erstmal nicht zurückgerufen. Werde ich aber noch tun.
Wir waren (sind) ja lose befreundet, und da liegt ein Gespräch doch nah. Was bedeutet so eine Geschäftsaufgabe? Was sagen die andern Autoren dazu?

Zunächst machte ich mir aber Gedanken über mein Lyrikbändchen, das ja nun gar nicht mehr zu erreichen wäre. Ich habe mit einem Antiquar gesprochen; er will meine Gedichte in Kommission nehmen, sie im Internet anbieten und den etwaigen Ertrag mit mir teilen. Das find ich großartig. Und für die Kunden hat das natürlich den Vorteil, dass sie das Bändchen nun günstiger erstehen können als vorher.

Interessenten klicken "Antiquariat" an, setzen meinen Namen und den Titel ein - und schon brauchen sie nur noch auf "in den Warenkorb" zu tippen.

Am 6. Mai habe ich zuletzt öffentlich eigene Gedichte vorgelesen, beim "Europäischen Festival der Poesie", und ein italienischer Dichter, der sehr gut Deutsch kann, weil er schon seit Jahrzehnten in Frankfurt lebt, der hat mir (ohne Not!) Komplimente für meine Gedichte gemacht. Das tat wohl. Denn:

 

FÄDEN SCHEINEN

zwischen den fädchen im gewebe des alltags

schimmert ein silbriger glanz hinduch

ein leuchten von weit

und ich weiß nicht woher

dünn liegen die fädchen im licht

armselig

fadenscheinig das gewebe

zerrissen hier und da

aber es filtert das licht das es durchlässt

aber es bringt strukturen ins leuchten

einen aufbau

das licht erhellt eine ordnung

die fasern könnt ich nicht erkennen

ohne licht

und ohne fasern würd' das licht mich

sinnlos blenden

ich könnte gar nichts sehen

wüsste nicht einmal

dass sehen möglich ist

was blicke bedeuten

schön wird erst der glanz

wenn er sich bricht

in edelsteinen und brillanten

in spiegeln und in augen

 

(in: "Aus Bildern zusammensetzen", von Barbara Höhfeld, Khorshid-Verlag, Frankfurt) 

 

Frankfurt, den 25. Mai

Nun komme ich doch noch einmal auf das Thema zurück. Ich hatte mir im Dunkel des Kinos einen Satz aufgeschrieben, ein Zitat von Hollande, der mir gerade in die Hände fällt. Da ich den Film größtenteils mit Unbehagen angesehen hatte und mir vornahm, später genauer darüber nachzudenken, griff ich diesen einen Satz auf, in dem sich alles zu kristallisieren schien, was mir missfiel. Er lautete:

"Le constat suffit, et il est implacable."

Die Übersetzung zuerst: "Die Feststellung genügt, und sie ist unerbittlich."

Ich weiß jetzt nicht mehr, was Hollande da gerade festgestellt hatte, darum ging es mir nicht. Ich fand, dass hier eine (menschliche) "Feststellung", also etwas, das definitionsgemäß auch einen Irrtum enthalten kann, wie ein Granitstein, wie eine Offenbarung, ja wie eine religiöse Behauptung behandelt wird. Selbstüberschätzung leuchtete mir aus dem Satz hervor.

Vermutlich müsste ich mir den Film ein zweites Mal angucken, ehe ich behaupten könnte, dass Hollande darin das Präsidentenamt als etwas betrachtet, das ihn zum Halbgott macht, zu jemandem, der per se "Wahrheit" spricht. Zumindest, solange er sich im Elyséepalast aufhält. Wahrscheinlich müßte ich mir auch das gute halbe Dutzend weiterer Filme über einen französischen Präsidenten noch anschauen, von denen ich inzwischen in den vielen Gesprächen gehört habe, damit ich vergleichen kann.

Das werde ich nicht tun, meine Zeit ist mir zu knapp dafür.

Es geht mir, auch hier wieder, um die Sprache, um das einmal Gesagte. Aus dem "Le constat suffit, et il est implacable" höre ich den Klang von Selbstüberschätzung und Irrationalität heraus, und das sind keine Eigenschaften, die ich einem Präsidenten wünsche, schon gar nicht einem französischen, denn Frankreichs Wohl liegt mir am Herzen.

Paris, den 20. Mai

Gedanken über die Unterschiede in der Darstellung und der Wahrnehmung des politischen Lebens in Frankreich und in Deutschland

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Wir gingen in einen Film, der letzte Woche erst herausgekommen ist und den Titel "Le pouvoir" trägt. Er handelt von Staatspräsident Hollande, und wie er seine neue Residenz, den Elysée-Palast, in Besitz nimmt und wie er sich in etwa im ersten halben Jahr seiner Regierung dort eingewöhnt.

"Le pouvoir" lässt sich schwer ins Deutsche übersetzen; nächstliegend wäre "die Macht", aber im Falle dieses Films und auch in anderen Zusammenhängen passt das nicht. Das Wort "pouvoir" wird auch benutzt, wenn wir von "Gewaltenteilung" sprechen, und in diesem Sinne heißt es "'Gewalt". Manchmal bedeutet es "Können". Doch den Filmtitel würde ich mit "Das Amt" übersetzen, nachdem ich den Film gesehen habe. Im Französischen entspräche dem "Amt" das Wort "la fonction", doch würde sich das überhaupt nicht für einen Filmtitel eignen. So stecke ich von Anfang an in den Unterschieden der Wahrnehmung und der Einordnung fest.

 

Das ganze ist verwirrend, und grad wird mir die Zeit knapp, ich komme später zurück und schreib weiter!

 

Nun bin ich zurück. Warum "La fonction" sich als Filmtitel nicht eignet? Die Funktion einer Person in einem Gefüge erscheint als Eigenschaft nebensächlich; wohingegen "le pouvoir" die Gedanken und die ganze Welt gewissermaßen erschüttert. Die Macht, die Obergewalt, das Steuer, die Zügel in der Hand - den größtmöglichen Einfluss, das ist es woran man denkt. Das Wort suggeriert, dass jemand, der sich "le Präsident de la République" nennen darf, auch wirklich an der Macht ist.

Was mich an dem Film störte, war, dass fast überhaupt keine Machtausübung gezeigt wurde, sondern stattdessen immerfort nur das "Protokoll".

Dazu half auch das Elysee selbst, ein Palast aus dem 18. Jahrhundert - er gehörte eine Zeitlang der Madame de Pompadour -, der auf eine reiche Geschichte zurückblickt. Mit seinen vergoldeten Leisten an allen Wänden und Türen, mit den Kristalllüstern und den Marmortreppen, mit Intarsien auf den Böden, an den Wänden und auch an gewissen Möbeln, beeindruckt er alle, die das Gebäude betreten, und wie wird es erst demjenigen gehen, der sich dort jeden Tag von morgens bis abends aufhält? Wie geht ein Sozialist mit dem feudalen Luxus um, wie lebt dort ein Otto Normalverbraucher (sozusagen; Hollande war vorher Hochschullehrer), wenn man sich dann noch die uniformierten Wachen, die befrackten Wächter an jeder Tür und all das übrige Personal (Wikipedia spricht von 150 Personen) hinzudenkt?

Da Hollande selbst etwas an den verkrusteten Formen ändern wollte, wurde auch gezeigt, wie er mit seinen Ministern, mit seinen Beratern, d.h. mit all den andern, insgesamt etwa 800 Köpfen starken (laut Wikipedia) Gremien umgeht, die sich um ihn herum im Elysee versammeln?

Klipp und klar sagte er: jeder wird mit Respekt behandelt, doch gibt es eine Hierarchie, an der nicht zu rütteln ist: der Präsident bestimmt die Politik, er hat das letzte Wort, nichts geschieht ohne ihn. Nach ihm folgen die Minister, und so weiter, die hierarchische Leiter hinab. Er begrüßte vor jeder Sitzung jeden einzelnen Anwesenden mindestens mit Handschlag, manche auch mit Wangenküssen; den Wächtern an den Türen und Treppen gab er die Hand.

Der Film begann mit einem Fototermin im Elyséegarten: wieder und wieder ging Hollande mit ausgreifenden Schritten über den dichten flachen Rasen, während ein älterer Mann, der Fotograf, gebückt in den Sucher starrend, rückwärts laufend ihn dabei knipste. Offenbar wollte der Präsident dem Kinopublikum zeigen, dass er modern ist und mit den Notwendigkeiten der Werbung umzugehen versteht. Von den Franzosen erfuhr ich dass der gebückte alte Mann einer der berühmtesten Fotografen im Lande war.

Im kiesbestreuten, mehrfach geharkten Innenhof des Palastes wurde ein roter Teppich ausgerollt, und Hollande schritt allein diesen endlosen Teppich ab, vom Außengitter bis auf die Stufen des Palastes hinauf, wo Sarkozy und Madame ihn erwarteten und begrüßten, wo diese nun nach dem Austausch einiger Freundlichkeiten verabschiedet wurden. In der Zwischenzeit hatten vier Arbeiter (gekleidet wie Arbeiter!) die Hälfte des roten Teppichs aufgerollt, ein Wagen fuhr im Rückwärtsgang bis kurz vor die zweite Hälfte des Teppichs, auf dem nun M. Sarkozy und Madame geschritten kamen, um dann in den Kies zu treten und ihren Wagen zu besteigen.

Die Franzosen, die ich gefragt habe, glauben, dass diese Sequenz im Film eine Art Demütigung des Vorgängers ausdrücken soll.

Das fand ich etwas kindisch .....

23.5.

Nun bin ich schon wieder in Frankfurt. Im Zug auf der Rückfahrt von Paris lasen wir verschiedene Zeitschriften, die meist recht kritisch mit dem Film umgingen. Der Hauptvorwurf war, dass darin eben nicht von "Macht", von Machtausübung, die Rede war, sondern nur Äußerlichkeiten gezeigt wurden. Nach der Lektüre wurde mir klar, dass der Unterschied zwischen Deutschland und Frankreich, den ich in dem Film ausmachen wollte, nur teilweise besteht - zum Beispiel eben darin, dass der Elysée-Palast ein Erbe des 18. Jahrhunderts ist, während das Bundeskanzleramt erst vor zwanzig Jahren gebaut wurde. Oder: der Bundespräsident, der ja auch in einem alten Schloß residiert, hat wenig Macht im Vergleich zum "Président de la Republique". Die Frage hingegen, mit welcher Unbefangenheit oder mit welcher Vorerfahrung einer sein Amt antritt, hängt mehr vom Kandidaten ab als von seiner Staatsangehörigkeit. Hollande hat mit dem Film "Le Pouvoir" dem einfachen Menschen aus dem Volk einen ungewohnten Einblick in das tägliche Leben hinter den Mauern des Palastes geben wollen. Es sieht aber nicht danach aus, als ginge das einfache Volk sich das angucken. Vielleicht hat Hollande sich da die Illusion eines Intellektuellen gemacht?

 

Damit schließe ich dieses Kapitel, das mich doch einige Tage beschäftigt hat.

 

 

 

Frankfurt, 3. Mai

Willi Praml bewährte sich tatsächlich als der Theatermacher mit der unerschöpflichen Fantasie: der Titel seines Stücks hieß umständlich "Marx. Engels. Das kommunistische Manifest 1. Kapitel: Bourgeois und Proletarier."

Das klang trocken und wars überhaupt nicht.

Dennoch fällt es mir schwer zu beschreiben, was ich gesehen und erlebt habe; denn es folgte nicht, nicht offen, einer Ordnung, wie ich sie gelernt habe. Auf drei quadratischen Bildschirmen über der Bühne erschienen immer mal wieder insgesamt vier "Zeitzeugen" (so werden sie im Programm genannt): ein Gewerkschafter und eine Gewerkschafterin, ein Soziologe, der sich als typischer Alt-Achtundsechziger sah, und ein Mann von "Occupy". Zwischen den Aussagen dieser Vier spielten Schauspieler: ich erinnere mich an "Konkurrenz im Beruf", an den "Bourgeois im Theater", an die (durch falsches Schuhwerk) gehbehinderten "Proletarier". Es hatte Witz und Prägnanz, und die Texte waren - vermutlich - außer von Marx und Engels auch von Ziegler, Hessel und anderen Zeitgenossen. Was dabei rauskam, war ein Bogen, der sich über die Geschichte der letzten 50 Jahre wölbte. Wir, das Publikum, wurden zum jüngsten Punkt der Geschichte gemacht, d.h. das Ganze kam so rüber, dass wir Teil der "theatralen Installation" waren, wie Praml das genannt hat.

In der Naxos-Halle. Einer ehemaligen Fabrikhalle, die einen vertrackten und unwiderstehlichen Charme ausstrahlt, wobei das Theater aber vieles an der Einrichtung geleistet hat, das die Halle ebenso wohnlich wie provisorisch erscheinen lässt. Von der griechischen Insel Naxos stammen Mineralien, mit der die Fabrik einst Schmirgelpapier und Schleifwerkzeuge herstellte, die sie in der ganzen Welt berühmt machten. Obwohl rundum gebaut wird, darf diese Fabrikhalle stehen bleiben und das Theater darf weiterspielen!

Im August ist was über Heine geplant.

 

Frankfurt, 1. Mai

Kühl, aber kein Regen, gegen Mittag leichte Aufklärung; den ganzen Morgen fliegen Hubschrauber am Himmel. Frankfurt hat den Tag für ein Radrennen reserviert, das anscheinend die ganze Stadt in Anspruch nimmt. Wahrscheinlich wollen sie so Unruhen vermeiden. Am Römer treffen sich die Gewerkschaft und die SPD; irgendwo marschieren Nazis auf, ich habe nicht mitgekriegt wo genau. Ich werde heute Nachmittag ein ganz besonderes Theaterprojekt besuchen: in der Titania-Halle gibts was über Rosa Luxemburg; dann fährt ein Bus vor und bringt die Besucher, unter Hinweis auf Örtlichkeiten, an denen es in der Vergangenheit (d.h. im 19. Jahrhundert?) Aufstände und Revolutionen gegeben hat, zu den Naxoshallen, wo das Theater Willy Praml einen eigenen Blick auf ein Ereignis der Vergangenheit wirft. Bin gespannt. Vor Praml habe ich allen Respekt. Er ist Theatermensch mit Leib und Seele und spielt nicht nur, er regt an, er denkt nach, er ist ein interessanter Regisseur.

Letztes Wochenende verbrachte ich in Münster/Westfalen. Eine lebendige, lebhafte Stadt, so kam sie mir am Freitag Nachmittag vor, als ich aus dem Bahnhof heraustrat. Aber auch an den anderen Tagen: wie die Gasthaus-Terrassen überfüllt sind, speziell in einem glasüberdachten Hof zwischen einem modernen Betonbau und dem würdigen Klinkerhaus daneben, dem Picasso-Museum. Hier herrschte ein dröhnender Lärm, der nur durch die Gespräche der Speisegäste verursacht wurde, man verstand sein eigen Wort nicht. Drinnen im Museum dagegen hörte man davon nichts. Es gab einen Satz Handzeichnungen von Picasso aus dem Jahr 1972 zu sehen, und im nächsten Stock betrachteten wir Bilder von Georges Braques. Es war ein interessanter Gegensatz zwischen den beiden: Picasso mit seiner absolut sicheren Hand, mit der er nur wenige Striche braucht, um Wesentliches zu zeigen, und gleichzeitig ein und denselben Gegenstand vielfach, immer neu zeigen kann. Für ihn, so lasen wir an der Wand, beweist das, es gebe nicht nur eine, sondern viele Wahrheiten. Weil jede einzelne Zeichnung tatsächlich eine Wahrheit darstellte.

Anders bei Braques. Begabt, aber nicht so genial wie Picasso, schien er zu üben: an römischen Pferdegespannen, bei denen es den Rössern an Realität, d.h an der richtigen Dynamik mangelte; an Stillleben, die sich als zweidimensionale Deko erwiesen. Später malte er Vögel, hier verbanden sich Dynamik mit dekorativen Elementen und förderten eine gewisse Wahrhaftigkeit zutage.

Am Nachmittag führen wir zum Wasserschloss der Annette von Droste-Hülshoff; ich lernte Einzelheiten aus ihrer Biografie, verglich sie ein wenig mit der von Luise Büchner, mit der ich ansonsten beschäftigt bin - es war spannend in jeder Hinsicht. Der Taxifahrer hielt vor einer alten Bäckerei, bei der es frischen Pumpernickel gab, Der schmeckt so wunderbar, dass man es gar nicht beschreiben kann - eben wie früher. Mein Vater brachte manchmal einen Laib Pumpernickel aus Ascheberg (Münsterland) mit. Dieser frische Pumpernickel lässt sich überhaupt nicht mit der verpackten Fabrikware vergleichen, die man hier im Supermarkt findet ....

Auch tauchen alt vertrtaute Wörter auf: der "Kiepenkerl" zum Beispiel, der Name Knieperdolling - sein Porträt hing im Hülshof-Museum, er war der ordnungsgemäß gewählter Bürgermeister von Münster und hing den Wiedertäufern an (die eine zweite Taufe im Erwachsenenalter für vernünftig hielten). Das konnte die Kirche nicht dulden; ein Bischof belagerte die Stadt sechzehn Monate lang und besiegte sie schließlich. Die führenden Wiedertäufer, die im Kampf nicht umgekommen waren, wurden auf dem Marktplatz gefoltert, schließlich umgebracht und ihre Leichen in Käfige gesteckt, die hoch oben am Turm der Stadtkirche Sankt Lamberti hingen, noch heute hängen. Ihre Gebeine blieben dort 300 Jahre liegen! Münster, im 2. Weltkrieg sehr zerstört, wurde "alt" wieder aufgebaut. Dortmund hatte sich damals dagegen entschieden, wollte alles neu machen. Schade, denkt man, wenn man über Münsters Prinzipalmarkt schlendert.

Soweit für heute!