Tagebuch Winter 2009/10

Frankfurt, den 31. März

Der Winter ist nun vorbei, alles wächst und wächst und fängt auch schon an zu duften. So wird dies mein letzter "Winter-Eintrag".

Am vergangenen Freitag abend, es war schon dunkel, bin ich auf dem Bürgersteig der Mörfelder Landstraße über einen armdicken Wasserschlauch gestolpert und gefallen, den Bauleute da ohne jeglichen Hinweis von ihrer Baustelle zum Gully gelegt hatten. Ich hatte Glück: nur Hautabschürfungen, eine kleine Gehirnerschüttterung. Musste viel liegen, heute geht es besser. (Die Polizei habe ich benachrichtigt!)

Solch eine unvorhergesehene Ruhepause weckt Gedanken und Gefühle, rührt an existenzielle Fragen: Tod, selbstbestimmtes Leben, wer bin ich, was will ich und so weiter.

Ich schrieb einen Aufsatz über Gerhard Beier, den Historiker und Schriftsteller, nach dem die Literaturgesellschaft Hessen ihren Literaturpreis, den "Beierpreis" benannt hat. (Für ein literarisches Werk mit sozialem Anspruch, so die ungefähre Formulierung.) Es lag mir viel an dieser Arbeit, denn wenn man die Schriften liest, die Gerhard Beier hinterlassen hat, merkt man, wie genau, wie nahe an der Wirklichkeit, wie kritisch auch gegen sich selbst der Mann nachgedacht hat. Zu seinen Lebzeiten wollten viele nichts davon wissen; im persönlichen Umgang soll er nicht immer bequem gewesen sein; er brachte es nie zu universitären oder politischen Groß-Ehren, und darum denken ja viele Leute, dass man auf so einen Mann gar nicht zu hören braucht. Es lohnt sich aber, auch noch zehn Jahre nach seinem Tod.

Mein SPD-Ortsverein hat den Aufsatz auf seiner Webseite stehen unter www.spd-sachsenhausen.de/Gästebuch. Da kann ihn schon mal jeder nachlesen. Vielleicht erscheint er ja auch noch anderswo ....

So, und jetzt: Auf nach Frankreich! Winter Adé!

 

Frankfurt, 26. März 2010

An einem Zeitungsstand sah ich gestern eine französische Zeitung, die über Bordeaux berichtete. Ich kaufte sie sofort. "Bordeaux" betrifft mich, was dort geschieht, das muss ich wissen - so kommt es mir auf einmal vor.

Ich werde nämlich nächste Woche als Stipendiatin des Hessischen Literaturrates für zwei Monate nach Bordeaux reisen. Mitten in der Stadt steht ein Häuschen, das als Logis für auswärtige Künstler und Literaten bereitgehalten wird. Momentan wohnt dort jemand aus Mali - glaub ich - und Yoko Tawada war auch schon mal dort. Sie schrieb daraufhin den "Schwager aus Bordeaux", aber das ist eine andere Geschichte. Ab nächste Woche bin ICH unter der Adresse zu erreichen.

Auch wenn ich mich für diesen Aufenthalt beworben hatte, rechnete ich nicht damit, dass er mir tatsächlich gewährt würde. Ich will dort für einen zukünftigen Roman recherchieren: endlich reist mal eine Deutsche (die aus meinem Roman) nicht nach Paris, sondern in die richtige Provinz. "La France profonde". Das eigentliche Frankreich ... Offenbar hat meine Begründung die Jury überzeugt.

In dem oben genannten Zeitungsartikel wurde eine Kunstausstellung angekündigt. In den 70er Jahren lebte in Bordeaux an maßgeblicher Stelle ein Mann, der sich für die Besten unter den modernen Künstler interessierte und dem entsprechend im Namen der Stadt deren Werke ankaufte. Dann wechselte der Bürgermeister, und Schluss war mit der Modernität. Nichts mehr kam dazu. Im Jahre 2010 nun sah sich eine ganz junge Kunstwissenschaftlerin im Depot um und konzipierte daraus eine neue Ausstellung, die zumindest in "Le Monde" sehr gerühmt wurde. Bin gespannt, die Ausstellung dauert bis Ende April.

Frankfurt, den 17. März

Gestern fuhr ich zum erstenmal wieder mit dem Fahrrad durch die Stadt. (Ach, der Vogelgesang in den Gärten!)

An einer Ampel am Rossmarkt kam "Grün" für die Autos, doch das erste Auto fuhr nicht los. Das Taxi hinter ihm hupte wütend, dadurch wurde ich aufmerksam. Der Fahrer im ersten Auto war ein Schwarzafrikaner. Er startete also mit einer gewissen Verspätung. Der Taxifahrer ließ seine Fensterscheibe herunter, steckte Kopf und Schultern heraus und brüllte im Anfahren: "Arschloch!"

Rassismus! Zwei Sekunden, um zu reagieren. Ich will keinen Rassismus in dieser Stadt. So geht man nicht miteinander um. Ich saß auf meinem Rad und überlegte. Schließlich rief ich aus aller Kraft: "Selber Arschloch!" Der Taxifahrer blickte mich erstaunt an und schrie sowas wie "Ach, du!", dann war er weg, und für mich kam Grün.

Fäkalsprache ist mir immer ein rotes Tuch, ich ignoriere sie, ich benütze sie nicht. Darum entschuldige ich mich jetzt dafür, dass ich das schmutzige Wort in den Mund genommen habe. Doch welche Wahl blieb mir? Dieser weiße Rassist sollte wissen, dass sein Gerede nicht erwünscht ist. Ich hatte zwei Sekunden, und es sollte wirken: klar und eindeutig. Was sonst hätte ich in der Zeit tun können?

Ich entschuldige mich auch bei dem Taxifahrer. Vielleicht kannte er den andern? Vielleicht hatte der ihm eine Frau ausgespannt? Vielleicht einen Kunden verprellt? Oder nur die Vorfahrt genommen?

Es konnte aber auch Rassismus sein. Und Rassismus ist schlimmer als Fäkalsprache.

Frankfurt, 15. März

Neulich, kurz nach der "Oscar"-Verleihung, mokierte sich die Satire-Spalte der "taz" darüber, dass deutsche Medien sich gern den Preisträger Christoph Waltz als "deutsch" aneignen möchten, obwohl er doch ein Österreicher sei. Es gebe nur EINEN berühmten Walz in Deutschland, und der sei Friseur.

Daraufhin schrieb ich mal wieder einen Leserbrief, spontan, ohne lange drüber zu brüten. Er wurde nicht veröffentlicht. Darum kopier ich ihn jetzt hierhin (die Satirespalte nennt sich "verboten").

"Sehr geehrte/s/r 'verboten',
Die Pointe mit dem Friseur ist gut. Sie vergessen aber, dass der Schauspieler Waltz den Oscar für die Verkörperung des schlechthinnigen SS-Mannes bekommen hat. Verändert das nicht das Verhältnis Österreich-Deutschland? Waltz, die Mutter aller SS-ler, gehört die nicht nach Deutschland? Vielleicht haben die Österreicher ja die besseren Schauspielschulen, aber die besseren SS-Männer?
Warum wird nie von der Rolle gesprochen, die Waltz so pointiert, so weltweit überzeugend gespielt hat? An dieser Figur werden deutsche Männer auf lange Zeit gemessen werden!
Herzlich
Ihre Barbara Höhfeld
Frankfurt am Main

 

Noch eine Anmerkung dazu: am nächsten Tag wurde in einer anderen Satirespalte der "taz" auch die Rolle, für die Waltz den Oscar bekommen hatte, gebührend verspottet. Der Gesichtspunkt jedoch, dass es sich hier um ein Männer-Modell handelt, eines, das auch als Vorbild dienen kann, dieses Urbild vom "deutschen Mann", der kam nicht zur Sprache. Woraus ich mal wieder schlussfolgere, dass Machos in der taz herrschen. 

Frankfurt, 10. März

Die Sonne strahlt, die Kälte beisst, der Sturm heult. Seit Tagen geht das nun schon so. Wohl eine Gelegenheit, sich in Geduld zu üben.

Von meinen acht Feldenkrais-Stunden sind sechs vorüber. Ich habe dieses Mal "den Atem" in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gestellt. Was natürlich nicht heisst, dass wir nicht auch für andere Wahrnehmungen offen sind. Das macht ja gerade die Besonderheit der Feldenkrais-Methode aus. Achtsam sein, sich seine Bewegungen bewusst machen, darunter auch, wenn es sich ergibt, die Nicht-Bewegungen, also die Anspannungen, derer wir uns ja gewöhnlich nicht bewusst sind. In der Ruhe der Lektion gelingt das immer wieder: die Wahrnehmung von etwas, das man bis dahin nicht bemerkt hatte. Das löst oft ein Glücksgefühl aus. Weil eine solche Wahrnehmung die Möglichkeit von Veränderung mit sich bringt, denke ich.

Darum mache ich auch immer weiter mit Feldenkrais, obwohl ich doch soviele andere Dinge gleichzeitig verfolge: meine Arbeit an der Afrika-Anthologie von Muepu Muamba. Beiträge für die luxemburgische Kulturbeilage "kulturissimo" oder neuerdings auch für die luxemburgische Tageszeitung "tageblatt". Begleitung der Migrations- und Integrationspolitik in der Frankfurter SPD und was sich dort sonst so ergibt. Die Arbeit mit den Lesekindern.

Und manches andere. Ich lese viel, auch wenn ich nicht darüber schreibe: den Freiburger Rundbrief zum Beispiel, der besser als alles, was ich sonst gefunden habe, die Beziehung zwischen Christen und Juden aus immer neuen Blickwinkeln darstellt. Oder die "London Review of Books" mit ihrer Vielfalt: da denkt etwa jemand nach über die Frage, wie die Eroberung Britanniens durch die Römer seither - also über fast zweitausend Jahre - in der englischen Geschichtgsschreibung beurteilt worden ist: als Besatzung und Unterwerfung? Als Kulturbruch? Als Neubeginn? Als wesentlicher Bestandteil englischer Kultur? Bei der Lektüre solch kluger Aufsätze werde ich oft neidisch: wo findet man in Deutschland solche Überlegungen? Auf einem Briefmarkenheftchen, das den Sieg von Hermann dem Cherusker über die Varus-Armee als Verhinderung der Romanisierung von Deutschland feiert? Also, wer westlich oder südlich des Limes in Deutschland aufgewachsen ist, wird sich nicht über die römischen Vorfahren beklagen! Auf solche Ideen kommt man wohl eher im elbischen oder noch weiter östlich .... d.h. dort wo das Geschichtsbewußtsein ein anderes ist als hier ....

Warum befassen sich die Geschichtsprofessorinnen und -professoren nicht mit diesen Fragen? Überlassen sie irgendwelchen Dilettanten von der Post?

Frankfurt, 3. März

Nun musste ich meine Geranien - was der Sturm davon übriggelassen hat - doch noch mal hereinholen. Sie vertragen einfach keinen Frost. Die Petersilie ist da robuster ....

Vor kurzem empfahlen mir junge Freunde eine neue TV-Serie: sie heißt "In Treatment" und läuft auf 3Sat. Dieser Sender bringt ja immer etwas anspruchsvollere Sendungen, und meine Freunde waren begeistert von dem, was sie gesehen hatten.

Die Psychoanalyse würde dort allgemein verständlich gemacht, die "Übertragung" würde  der Zuschauer selbst miterleben, so las ich in der Zeitung. Also schaute ich mir eine Folge an, sie dauert eine Stunde, und ich gestehe, dass die Stunde sehr rasch herumging. Es gab zwei Analysesitzungen mit jeweils einem anderen Patienten zu sehen, jeder mit einem dramatischen Schicksal. Schön und gut, aber warum sollen die mich interessieren? Von Dramatik lebt doch jedes Theater- oder Filmstück?

Die Darsteller spielten sehr gut. Leider waren sie schlecht synchronisiert, grad so wie billige B-Filme. Das Deutsch klapperte leicht amerikanisiert, hatte nichts mehr gemein mit Siegmunds Freuds brillanter Sprache. Was mich am meisten störte, war schließlich etwas anderes: der Film zeigte nur Monologe. Die Patienten reden vor sich hin. Der Analytiker reagiert, aber auf eine Weise, die "analytisch" sein, nämlich irgendwas nicht Ausgesprochenes bewirken soll. Fake. Ein Analytiker, mit dem ich über die Serie sprach, fühlte sich davon (beruflich) bedroht. Das Allerpersönlichste, sagte er, das zwischen zwei Menschen im geschlossenen Raum passiert, werde dort vor aller Augen ausgebreitet und mache damit die Analyse unmöglich.

Ich finde die Serie von "Dr. House" unendlich menschlicher und intelligenter, bei "Dr. House" geht es immer um Beziehungen. Die Vielfalt, die Komplexität von Machtspielen, Anziehungskräften, Auseinandersetzungen aller Art begeistern mich jede Woche aufs Neue. Und "Dr. House" ist so glänzend synchronisiert, dass man gar nichts davon merkt. Bei RTL eben, die haben wahrscheinlich mehr Geld, oder wissen besser, wofür sie es ausgeben müssen ....

 

 



Frankfurt, 27. Februar 2010

Es ist Samstagabend, ich höre die Glocken läuten: samstags gibt es in Frankfurt oft "das große Stadtgeläut", woran sämtliche Kirchenglocken teilnehmen. Das hat was Feierliches, der Sonntag beginnt.

Es war ein sonniger Tag, ich bin rausgegangen, um Blumen und Kräuter für meinen Balkon einzukaufen. Petersilie und Lavendel wurden es; beim Einpflanzen entdeckte ich, dass im Kasten schon Hyazinthen-Spitzen hervorlugten, und dass der Schnittlauch anscheinend wiederkommt. Der Rosmarin hat es offenbar nicht über den Winter geschafft. Die Petersilie auch nicht, aber sie war schon zwei Jahre alt, vielleicht wäre sie eh am Ende gewesen. Auch die Erdbeerpflanzen sind erforen.

Zum Spazierengehen konnte ich mich nicht aufraffen, es war mir trotz aller Sonne zu kalt. Vielleicht bin ich auch zu sehr in Gedanken, und beim Gehen kann ich nicht nachdenken.

Worüber ich nachdenke? Ach, da ist vieles. Es sind neue Bücher angekommen: zum Beispiel über einen gewissen Lord Leverhume, der 1888 die "Sunlicht-Seife" erfunden hat. Er fabrizierte sie aus Palmöl, das war damals ganz neu. Das Palmöl bekam er aus Belgisch-Kongo, wo er bis zur Unabhängigkeit 1960 ein gnadenloses Zwangsarbeitersystem aufrecht erhielt. Gleichzeitig war er in England für seine soziale Großzügigkeit berühmt: er baute Häuser für seine Arbeiter, Schulen, Krankenhäuse etc.etc. Noch heute gibt es eine Stiftung seines Namens, die Forschungen finanziert.

Aber in Kongo kam ihm dergleichen nicht in den Sinn, in Kongo wollte er nur verdienen. Statt den Afrikanern die Palmfrüchte abzukaufen, betrachtete er auch die Afrikaner als sein Besitztum, sie mussten umsonst für ihn arbeiten. Die Kolonialmacht sollte die Polizei stellen, um Aufstände zu unterdrücken, was sie auch tat.

Was das mit mir zu tun hat? Mein Freund Muepu Muamba hat heute in der taz einen Artikel über die Kolonialzeit in Kongo stehen, da kann man das auch nachlesen ....

Über die Fortschritte meiner kleinen Leseschüler denke ich nach - ja, sie machen Fortschritte. Wie führt man Kinder zur Freude am Lesen? Das ist eine andere Frage. Vielleicht Glückssache. Ich meinerseits habe mich als Kind in die Bücher vergraben, weil ich so in eine andere Welt reisen konnte, ein spannende, eine wo die Leute tun, was sie wollen. In meiner Kinderwirklichkeit gab es das ja nicht ("Kinder, die was wollen, kriegen was auf die Bollen"). Heute  bewegen sich die Kinder viel freier, viel zu frei manchmal; wenn es ihnen an Zuwendung mangelt, greifen sie noch lange nicht zu einem Buch .... Es kommt doch wohl auch auf den Inhalt der Bücher an?

 

Frankfurt, 26. Februar

Auf der Webseite des Archäologischen Museums Frankfurt fand ich nun doch noch einen Hinweis auf die "normannische" Seite der "Wikinger" aus der Normandie. Aber nur kurz, summarisch, und nicht in der Ausstellung oder im Katalog.

Ich erfuhr, dass die Ausstellung bis zum 28. März verlängert wird. Wegen des Bilderteppichs von Bayeux ist sie auf jeden Fall sehenswert.



Frankfurt, 23. Februar

Wikinger in Bayeux


In Frankfurt läuft gegenwärtig noch die Ausstellung „Die letzten Wikinger“. Sie trägt den Untertitel „Der Teppich von Bayeux und die Archäologie“.


Der Untertitel machte mich neugierig: der „Teppich von Bayeux“ beschreibt in einer langen und präzisen Bildergeschichte den Feldzug des Normannenherzogs Wilhelm des Eroberers und seine Eroberung von England durch die Schlacht von Hastings im Jahre 1066. Die Normannen lebten in der Normandie und sprachen französisch. Auf dem Bilderteppich selbst wird nur Latein als Sprache gebraucht. Das 70 m lange Leinentuch, auf das die Bilder mit bunten Fäden gestickt wurden, hat sich nahezu unbeschädigt 800 Jahre lang in der Kathedrale von Bayeux erhalten. Ein Wunderwerk!


Wieso hatten sich plötzlich die Normannen in Wikinger verwandelt? Wem nützt das? dachte ich misstrauisch – denn in meiner Kindheit wurden „die Germanen“ verherrlicht und völkischen Zwecken nutzbar gemacht.


Also schaute ich mir die Ausstellung an. Der echte Teppich war nicht zu sehen – nicht transportfähig! – aber schöne, ausgedehnte Abbildungen. Zusätzlich zeigte das archäologische Museum  Original-Handwerkszeug zum Schiffsbau der Wikinger im 11./ 12. Jahrhundert, sowie Rüstungen, ausgegrabene Schiffsreste und Schmuckstücke aus dieser Zeit.


Die Erläuterungen zu dem Bildteppich konzentrierten sich besonders auf den dort gezeigten Schiffsbau. Wilhelm ließ demnach erst die Schiffe bauen, bevor er – sobald das Wetter es erlaubte – mit Mann und Ross die Schiffe bestieg, nach England segelte, dort an Land ging und bei Hastings die Schlacht bestritt, die er gewann. Die Schiffe wurden nach Wikingerart gebaut, sie waren seetüchtig und seit Jahrhunderten bewährt. Weitere Erläuterungen befassten sich mit der Kriegsführung, mit Waffen und Rüstungen. Im Katalog heisst es: “Darstellungen dessen, was nach geläufigen Vorstellungen die Wikingerzeit ausgemacht hat: wagemutige Schiffahrt und robustes Kriegswesen.“


Tatsächlich hatten die Wikinger von Skandinavien aus seit vielen Jahrhunderten piratenmäßig die kontinentalen wie die englischen Nordseeküsten überfallen, waren räubernd weit ins Inland eingedrungen. Erst 911 schloß der Karolinger Karl III. mit dem Wikingerherzog Rollon, der sich bei Rouen angesiedelt hatte, einen Vertrag, wonach dieser dafür sorgen würde, dass keine Wikinger mehr in das französische Binnenland einfallen würden. Die Wikinger ließen sich taufen und wurden zu Normannen. Amtssprache war Latein, die Leute sprachen ein Französisch, das man heute „normannisches Französisch“ nennt, das als Dialekt noch nachweisbar ist. In England heißt es „anglo-normannisch“, eine Sprache, die auf den Kanalinseln heute noch existiert und zunächst, nach der Inthronisierung Wilhelms des Ersten als englischem König, die Sprache bei Hofe war. Der Einfluss des  Normannischen lässt sich bis heute im Englischen nachweisen.


Von dieser Seite der Normannengeschichte erfuhr ich als Museumsbesucherin nichts. Rechtliche Fragen wurden in der Ausstellung nur insofern angeschnitten, als man aus der Bildergeschichte von Bayeux herauslas, dass die Thronbesteigung Wilhelms „rechtmäßig“ erfolgt sei. Tatsächlich wollte er den vorherigen englischen König vertreiben, und es gelang ihm. Er hatte dem Mann, bevor er König wurde, bei einem Besuch in der Normandie einen Treueeid abgenommen – hatte ihn  unter Lebensbedrohung zum Schwören gezwungen, auch das erzählen die Bilder von Bayeux. Eid ist Eid, egal ob erzwungen oder freiwillig geleistet, der Punkt  wird in der Ausstellung nicht thematisiert. Gehört das zum „robusten Kriegswesen“ der Wikinger?


Die Schönheit, Klugheit, handwerkliche Meisterschaft der Teppichbilder wird nur beiläufig behandelt.  Die Frage, in wieweit Frauen an seiner Herstellung beteiligt waren, wird gar nicht gestellt.


Beim nachträglichen Studium des Katalogs fand ich heraus, dass die Initiative zu der Ausstellung aus Dänemark kam. Das war also die Antwort auf meine Frage: wem nützt das.
Aber warum übernehmen die Deutschen eine so einseitige Ausstellung? Wollen auch sie die Jugend wieder für das Kriegshandwerk begeistern? So wie schon im vergangenen Jahr mit den Feiern zum Cherusker-Jubiläum? Mit einem Briefmarken-Heftchen der Post AG, wo die Briefmarken auf einer Hälfte das Armin-Denkmal aus dem Teutoburger Wald und und nur halb so groß zwei Bilder von Augustus und einer Legionärsrüstung zeigten? Mit einem kriegsverherrlichenden Begleittext, der die angebliche Verhinderung einer „Romanisierung Deutschlands“ durch den Cherusker feierte?


Im französischen Wikipedia stellte jemand die Frage, wieso die Normannen trotz ihrer Wikingerherkunft Französisch sprachen. Die Antwort einer Historikerin lautete: da die Wikingerbesatzungen nur aus Männern bestanden, heirateten sie Ortsansässige, und diese sprachen eben Französisch. Die Mutter-Sprache übernahm die Vorherrschaft. Nur ein paar nordische Wörter flossen ein: gardin wurde zu „jardin“, Garten, zum Beispiel.


Die Normannen entwickelten eine große Literatur. Einer der brühmtesten normannischen Dichter war Alain Chartier (1385-1433). Er schrieb das Epos: „La Dame sans merci“, die gnadenlose Dame. Eine Liebesgeschichte natürlich.




 



Frankfurt, 19. Februar

Zu Lesego Rampolokeng würde ich gern noch was sagen. Er hat mich beeindruckt als ein Mensch, der selbstverständlich meint, was er sagt, und dafür auch die richtigen Worte findet, d.h. Worte, die dem Augenblick angemessen sind.

In einem Interview mit der "Frankfurter Rundschau" betonte er ausdrücklich, wie wichtig für ihn jedes Wort ist, und das nehme ich ihm ab, schriftlich wie mündlich.

Inzwischen erhielt ich die zweisprachige Ausgabe seiner Gedichte von 1998, Titel "Blue V's". Das Buch hatte ich sofort nach meinem Gespräch mit dem Autor bestellt. Lesego Rampolokeng hatte nämlich die Vermutung ausgesprochen, dass das Deutsche seine Texte in der Übersetzung auf eine - ich glaube, er sagte, - "noblere" Ebene brächte als das Original, irgendwie gehobener, so dass der untergründige Humor verlorenging. Das war eine Übersetzungsfrage, das machte mich neugierig.

Thomas Brückner war 1998 der Übersetzer, und er hatte sich hier eine besonders schwere, vielleicht unmögliche Aufgabe gestellt. Der wunderbare Refrain aus dem Titellied von "Blue V's" lautet: "views, visions, valentines", und nachdem ich das Buch ausgepackt hatte, suchte ich als erstes diese Übersetzung. Es gab sie nicht. Auch in der deutschen Fassung stand: "views, visions, valentines." Brückner hatte die Waffen gestreckt.

Standpunkte, Pläne, Liebesgeschenke? Was soll das heißen? Unwillkürlich dachte ich an "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" - im modernen Afrika, das Rampolokeng unermüdlich besingt, wären das womöglich die Ziele, die sich jeder Einzelne und der Staat setzen sollte? Einen eigenen Standpunkt, eine gemeinsame Perspektive, und Zuwendung für jeden nicht zu vergessen? Und wie macht man daraus, bitteschön, auf Deutsch eine Rapperzeile, die funkt und über die man lächeln kann ebenso wie ihren tiefen Ernst wahrnehmen?

Ich weiß da auch keine Lösung. Keine andere als die: ausführlich zu verstehen suchen, was gemeint ist, und sich dann mit umso größerem Vergnügen das Original anhören. Ich hab das Original im Internet gefunden. Ob ich seine Bedeutung ganz erfasst habe , weiss ich nicht. Wenigstens habe ich angefangen zu suchen.

Frankfurt, 11. Februar, bis

 In der vergangenen Woche habe ich viel Zeit mit "Africa Alive" zugebracht, dem alljährlichen Filmfestival. An vier Abenden war ich im Kino. Den Sonntagnachmittag verbrachte ich bei einer Diskussion über die gegenwärtigen Verhältnisse in der Republik Südafrika. Gestern abend fand eine Lesung mit Lesego Rampolokeng statt, einem Dichter, der in Soweto geboren wurde, was eine Vorstadt von Johannesburg ist.

Ehe ich nun über jede einzelne Veranstaltung berichte - welch eine Anhäufung von Ereignissen wäre das, und wer möchte wohl diese Anhäufung besteigen, wenn er oder sie nicht selbst dabei gewesen ist? - will ich von einem Schauspieler erzählen, der gestern Abend offenbar dem Auftrag nachkam, Gedichte vorzutragen, ohne dass ihn jemand darauf hingewiesen zu haben scheint, dass der Dichter anwesend sein würde. Er lieh einem Mann seine Stimme, der neben ihm saß.

Der Mann, nämlich Leseto Rampolokeng, ließ vorher selbst seine Stimme hören, eine starke, ausdrucksvolle Stimme, die gut zu nuancieren verstand. Er sprach aber Englisch, und seine Gedichte waren komplex genug, dass man sie nicht gleich völlig verstand, zumal die Lautsprecher in der Zentralbibliothek nicht die besten sind. Wohl jeder Zuhörer wäre dankbar für eine deutsche Übertragung gewesen. Da er jedoch allerneueste Texte vorlas, gab es davon keine deutsche Fassung.

Der Schauspieler hingegen ging von Büchern aus, die von Rampolokeng schon 1998 in Deutschland herausgekommen waren ("Endanfänge" im Marino-Verlag, "Blue V's" bei Edition Solitude). Aus ihnen hatte er sich eine eigene Inszenierung gebastelt, bei der er vor und nach jeder Textdeklamation irgendwas Musikalisches einfließen ließ, mal auf dem Klavier, mal auf einem der zahlreichen anderen Instrumente, die er mitgebracht hatte, darunter auch afrikanische. Es waren immer nur ein paar Akkorde, gestückelt, in hohem Tempo dargeboten. Er hetzte förmlich durch sein Programm, ließ keine noch so kleine Pause. Zwischendurch brüllte er auch mal, unartikuliert, oder artikuliert durch rhythmisches Backenklopfen. Mir kam es vor, als präsentiere er uns sein Afrika-Bild: das Bild von einem ständig zappelnden, "Rhythmus" produzierenden Schwarzen. Manchmal redete er so schnell, dass man nicht einmal auf Deutsch dem Inhalt folgen konnte. Sein Vortrag kam auch völlig humorfrei rüber, im Gegensatz zu dem von Lesego, der uns sogar auf Englisch öfter zum Lachen brachte.

Glücklicherweise hörten wir gestern abend zum Schluss  noch einen wirklichen Musik-Virtuosen: Riad Kheder spielte Gitarre, Trommel, Klavier. Seine Stücke folgen einer ganz eigenen Dynamik, sie leben, seine Rhythmen bewegen sich selbst bei den schnellsten Wirbeln immer auf einem Untergrund an Ruhe. Wäre Riad Kheder, ein Bagdader Berufsmusiker aus Frankfurt, gestern abend wirklich am Programm beteiligt worden und nicht einfach hinten angehängt, hätte das Programm dadurch gewonnen.

Doch bin ich dankbar, Lesego Rampolokeng kennengelernt zu haben.

 

 

 

 

 

Frankfurt, 11. Februar

Ein heulender Wintersturm weckte mich heute morgen auf, und als ich raussah, war wieder alles weiß.

Gut, dass ich wenigstens im Wohnzimmer die neuen Fenster habe. Sie halten mich trotz der Kälte warm.

Dennoch muss ich jetzt hinaus! Die Kinder in der Riedhofschule erwarten mich, damit ich mit ihnen Lesen übe!

SPÄTER

Ein Junge und ein Mädchen, achtjährig, und ein Fortschritt besteht nach einem Monat darin, dass sie nicht mehr nur abwechselnd einen Satz lesen, sondern einen ganzen Absatz. Auch erkennen sie schon ein paar mehr Worte auf den ersten Blick, müssen sie nicht mehr alle ausbuchstabieren. Das ist es im Grunde, was "Lesen" bedeutet: Wörter auf den ersten Blick zu erkennen. Anscheinend wird demnach das Lesen nicht mehr nach der "Ganzheitsmethode" unterrichtet? Muss ich mal nachfragen.

Die Kinder wollen immer gern erzählen. Der Stoff geht ihnen nie aus. Heute haben sie mir beschrieben, was sie gern machen wollen: das Mädchen erträumt sich einen Bauernhof mit vielen Tieren. Es zählte eine ganze Reihe davon auf, und als ich fragte, was es mit Kühen vorhabe, hieß die Antwort: ich will sie füttern und streicheln. Manche Leute würden Kühe schlachten, das käme aber bei ihr nicht in Frage. Sie esse kein Fleisch.

Der Junge möchte König sein wie König Arthur. Wie dieser möchte er zwei Schwerter haben, allerdings brauche er keine Rüstung, höchstens eine für den Kopf. Auf dem Körper brauchte König Arthur auch keine Rüstung, erklärt er mir, deshalb will auch er keine haben. Auch einen Bogen mit Pfeilen wünscht er sich.

Eigentlich reichen 45 Minuten, zweimal die Woche, gar nicht für alles, was wir machen könnten. Allerdings wird es auch nie langweilig.

 

Frankfurt, 4. Februar

Nun hat mich ein Schnupfen überfallen. Die beste Arznei heißt Schlafen. Aber manchmal muss man auch raus. So fing am Dienstag abend mein VHS-Feldenkrais-Kurs an, und den wollte ich keinesfalls "wegen  Erkrankung" absagen.

Komisch, dass ich  "Erkrankung" schreibe. Das ist dieses Bürokratendeutsch, das sich in das Leben sämtlicher Bürger einschleicht, entsetzlicherweise vor allem auch in Kinderbücher.

Ich übe zur Zeit zweimal die Woche das Lesen mit einem Jungen und einem Mädchen aus der zweiten Klasse einer Grundschule. Die Lehrerin hatte mir ein Buch mitgegeben, mit dem ich letztes Mal angefangen hatte. Dort fand ich ein solches Beispiel. Das Buch handelt von einem kleinen Mädchen, das erst die Mutter, dann den Vater, zuletzt den Bruder bittet, ihr was vorzulesen. Alle antworten mit "Keine Zeit". Die Mutter fügt noch hinzu: "Die Zeit ist ein Monster."

Das Mädchen weiß nicht mehr, was es mit sich anfangen soll. Es "verlässt das Haus."

Dieses "verlassen" stört mich enorm. Wenn der Lehrer z.B. sagen würde: "Keiner verlässt den Raum!", dann sollten und werden die Schüler das verstehen. In Berlin verstand seinerzeit auch jeder das Schild "Sie verlassen hier den amerikanischen Sektor". Aber dieses kleine einsame Mädchen? Es "schlüpft zur Tür hinaus", meinetwegen, es schleicht sich aus dem Haus, es gleitet auf die Straße, es öffnet die Tür und geht fort, - viele andere Möglichkeiten bestünden. Aber doch nicht "Karin verlässt das Haus"!!

Diese Art von Stilbrüchen sind es, die mir die meisten Bilderbücher verleiden. Auf meinen Wunsch hatten wir mit "Wo die wilden Kerle wohnen" angefangen, und ich war begeistert. Kein Wort zu viel, kein Wort verkehrt. Auch das Bilderbuch über die Haustechnik, das wir im Klassenbraum vorfanden, eignete sich vorzüglich. Aber damit sind wir nun durch. Ich habe die Kinder gebeten, ein Buch von zuhause mitzubringen. Letztes Mal hatten sie es vergessen.

Mal schaun, wie es heute weitergeht. Ich nehme auf alle Fälle von Rafik Schami "Der Wunderkasten" mit. Das ist eine Erzählung von einer Kindheit in Damaskus, mit hübschen Illustrationen, ich hatte schon mal bei einem andern Kind damit angefangen, und es ging recht gut. Ich werde mir ein Buch vom Kater Findus besorgen, diese Bilderbuch-Geschichten machen Spaß und lesen sich gut. Mein eigenes Exemplar ist verschwunden, wahrscheinlich habe ich es mal verschenkt, da meine Enkel jetzt zu groß dafür geworden sind.



Frankfurt, 1. Februar

Kardamomkaffee und ein warmes Zimmer. Was brauch ich mehr an einem trüben Wintermorgen, wenn mich Eis und Schnee von draußen angrinsen?

Das warme Zimmer freut mich, weil ich vor einer Woche noch in meiner Wohnstube gefroren habe, sobald ich eine Weile stillsaß. Die Fenster- und Türrahmen zum Balkon hin ließen jede Kälte durch! Darum entschloß ich mich schon letzten Sommer, dem Trend im Hause zu folgen und mir neue Fenster einbauen zu lassen. Es hat dann schließlich bis letzten Mittwoch gedauert: trotz der Kälte rückten die Glaser mit den Riesenfenstern an und arbeiteten wie wild drauf los. Erst stand die Küche im Freien, nur bis Spätnachmittag, und am Donnerstag stand das Wohnzimmer im Freien, bis genau vier Uhr.

Die Arbeiter hinterließen außer Kälte auch viel Staub. Ich fragte sie, was das für Staub sei? Offenbar hatte man ihnen diese Frage noch nie gestellt, sie sich selbst auch nicht. "Einfach Staub", sagten sie. Ich fragte zurück: "Aus Eisen? Aus Kunststoff? Aus Aluminium?" Sie meinten, es sei wohl hauptsächlich Beton. Sie müßten das jeden Tag einatmen. Nein, nein, Atemschutz benutzten sie nicht, das könne doch keiner aushalten, immer mit so'm Ding im Gesicht herumzulaufen.

Sie hinterließen einen "besenreinen" Arbeitsplatz. Wegen des Staubs machte ich mich sofort an eine Art Hausputz. Damit war ich bis zum Abend fertig. Da ich in der Küche meinen Geschirrschrank hatte ausräumen müssen, hieß dies: vor dem Einräumen alles spülen. Damit bin ich noch zugange, das erledige ich nach und nach. Die Rechnung des Glasers lag schon Samstag im Briefkasten. Ich habe sie grade eben erst geöffnet: sie entspricht dem Voranschlag. Eine redliche Firma.

Ich genieße die Wärme.

 

II.

Samstag war ich im Theater. Peter Brooks inszenierte Beckett, und es spielte eine international erfahrene Schauspielerin, die aus Frankfurt stammt: Myriam Goldschmidt.

Das wollte ich trotz Eis und Schnee nicht verpassen.

Das Stück "Glückliche Tage" kannte ich vorher nicht, Beckett hatte mich noch immer begeistert, auf seine leise hintergründige Art.

Vielleicht bin jetzt zu alt für Beckett: ich habe mich gelangweilt. Eine Frau am Ende ihres Lebens quasselt. Das könnte noch lustig sein, wurde es aber nicht. Es hätte tragisch werden können, war es aber auch nicht. Die Schauspielerin entfaltete all ihr Können, allein aus dem Oberkörper heraus, wie Beckett das wünscht (die Frau steckt laut Regieanweisung in einem Erdloch, symbolisch für den Bewegungsverlust im Alter). Dem Text fehlte jeder Hinweis auf Persönliches, Individuelles: außer einer Handtasche, die Utensilien wie Lippenstift, Taschentuch, Nagelfeile und eine Damenpistole enthielt, gab es nichts, das aus der Figur eine Person gemacht hätte. Auch der Ehemann schaffte das nicht, der noch raus- und reinkriechen konnte und obendrein die Regieanweisungen gab.

In den sechziger Jahren mag sowas revolutionär gewesen sein, Heute ist es nur noch langweilig. Sorry, Mme Goldschmidt. Ich sähe Sie gern in einer andern Rolle wieder.

Frankfurt, 22. Januar

Meine Güte, wie die Zeit vergeht. Mein Nachbarsjunge kommt, damit ich ihm bei den Hausaufgaben helfe, schrieb ich vor fünf Tagen. Er macht seine Hausaufgaben meistens allein, doch manchmal, wenn er nicht weiter weiß - vielleicht, weil er ein Kreuzworträtsel lösen muss - klingelt er einfach bei mir, und wenn ich zuhause bin, dann haben seine Fragen höchste Priorität. Er ist aufmerksam, neugierig, und er weiss mit seinen acht Jahren wirklich schon eine Menge. Ich kann mich gut mit ihm unterhalten.

Ähnlich und doch ein wenig anders geht es mir mit den zwei Kindern, einem Jungen und einem Mädchen, denen ich seit gestern beim Lesenlernen helfe. Sie sind auch acht, aber erst im zweiten Schuljahr, und ihr Lesen kommt noch holperig daher. Zwar ist es nicht so schlecht, wie ich gefürchtet hatte - denn immerhin bin ich über die "Freiwilligen-Agentur" als eine Art Feuerwehr in die Schule entsandt worden - aber doch mühsam genug, dass sie, allein gelassen, rasch die Geduld verlieren würden. Ich bleibe mit ihnen eine dreiviertel Stunde zusammen, und wechsel zu einem andern Buch oder einem andern Thema, sobald ich merke, dass die Konzentration nachlässt. Zweimal haben wir das jetzt gemacht, und beides Mal verging uns die Zeit doch sehr schnell. Nach der ersten Stunde haben sie in der Klasse zufrieden darüber berichtet, erzählte mir heute die Lehrerin.

Ich hatte mir als erstes Buch Sendaks "Wo die wilden Kerle wohnen" ausgesucht, ein Bilderbuch - und es wirkt! Bilder und Text vereinen sich zu einem Erlebnis! Wir sind gestern und heute etwa bis zur Hälfte gekommen, gerade soweit, wo der Max den wilden Kerlen vorschreibt: "Wir machen Krach!" Damit habe ich meine Stunde beendet: "Wie macht man Krach?" Wir haben Wörter gesammelt, - schreien, brüllen, klopfen, trommeln - und es war lustig. 

Der Junge hatte im Regal ein Technik-Bilderbuch entdeckt, in dem er aufgeregt blätterte: Es zeigt ein Haus mit vielen Gerätschaften, und man kann alles aufklappen: als erstes klappten beide das Klo auf, so dass man den Zu- und Abfluss des Wassers sehen konnte. Sehr aufregend. Was schwimmt denn da? fragte das Mädchen, ist es Kaka? Ja, vermutlich.  Dann der Schwimmer im Wasserkasten: wie funktioniert der? Und was ist im Staubbeutel des Staubsaugers (und gehört eigentlich nicht rein)? Gestern hatten wir zwei Worte: "Unfug" und "transportieren". Heute kam "wuchs" und "Kabelsalat".

Ich freu mich schon auf nächsten Donnerstag, wenn es weiter geht.

Falls jemand in Frankfurt auch einem Kind die Schulchancen verbessern und beim Lesenlernen helfen will, braucht der oder die nur bei der Freiwillig-Agentur unter 069 29 89 01-611 anzurufen oder unter www.freiwillig-agentur.de nachzugucken.

 

Frankfurt, den 18. Januar

In Budapest war mir aufgefallen, wie einfache Leute stolz darauf zu sein schienen, dass sie kein Englisch oder Deutsch verstanden und mir den Standpunkt vermittelten, ich sei doch etwas minderwertig, weil ich kein Ungarisch konnte. Köszönön.

Sowas trifft man ja in Deutschland normalerweise nicht, dachte ich.

Nationalismus äußert sich leider auf verschiedenen Wegen, und in Deutschland hat er neuerdings einen gefunden, auf dem obendrein der Krieg verherrlicht wird.

Wer das nicht glauben will, gehe zur Post und kaufe zwanzig Briefmarken à 55 Cent. Ja, es müssen 20 sein, dann bekommt man ein Heftchen. Früher gab es in so einem Heftchen Marken über die vier Jahreszeiten, und ich mochte das nicht, weil ich nie wusste, wem ich die Wintermarken (Eis und Schnee) schicken sollte. Heute habe ich mich nicht gewehrt, und was sehe ich statt der vier Jahreszeiten? das Hermannsdenkmal aus dem Teutoburger Wald. Die Post, angeblich ein privates, kommerzielles Unternehmen, verherrlicht den "germanischen Sieg"! Sie gibt auf der Außenseite des Heftchens Geschichtsunterricht: "Der Ausgang der Schlacht führte zur Befreiung des Gebiets zwischen Rhein und Elbe von der römischen Herrschaft. Damit entging der größte Teil der germanischen Stämme der Romanisierung." Danach wird eine direkte Linie von Varus zu den "Befreiungskriegen gegen Frankreich" und "der Gründung des Deutschen Reichs" als "Höhepunkt" gezogen.

Die Briefmarke zeigt den siegesgewissen Herrmann (von 1875) auf der einen Hälfte und den Kaiser Augustus, ergänzt durch eine Legionärsmaske, auf der anderen Hälfte. Ich weiss gar nicht, wie ich meinem Entsetzen Ausdruck verleihen soll. Am liebsten würde ich ohnmächtig ... aber das bin ich ja leider auch bei vollem Bewusstsein. Wer traut sich, solch eine nationalistische Geschichtsklitterung auf amtliche Briefmarken zu drucken?Wer behauptet mirnichtsdirnichts, die germanischen Leute westlich des Limes seien "romanisiert"?

So, hier muss ich stoppen, denn mein Nachbarsjunge braucht Hilfe bei den Schulaufgaben.

 

 

 

Frankfurt, den 17. Januar

Was ist Geschichte? Wer braucht sie? Wer formuliert sie? Wer schreibt sie auf?

Solche Fragen beschäftigen mich seit einiger Zeit. Bewusst geworden sind sie mir in den Gesprächen mit meiner Budapester Freundin. Sie betreibt seit Jahren Recherchen über die Geschichte der ungarischen Juden, sie ist immer auf der Suche nach Quellen. Orthodoxe Juden, sagte sie, hätten keine "Geschichte", sie lebten nur in ihrer Religion weiter. Danach ist "Geschichte" immer etwas Säkulares, denn eigentlich geht es allen Religionen so, dass sie geschichtslos sind. (Der katholische Theologe, der in der Schule "Religionsunterricht" erteilen will und keinen Unterricht in Religionsgeschichte, weiss das genau.) Erst mit einem gewissen geistigen Abstand gewinnt man die Kriterien, nach denen man Geschichte schreiben oder weitergeben kann.

"Geschichte" dient auch in ihrer weltlichsten Form noch der Identitätsbildung.

Eine Studentin, die aus Simbabwe stammt, erzählte mir, dass sie, lange nach der Unabhängigkeit, in der Schule nur europäisch-britische Geschichte gelernt habe. Erst jetzt werde ihr bewusst, dass sie die Geschichte von Simbabwe selbst nicht kenne. Sie wolle das bald nachholen. Wir sprachen über die Darstellung von schwarzen und weißen Personen in Erzählungen und Romanen: sie gestand, dass es ihr eine Zeitlang schwer gefallen sei, sich vorzustellen, dass eine Hauptfigur in einem Roman schwarz sein könne. Ich sprach über den Unterschied zwischen Doris Lessing und Yvonne Vera in dieser Hinsicht: bei Lessing sind die wahrnehmenden, handelnden, sich verändernden Charaktere immer weiß, und die Schwarzen treten nur als Stereotypen auf. Bei Vera hingegen ist es umgekehrt, außer, dass bei ihr fast keine Weißen vorkommen.

Literatur und Geschichte liegen gar nicht weit auseinander.

 

Frankfurt, 14. Januar 2010

Am Morgen schaben die Schneeschieber über das Pflaster und wecken mich auf. Sofort kommt mir wieder der vergangene Abend in den Sinn: im Hessischen Literaturforum war die iranische Dichterin Pegah Ahmadi zu Gast ("Achmadi" gesprochen). Sie lebt seit September 2009 in Frankfurt unter dem Schirm der "Städte der Zuflucht", und der kleine Saal im Mousonturm war gefülllt bis in die hintersten Ecken, trotz des kalten schneeigen Wetters, wo die städtischen Räumdienste nicht nachkommen.

Achmadi sprach Persisch und Englisch, als erstes schlang sie ein grünes Taftband um ihr Mikrofon: um den Abend der "grünen Bewegung für Demokratie" zu widmen. Neben ihr saß ihre Übersetzerin Jutta Himmelreich, und neben dieser Matthias Göritz, ein Frankfurter Schriftsteller. Er befragte zunächst die Iranerin, wobei er meistens selber irgendeinen Sachverhalt darstellte, auf den sie manchmal nur mit "yes" zu antworten brauchte. Sie (geb. 1974) erzählte aus ihrer Jugend, wie sie sich als einziges Kind literarisch interessierter Eltern in Bücher und Gedichte verliebte. Mit 17 konnte sie ein erstes Gedicht in einer angesehenen Zeitschrift veröffentlichen, und vor ihrer Flucht leitete sie selbst eine Literaturzeitschrift. Sie veröffentlichte mehrere Bände mit Gedichten und beschrieb anschaulich, welch mächtige Rolle Gedichte im Leben der Iraner spielen. Wie viele Schriftsteller in Gefängnissen sitzen, auch wenn sie gar keine politische Poesie schreiben. Ja, das Regime und seine Zensur lassen heute sogar erotische Schriften eher zur Veröffentlichung zu als Texte, die die sonstige  Gegenwart beschreiben. Filmemacher könnten sich auf Landschaft, auf Sitten und Gebräuche verlegen, aber in der Dichtkunst erscheine eine Vieldeutigkeit, die dem Regime nicht geheuer sei. Wegen der Zensur, meinte Achmadi, seien die iranischen Schriftststeller im Westen zu wenig bekannt.

Und dann ihre Gedichte: auch in Himmelreichs Übersetzung trat die poetische Dichte, die Verbindung von Gegenwartssprache mit den uralten persischen poetischen Traditionen zutage. Beim einmaligen Hören war alles zu verstehen und die Mehrdeutigkeit dennoch offensichtlich. Noch gibt es keine schriftlichen Texte von Petah Achmadi auf Deutsch, hoffentlich wird sich das bald ändern. Ich war beim Zuhören so gefesselt, dass ich keine einzige Zeile notierte.

Am Ende rief Göritz, der auch eigene Gedichte vorgetragen hatte, die aber im Vergleich ziemlich trivial klangen,  das Publikum auf, selbst Fragen an den Gast zu stellen. Die Leute waren so gefesselt, dass sich niemand meldete. "Noch 25 Sekunden!" rief Herr Göritz, und um Zeit zu gewinnen, meldete ich mich mit der trivialen Frage, was Frau Achmadi in Frankfurt am besten gefalle? Sie antwortete: "Die Freiheit." Das war mir zu wenig, und da sie, wie ich gehört hatte, in F-Sachsenhausen wohnt, entgegnete ich flapsig: "In Sachsenhausen?" Herr Göritz fühlte sich bemüßigt, auch "Offenbach" anzubieten (wenn er wüßte, wie ich jeden Frankfurter verachte, der glaubt, "Offenbach" sei ein guter Witz!), und Frau Himmelreich bat mich, den Hintergrund meiner Frage zu erläutern.

"In Sachsenhausen trinken, brüllen und singen die Leute - ich nehme an, das ist nicht Ihre Vorstellung von Freiheit. Ich bin alt und weiß, was Freiheit bedeutet, doch die Jüngeren wissen es nicht mehr, brauchen eher Grenzen - könnten Sie Ihre Freiheit spezifizieren?"

Da sprach sie ausführlich und mit tiefem Ernst über ihr Gefühl von Befreiung, wenn sie ungehindert durch die Straßen gehen, auch als Frau sich überall frei bewegen könne, sagen, was sie denke, und sich nach Lust und Laune kleiden und so fort, ich bedauerte, kein Persisch zu verstehen. Aber Jutta Himmelreich übertrug gewissenhaft.

Anschließend meldeten sich sehr viele Frager. Zum Beispiel wollte jemand von Achmadi wissen, ob sie nach dem Jahr in Frankfurt wieder in den Iran zurückkehre? Sie machte das von einer grundlegenden Veränderung der Verhältnisse abhängig. Iran brauche jetzt Demokratie. Vom Exil aus könnten iranische Schriftsteller Informationen in die Welt bringen, die sonst von der Zensur zurückgehalten würden.

Was die Farbe Grün bedeute, wurde gefragt. "Rebirth", nämlich Frühling, Neuanfang, sagte sie; vor allem bringe es eine Einheit in den Widerstand.  Grün spiele zwar auch im Islam eine Rolle, es habe aber im heutigen politischen Zusammenhang keine religiöse Bedeutung.

Der Abend endete mit einem iranischen Buffet.

 

Budapest, 9. Januar

Heute führte mich meine Freundin in ein Restaurant, das zu einem Hotel gehört, in einem Palast, der in einem "Modern Style" vom Anfang des 20. Jahrhunderts erbaut ist, mit orientalischen Anmutungen, doch ohne Schnörkel oder Tand. Es herrschte in allen Raeumen, an allen Tischen eine vollkommene Eleganz. Das aufgetischte Essen entsprach vőllig dieser Aesthetik. Durch hohe Fenster blickten wir hinaus auf das Donauufer, auf die gegenüberliegende Seite mit dem praechtigen Schloss auf dem langgestreckten Hügel. Die alte Brücke, eine Haengekonstruktion mit gewaltigen Eisenketten, führt hinüber nach Buda, und waehrend die Daemmerung herabsank, sprangen überall draussen, hüben und drüben, Lichter an, und die Brücke war nun so beleuchtet, dass sie wie eine maerchenhafte Zeichnung vor dem Hintergrund des beleuchteten Schlosses stand. Die unentwegt vorbeifahrenden Autos verstaerkten mit ihren Scheinwerfern noch den Zauber, zumal man sie durch die dicken Scheiben gar nicht hörte.

Luxus, reiner Luxus hüllte uns ein, mit aufmerksamen, klugen, diskreten Kellnern und Kellnerinnen. Die Blumen waren echt, standen am rechten Platz und fielen nicht auf. Sie gehőrten zu der allgemeinen Schönheit, wie die Silberbestecke, wie die geschliffenen Fenster- und Türglaeser, wie der gewaltige Teppich in der Bar - kein Perser, sondern ein moderner Wollteppich, der für diesen Raum, diese Möbel, diese Farben speziell angefertigt worden sein musste.

Wir, die wir immer vieles zu bereden haben, verbrachten wohl an die sechs Stunden an diesem unvergleichlichen Ort ...

Budapest, 8.Januar 2010

Welch eine bequeme Stadt! Nirgends wird gehetzt oder gedraengelt. An den Strassenbahnhaltestellen laesst man selbstverstaendlich erst alle Leute aussteigen, bevor man selber einsteigt, sogar wenn es regnet. (Es ist ein weicher Regen, auch das passt.) Wenn ich mit meinem Englisch oder gar Deutsch ankomme, dann signalisieren mir die Ungarn, dass ich ihnen zwar Ungelegenheiten bereite, dass sie aber Nachsicht üben wollen mit mir. Meistens. Manchmal faellt auch wie ein Vorhang über ihr Gesicht, und sie schalten jegliches Verstehenkőnnen aus. So gings mir heute im Gellert-Bad, als ich eine Eintrittskarte kaufen wollte. Man verstand mich am Ticket-Schalter einfach nicht. Ich versuchte es mit verschiedenen Begriffen: Bad, bath, swimming pool, hot water, Thermalbad. Es war als würde mein Anliegen immer komplizierter, eigentlich ohne Hoffnung. Die Dame rief eine Kollegin herbei, die etwas deutsch konnte. "Thermalbad" verstand sie allerdings auch nicht. Ich weiss jetzt gar nicht mehr, welches Wort ihre Augen schliesslich aufleuchten liess: jedenfalls rissen sie ein Ticket ab, gaben mir eine elektronische Karte und zeigten mir ihr kleines Addiergeraet, damit ich darauf den Preis ablese und bezahle. Ich war grad so erleichtert wie sie. Im Gellertbad habe ich mich schon őfter sehr wohl gefühlt, so auch diesmal. Und das Wort "Massage" klingt im Ungarischen genau wie im Deutschen.

Wie es scheint, befinden sich die Ungarn gegenwaertig auf einem nationalistischen Trip, die nationale Identitaet stehe im Mittelpunkt aller Diskussionen, sagt man mir, im Vordergrund aller Erwaegungen. Das bekommen ganz besonders die Roma zu spüren. Als Touristin werde ich, wie gesagt, mit Nachsicht behandelt. Nur in der zentralen Markthalle - dort wo alle Wünsche nach Hungarika erfüllt werden kőnnen - nur dort lese ich auch deutsche Inschriften, ja, die Verkaeufer kőnnen sogar deutsch sprechen. Hier ist der Ort, wo die Reisenden ihre Souvenirs und Mitbringsel einkaufen: Paprika in hunderterlei Gestalt, Gaenseleber mit oder ohne Trüffel in verschiedensten Grőssen, Branntwein ("Barack" ist Aprikosenwasser - es wird aber "barazk" ausgesprochen), Stickereien, Porzellan, Keramik, was habe ich vergessen? Ich nehme noch kleine Knoblauchkraenze mit, mit den ungarischen Landesfarben zusammengebunden. In Frankfurt mit ungarischem Knoblauch kochen, das ist doch was. (Ich habe ihn schon ausprobiert, er ist sehr milde.)

Es schneite zwei Tag, heute regnete es. Ich fuhr mit der Strassenbahn am Donauufer auf und ab, welche bezaubernde Aussicht bei Tag und bei Nacht. Auch die Donau strőmt Ruhe aus. Es ist Winter und der Wasserstand niedrig.

 

Frankfurt, 2. Januar 2010

Dem geneigten Leser, der geneigten Leserin wünsche ich Gutes und Schönes für das Neue Jahr!

Diese Rituale ....

Geschenke zu Weihnachten gehören auch dazu, ich meine zu den Ritualen, die man nicht ohne Not aufgeben soll. Wenigstens wird jeder dadurch gezwungen, sich eine Weile lang vorzustellen, was der/die andere, der/die zu Beschenkende, wohl brauchen könnte. Welche Gabe oder Geste denn Freude auslösen könnte. Das ist doch kein schlechter Gedanke in diesen Zeiten der Ich-Verherrlichung?

Zu Sylvester war ich eingeladen - genau genommen habe meine Freunde Maria und Muepu mich zu ihrer Einladung mitgenommen, und ich habe mich willkommen gefühlt. Die Gastgeber und ich, wir waren einander schon öfter begegnet, vor allem bei den Veranstaltungen von "Africa Alive". Brieflich, mailmäßig standen wir mehrmals in Kontakt, als ich für Africa alive in den vergangenen Jahren  gedolmetscht habe.

So kam ich in eine fürstlich-zärtlich eingerichtete Wohnung auf dem dritten Stock eines alten Hauses mit seinen hohen Zimmern: fürstlich, weil mit orientalischen rot-golden gewebten Stoffen ausgestattet, zärtlich, weil die Hausherrin ihren römisch gebildeten Geschmack hat walten lassen. Und der Tisch herrschaftlich gedeckt! Ach, ich habe es genossen. Wir lernten einander ein bisschen besser kennen, wir führten Gespräche über Schwarz-Afrika, über seine Diaspora. Ich hörte: Viele Jahre lang trauten sich die afrikanischen Führer nicht, Leute aus der Diaspora zum Nutzen ihres Landes einzusetzen; doch in den letzten Jahren habe sich das geändert, natürlich auch mit Unterstützung der UNO. Diese hole sich ihre Spezialisten oft aus der afrikanischen Diaspora und bringe sie so in die Heimat zurück. Das kommt für das betreffende afrikanische Land allerdings viel teurer, als wenn es den Mann oder die Frau direkt eingestellt hätte, sagte mein Gastgeber achselzuckend.

Mir wurde nicht klar, woran es liegt, dass man sich die Spezialisten lieber von der UNO einfliegen lässt. Das heißt, jetzt unterm Schreiben taucht mir die Frage auf: Liegt es vielleicht dran, dass die UNO nicht auf Clan oder Sippe Rücksicht nimmt, wie vielleicht jeder einheimische Politiker das müsste? Es wäre jedenfalls eine einleuchtende Erklärung.

Zuletzt schauten wir aus dem Fenster des Wintergartens und bewunderten das endlose und chaotische Feuerwerk, das schon vor zwölf begann und danach mindestens noch eine Stunde dauerte, bevor es nachließ. Ich kann mich nie einer gewissen Traurigkeit erwehren, wenn ich das kanonenmäßige Geballer anhören muss. Doch offenbar vermag dem in Deutschland niemand zu entkommen. Maria, die Archäologin, sagte: "Es diente von jeher dazu, die bösen Geister zu vertreiben!"

Gut, so können wir vielleicht ein Weilchen nur mit guten Geistern leben.

 

Frankfurt, den 30. Dezember

Ehe nun das Jahr zuende geht, will ich mich doch noch mal melden. In der Zwischenzeit hatte ich außerordentlich viele Gelegenheiten zu Gesprächen - da schreibe ich eben weniger.  Teilweise hingen die Gespräche mit meinem Familienfest in Dortmund zusammen: da trafen nicht nur eine ganze Menge Kommentare ein, auch Fotos und sogar zwei Filmchen. Dem einen war dies aufgefallen, der anderen das, und jedem blieben andere Erinnerungen! Auch Erinnerungen an die Erinnerungen. Ein festliches Zusammensein stellt eine Nähe her, die nach einiger Zeit, wenn man sich nicht mehr sieht, wieder verloren geht, und so erweitert sich momentweise der Kreis derer, mit denen man sich austauschen möchte. (Gesegnet sei das Telefon!) Bei den chassidischen Geschichten von Martin Buber erinnere ich mich an eine, wo gesagt wurde: bei jeder persönlichen Begegnung entstehe ein Engel, der ein ganzes Jahr lebendig bleibe. Treffe man sich aber länger als ein Jahr nicht mehr, verschwinde der Engel wieder. Ich mag dieses Bild... So schweben derzeit eine Menge Engel um mich herum!

Geschrieben habe ich trotzdem, es sind zwei Artikel rausgegangen, einen dritten habe ich angefangen. Vor allem habe ich gelesen: die Biografie von Yvonne Vera, die mir aus Zimbabwe geschickt wurde; die "République de l'imagination" von Patrice Nganang, über die ich noch schreiben werde. Es geht darin um einen Aufruf an junge Afrikaner, dass sie sich republikanisches Leben erst einmal in ihrer Fantasie gründlich vorstellen sollen, damit sie wissen, was sie verwirklichen wollen, nämlich das, wofür die Eltern und Großeltern mit ihrem Leben gekämpft haben, die Unabhängigkeit, die Demokratie. Ein schönes Buch, nicht bequem.

Auch der diesjährige "Prix Goncourt" ist nicht bequem: "Trois femmes puissantes" heißt der Titel, es geht um drei Frauen in Afrika oder zwischen Europa und Afrika, die nach unserem europäischen Verständnis durchaus nicht "stark" sind, wie der Titel uns glauben macht. Die dennoch stark sind, weil sie sich wider alle Erwartung behaupten. Sehr schön. Die Autorin Marie Ndiaye, eine Französin, ist nach der Wahl von Sarkozy aus Frankreich nach Berlin geflüchtet. Es hat danach einen kleinen Skandal gegeben: die Schriftstellerin äußerte sich von Berlin aus negativ über die französische Regierung, worauf ein dortiger Minister ihr öffentlich den Mund verbieten wollte und eine Entschuldigung verlangte. Damit ging er zu weit, darüber war man sich in Frankreich einig. Der "Goncourt"-Preis verpflichtet niemanden zur Unterwerfung!

 

Frankfurt, 14. Dezember

Vorgestern Abend habe ich zum erstenmal in diesem Jahr das Eis von der Windschutzscheibe gekratzt. Der Winter ist angekommen, wiewohl ich mir mein Balkon eine kleine Frist gewährt: noch sinkt dort das Thermometer nicht unter Null. Noch kann ich meine Geranien draußen lassen. Auch andere Pflanzen blühen noch: Ringelblumen, Edelmargeriten. Der Rosmarin und der Lavendel überwintern selbst bei Frost (wenn ich Glück habe), die Geranien und die Kakteen nicht. Sie muss ich hereinschleppen - vielleicht heute abend schon? Es wird dann immer ein wenig eng in meinem Wohnzimmer, doch ertrag ich das gern, weil ich so den ganzen Winter über ins Grüne gucke, und das  bedeutet eine SOLCHE Erholung! Es sind ja nie mehr als ein paar Wochen, dass der Frost auch auf meinem Balkon herrscht. Die übrige Zeit schätzen die Geranien die frische Luft. Sie blühen natürlich weniger als im Sommer, aber welch ein belebendes Grün!

Es wird Zeit für die Weihnachtsgrüße. Ich bemerke, dass ich manchen, mit denen ich gut befreundet bin, lieber eine Email schicke als eine vorgedruckte Karte. Diese Karten verlieren irgendwie ihren Charme: man schreibt darauf mit der Hand, was meistens schwer zu entziffern ist, und man bedient sich vieler Floskeln, für die eigentlich schon das Porto zu schade ist. Ich selbst freue mich über einen schmucklosen Brief mit Inhalt allemal mehr als über eine bunte Karte mit "fröhlich" und "besten" und "Rutsch" etc. Ob es anderen auch so geht?

 

11. Dezember

Grade habe ich einen "Ausflug" auf die Webseite des Literaturclubs der Frauen aus aller Welt unternommen - und da fällt mir allerlei ein, weil ich ja selbst aktives Mitglied in diesem Club bin.

Bescheiden tritt der Club auf, während mir die grafische Ästhetik ein bisschen pathetisch vorkommt. Bescheiden, weil nur knappe Daten angegeben sind, selbst auf der Seite "wir über uns" bleibt frau gewissermaßen auf Graswurzel-Ebene. Strebt nicht etwa die Eroberung des Literaturbetriebs an. Pathetisch, denn es werden Folianten mit Lederrücken in den Kopf der Seite gestellt, nur so zum Schmuck, und nicht etwa die Bücher, die die Mitgliederinnen selber veröffentlicht haben. Als wollten wir uns unter die Schirmherrschaft von fürstlichen Bibliothekaren stellen ... Nach dem Besuch bei Luise Pusch denk ich sogar: unter den Schutz des Patriarchats - aber das ist natürlich übertrieben. Der Anblick der Seite repräsentiert nur eine der zahlreichen Kulturverständnisse, die in unserem lebhaften und lustigen Club vertreten sind.

Das Abendessen in einem libanesischen Restaurant, vorgestern: Unser Lektor, Herr Beckermann, kam auch mit. Was geschah? Die arabischen Kellner erwarteten, dass Herr Beckermann (unser Gast!) für "seine" Frauen ein prächtiges Abendessen bestelle. Als sie erkennen mussten, dass jede Frau für sich selber orderte und  auch meistens kein vollständiges Menu, da nahmen sie der Gruppe erstmal einen Tisch weg, so dass alle sehr eng beieinander saßen und für die verschiedenen Gerichte auf dem Tisch gar nicht mehr genügend Platz war. Auch fehlte es der Bedienung durchaus an Promptheit, eine Frau wurde zunächst überhaupt nicht bedient, und als jemand vorsichtig nachfragte, sagte der Kellner: "wieso, das haben wir doch schon .... " Mit den vielen Tellerchen wusste niemand so richtig, was für wen bestimmt war. Unsere Freundin erhielt immerhin danach noch mal ihren eigenen Teller. Ich, die ich zu spät gekommen war, erhielt einen Notstuhl, aber erstmal kein Gedeck.

An allen übrigen Tischen saßen Herren und Damen in gleicher Zahl. Einer reinen Frauengruppe wäre das Lokal nicht zu empfehlen.

Dennoch räume ich ein: das Essen schmeckte köstlich und bekam meinem empfindlichen Magen bestens. Wir haben uns miteinander herzlich wohl gefühlt und haben viel gelacht. Besonders als eine von uns zum Schluss die Mokkatässchen umdrehte und  zu wahrsagen anfing. Nur Gutes, natürlich. Es war ein echtes Fest!

 

Frankfurt, 10. Dezember

Gestern abend war Luise F. Pusch in Frankfurt. Ihre Schriften verschlang ich  am Anfang der achtziger Jahre, sie schrieb über "Das Deutsche als Männersprache". Mit ihr und Senta Trömel-Plötz begann in Deutschland die feministische Linguistik. Ich arbeitete damals als Übersetzerin beim Europäischen Parlament, dieses setzte zum erstenmal einen Ausschuss für Frauenrechte ein, und in meiner Abteilung galt ich als Spezialistin für das Thema Frauenbewegung. (Ich hatte in Luxemburg ein "Frauentheater" mitgegründet.) Diese Kompetenz brachte mir fortgesetzten Spott ein: vor allem von den älteren Kollegen, egal ob Mann oder Frau.  Irgendwie gewöhnte ich mich daran, was wäre mir anders übriggeblieben? Doch nur die Rolle des unterwürfigen oder verhuschten Weibleins.

Ich ging gestern abend zu Luise Pusch, obwohl der Literaturclub der Frauen aus aller Welt, dem ich mit Freude angehöre, gleichzeitig ein Weihnachstessen veranstaltete. Dann komme ich eben später, sagte ich. Doch hatte ich keine der Gefährtinnen veranlassen können, auch mit zu Luise F. Pusch zu gehen. Dort sah ich allerdings fast nur alte Frauen, gewiss bewegte und lebhafte Frauen, aber eben sehr wenige jüngere.

Pusch machte keine Universitätskarriere, obwohl sie eine brillante Linguistin ist, was auch von wissenschaftlicher Seite anerkannt wird. Vielmehr wurde - solange sie sich nicht mit dem Verschwinden der Frau in der Männersprache beschäftigt hatte. Von dem Moment an, in dem sie mit allem ihr zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Handwerkszeug nachwies, dass es keine logischen, ökonomischen oder sprachwissenschaftlichen Gründe gibt, um sprachlich die Welt als reine Männersache darzustellen, dass sich dahinter bloßer Machtkampf verbirgt, von dem Moment an versperrten sich ihr die Tore zur akademischen Laufbahn. Sie wurde nie mehr eingestellt. Sie sei, so berichtete sie, die einzige "Heisenberg-Stipendiatin", die anschließend keine Professur erhielt. Sie bedauerte das: sie hätte gern vielen Studentinnen ermöglicht, zum Thema feministische Linguistik zu promovieren.

Pusch verfügt über einen unerschöpflichen Humor. Was haben wir gelacht, gestern abend! Sie schreibt Glossen, man kann ihre Bücher kaufen. Hier ihre Webseite: www.luisepusch.de

Unter ihrem Humor versteckte sich dennoch ein Hauch von Verbitterung: in den USA gilt feministische Linguistik als wichtiges akademisches Fach. In der Bundesrepublik wurde diese Arbeit lange Zeit abgewürgt.

Frankfurt, 8. Dezember

In den vergangenen zwei Wochen ist SO viel geschehen, dass Berichte darüber viel zu lang würden für diese Spalte. Was könnte ich davon kurz wiedergeben, zumal mir die Zeit schon wieder davonläuft?

Die Busfahrt in Dortmund weckte sehr viele Erinnerungen, auch Gedanken über Zusammenhänge, die man bislang nicht wahrgenommen hatte. Bei jedem Einzelnen aber entstanden ANDERE Erinnerungen, Anstöße; bei den meisten mit allerlei Gefühlen verknüpft.

Was ich nicht vorausgesehen hatte, war der Umstand, dass unser Bus - ein richtiger großer Linienbus, denn wir waren zu 33! - in manche Straßen nicht hineinfahren konnte, weil er, wegen der überall parkenden Autos, nicht um die Ecke gekommen und am Ende nicht wieder rausgekommen wäre. So sahen wir das Elternhaus, in dem wir größtenteils aufgewachsen sind, nur aus der Ferne, von der Straßenmündung her. Zum Aussteigen und Zufußgehen blieb nicht genug Zeit. Ausgestiegen sind wir erst
am Ende der Fahrt, am Bootshaus des Ruderclub Hansa am Dortmund-Ems-Kanal.  Dort war gerade eine Ruderregatta, bei Regenwetter im November. So sportlich sind sie dort.

Ich stand plötzlich Kameraden und Verehrern von vor fünfundfünfzig Jahren gegenüber! Erkannten wir uns wieder? Nach ein paar Sekunden sicherlich, und es stellte sich augenblicklich eine Verbundenheit ein, als hätten wir uns erst vor ganz kurzer Zeit getrennt. So, als kenne die Erinnerung keine Zeit, so, als würden Gefühle unverändert gespeichert....

Es war ein großes Erlebnis, mit dem ich noch nicht fertig bin.

Frankfurt, den 26. November

Eigentlich bin ich schon auf dem Sprung nach Dortmund, wie man so sagt. Dorthin lade ich meine Familie zum Wochenende ein, um meinen Geburtstag zu feiern, aber gleichzeitig, um Abschied zu nehmen von meiner Geburts- und Heimatstadt Dortmund. Wir werden mit einem Bus herumfahren und uns einige der Stätten anschauen, die in meiner Kindheit und Jugend, in der meiner Geschwister, eine Rolle gespielt haben. Da Dortmund im Krieg sehr zerstört wurde, wird es einiger Fantasie bedürfen....

Vielleicht ergibt sich danach ja ein Neuanfang?

Jetzt scheint die Sonne und so kann man sich auf die Reise freuen!

Frankfurt, 23. November

"Gut Mus feil!"

Ich liebe diese Verkaufsaufforderung aus dem "Tapferen Schneiderlein", ich kann mich gut in die Bäuerin hineinversetzen, die ihre Pflaumen zu Mus gekocht hat und dies nun in den Gassen der Stadt anbietet. Feilhält.

Hoch in einem Dachzimmer sitzt bei offenen Fenstern der Schneider und hört den Ruf und spürt Appetit und läßt die Frau die vier Stiegen heraufkledttern, um ihr ein paar Gramm abzukaufen. Ein paar Gramm! Die Frau geht griesgrämig davon. Der Schneider aber schmiert sich eine Scheibe Brot mit dem duftenden Mus und setzt sich wieder an seine Arbeit. Genüßlich will er zwischendurch sein Brot verzehren - doch da haben sich schon Fliegen eingefunden, sind ihm zuvorgekommen! Wütend greift der Schneider nach der Fliegenklatsche und erschlägt sie. Sieben Fliegen erschlägt er auf einmal!

"Sieben auf einen Streich!" jubiliert der Schneider, der gewiß noch jung ist. Stolz erfüllt ihn. Er näht sich einen Gürtel und stickt darauf den Satz: "Sieben auf einen Streich."

Das erzähle ich aus dem Gedächtnis. Aber auf einem "Lesepatinnen-Seminar", das ich letzten Samstag besuchte, vernahm ich, dass Vorleserinnen - um solche ging es - erstens überhaupt gegen Märchen waren, zweitens die Sprache der Grimms zu "schwer verständlich" fanden und drittens, jedenfalls einige, vergeblich versucht hatten, die Märchen auswendig zu lernen! Da hab ich mich gemeldet, hab mit "Gut Mus feil" gefragt, ob es nicht genüge, einfach diese Geschichten zu erzählen?

Plötzlich fingen alle an zu lachen! Plötzlich wagte keiner mehr, was gegen Märchen zu sagen!

Ja, ich möchte Kindern Geschichten vorlesen oder erzählen, jetzt muss ich nur noch finden wann und wo. Es läuft über die AWO und das einzige Problem dabei besteht darin, dass ich mich für eine gewisse Zeit verpflichten muss, weil Kinder doch Regelmäßigkeit brauchen.

Bei dem Seminmar begegnete mir noch eine andere Frage: Jemand schlug vor, man solle "türkischen" Kindern (oder aus anderen Nationen) auch türkische Märchen vorlesen, aus Respekt vor ihnen und weil sie doch fremd hier seien. Ich erregte mich: die Kinder seien hier geboren, nur die Eltern kämen von anderswo, und was diese Kinder vor allem brauchten - außer Respekt natürlich - das sei Deutsch! Ich hatte wieder das Gefühl, nicht verstanden zu werden, wie so oft. Am Abend erst ist mir ein neuer Argumentationsweg eingefallen: ich hätte sagen können, dass ich selbst viele Jahre in multinationaler Umgebung gelebt hätte, und dort hätte ich ganz allein bestimmt, wen ich für "fremd" oder für "meinesgleichen" hielt. Das hatte gewöhnlich nichts mit der Nation zu tun und oft sogar sehr wenig mit Sprache. Auch die Dame, die den "fremden" Kindern fremde Geschichten vorlesen will, bestimmt selbst, wen sie als "fremd" behandelt und wen nicht. Die Entscheidung, "fremd" zu sein, fällt nicht das Kind, wo immer auch seine Eltern herkommen mögen!

Frankfurt, den 20. November

Gestern fand die letzte Lesung des "Literaturclubs der Frauen aus aller Welt" im Rahmen der "interkulturellen Wochen" statt, die sich die Stadt - oder das AMKA - auf die Tagesordnung geschrieben hatte. Ein prunkvolles, allerdings sehr klein gedrucktes Programmheft kündigte unzählige Veranstaltungen an, für Kinder und Alte, für Religiöse und Nicht-Religiöse, über Alltag und über Literatur, kurz alles.

Ich war nur auf unseren eigenen beiden Lesungen, eine in der Sachsenhäuser Stadtbücherei, eine in der Höchster Stadtbücherei, wo das Gebäude BIKUTZ heißt und gleich hinter dem Höchster Bahnhof liegt. (Ich vermute, dass BIKUTZ sowas wie "Bildungs- und Kulturzentrum" bedeutet, ich sah dort auch Hinweise auf Bildungsveranstaltungen, eine geräumige Kantine und anderes.)

Ein gutes Dutzend engagierte Zuhörer saßen gestern abend zwischen den Regalen, und es war ein Vergnügen, für sie zu lesen. (Es ergab sich, dass ich für eine erkrankte Kollegin, Venera Tirreno,  einsprang und ihren Text vortrug.) Die Leute gingen mit, sie fühlten sich ein, es betraf sie, dieses Dilemma, zwischen den Sprachen zu leben - das merkte ich deutlich bei den anschließenden Gesprächen. Die meisten Geschichten handelten von Menschen, die sich nicht bewußt und freiwillig dafür entschieden hatten, in die Fremde zu gehen, gewöhnlich waren sie mit den Eltern ausgewandert, oder sie hatten flüchten müssen.

Mir wird immer deutlicher, dass jeder, einfach JEDE/R, die Situation der Mehrsprachigkeit anders erlebt, auf eigene Weise, und dass jede dieser Geschichten spannend ist, wenn man sie gut erzählt ....

(AMKA = Amt für multikulturelle Angelegenheiten, einst eine Erfindung von Daniel Cohn-Bendit)

 

Frankfurt, 19. November 2009

In so viele Angelegenheiten bin ich verwickelt, dass zum bloßen zweckfreien Schreiben keine Zeit und keine Kraft übrigbleiben. Die Vorbereitung des Familientreffens in Dortmund, das für die kommende Woche geplant ist, beschäftigte mich immer noch sehr. Ich bekomme Erinnerungen von anderen berichtet, und das erweitert den Blick. Nichts lässt mich dabei gleichgültig.

Von Zeit zu Zeit arbeiten wir an den Übersetzungen zum Manuskript von Muepu Muamba, dem kongolesischen Dichter - unsere Freundschaft vertieft sich darüber und macht die Arbeit zum Vergnügen.

Es gab andere Anlässe zum Ausgehen: das türkische Filmfestival, die Sitzungen der SPD-Gruppe Migration und Integration. Die Gruppenlesungen mit dem "Literaturclub der Frauen aus aller Welt" am letzten Donnerstag und mit der Literaturgruppe Poseidon am letzten Freitag. Der große Geburtstag einer Kusine in Mittelhessen. Und manches andere - ich komme darüber nicht zum Schreiben, und das ist irgendwie auch nicht nur ein schlechtes Zeichen.

Das Schreiben bleibt wichtig, auch wenn ich es aufschiebe ....

Frankfurt, den 8. November

In dem Winkel meiner Wohnung, den ich als Abstellkammer benutze, steht ein Karton mit Familienpapieren. Es sind Papiere, die ich nach dem Tod meiner Mutter übernommen habe. Einige dieser Papiere hatte meine Mutter nach dem Tod ihres Bruders übernommen, einen anderen Teil schon früher nach dem Tod ihrer Schwester. Die Schwester, also meine Tante, ist 1945 gestorben, und mein Onkel 1989. Es sind chronologische Schichten in dem Karton verborgen, das geht zurück bis ins neunzehnte Jahrhundert. Ein Foto zeigt die ganze Gesellschaft eines "Familientages" von 1911. Ich konnte darauf noch meinen Großvater erkennen, der auch schon seit 1945 tot ist. Sonst niemanden. Die Kinder meines Großvaters waren 1911 wohl noch zu klein - meine Mutter grade fünf - damals nahm man keine kleinen Kinder mit auf Familienfeste. Und die Mutter dieser kleinen Kinder war zwei Jahre früher plötzlich gestorben.

Ich packte heute morgen den Karton aus, weil ich etwas Bestimmtes suchte, das ich aber nicht gefunden habe. Gründlich schaute ich all diese Sachen an: Briefe, Fotos, Zeugnisse, Ernennungsurkunden, 20 Reichsmark von 1923, fünf Mark aus den Anfängen der Bundesrepublik. Auf winzige Zettel geschriebene Mietverträge.

Ende des Monats habe ich auch zu einem "Familientag" eingeladen. Er soll noch einmal in meiner Geburtsstadt Dortmund gefeiert werden. Darauf bereite ich mich vor. Ich will eine "familienhistorische Rundfahrt" organisieren. Dazu möchte ich z. B. noch herausfinden, warum eine Straße namens "Heiliger Weg" so heißt - sie befindet sich knapp außerhalb der alten Stadtwälle. Stand dort der Galgen? Wohnten die Aussätzigen da? Im Mittelalter wählte man gern beschwörende Namen: In Frankfurt gibt es ein "Gutleutviertel", die Leprakranken lebten dort. Ich werde noch mal den freundlichen Stadtarchivar in Dortmund anrufen, vielleicht weiß er eine Antwort.

Auf dem Heiligen Weg ist mein Großvater bei einem Bombenangriff gestorben. Das erfuhren wir erst nach dem Krieg. Von dem Bahnhof am Heiligen Weg reisten meine Geschwister und ich 1943 in den Sudentengau - und kamen von dort erst nach dem Krieg zurück in eine völlig zerstörte Stadt. Mir wurde auf einmal bewußt, dass auf diesem Bahnhof meine Dortmunder Kindheit geendet hat.

Mein Frühstück wurde kalt, ich merkte es nicht.

Frankfurt, 4. November

Inzwischen habe ich im Internet unter "oral history" nachgeschaut: tatsächlich ein terminus technicus der Geschichtswissenschaft. Man versteht darunter eine besondere Form von "Quellen". Man - Laie oder Wissenschaftler - läßt Zeitzeugen erzählen, möglichst ohne einzugreifen. Die Erählung wird aufgezeichnet und dann ins Schriftliche übertragen - damit wird es zur "Quelle".

Bei der Übertragung in die Schrift müssen meistens Korrekturen vorgenommen werden. Der Sammler der Aufzeichnungen hat damit auch eigenen Spielraum. Von Spielbergs Archiv der Holocaustzeugen habe ich gehört, dass er  keine Stimmen ins Archiv aufnimmt, die irgendwas Positives aus der Verfolgungszeit berichten, oder von Leuten, die mit den Nazis irgendwie kollaboriert haben. Andernorts wird das freie Erzählen manchmal zum bloßen Interview, das spart Zeit. Aber durch die Art der Fragen dirigiert der Interviewende die Antworten.

Anscheinend hat sich das Konzept der "oral history" im Gefolge von '68 etabliert und war verknüpft mit der Hoffnung, dass nun auch einfache Menschen, die nicht zu den Wichtigen und Mächtigen gehören, zur Geschichtsschreibung beitragen dürfen. Könnte es sein, dass die Historiker inzwischen von dieser Methode wieder abkommen und sich stattdessen in eine Art Elfenbeinturm der wissenschaftlichen Autonomie  zurückziehen?

Im Gespräch in Arnoldshain erhielt ich die Auskunft, dass  Schul-Geschichtsbücher ein völlig anderes Thema seien, mit der ein Historiker meist nichts zu tun hat. Vermutlich nur dann, wenn er in eine Schulbuchkomission berufen wird? 

Um auf das "Erzählen" zurückzukommen: ein jeder braucht zum Erzählen Maßstäbe. Wenn es in Deutschland um die Vergangenheit geht, wird meistens für oder gegen die Nazis erzählt. Das durchtränkt sich, es geht aber fast immer irgendwie um Rechtfertigung. Bei Franzosen ist mir das nicht aufgefallen. Wenn ich zurückdenke, dann merke ich, dass sie fast nie über Vergangenheit reden - als würden sie diese den Büchern und der Literatur überlassen. Nur an vergangene Festmähler erinnert man sich in Frankreich immer gern!

 

Frankfurt, 31. Oktober

Da die Uhrzeit schon umgestellt wurde und auch die Bäume ganz wahnsinnig golden leuchten und man sich ein bisschen warm anziehen muss, beginne ich mein Wintertagebuch hier.

Eben bin ich aus dem Taunus zurückgekommen, bei hellem Sonnenschein - diese Farben! Ein Anblick in Seligkeit.

Ich war wegen eines Vortrags zu einer Tagung nach Arnoldshain gefahren, die sich "Grenzüberschreitungen" nannte und hauptsächlich Kurzfilme von angehenden Filmemachern zeigte. Ein paar davon habe ich auch gesehen und mich daran gefreut. Mein Hauptgrund aber war der Vortrag von gestern abend: Über "Europäisches Gedächtnis? - Erinnerungshorizonte und Deutungskonflikte im Wandel" referierte die Historikerin Dr. Ulrike Jureit vom Institut für Sozialforschung in Hamburg (von dort kamen die Urheber der  "Wehrmachts-Ausstellung", zu denen auch Dr. Jureit gehörte).

Der Titel war mir zuvor etwas unklar vorgekommen, und ich wäre nicht hingefahren, wenn mich nicht ein Frankfurter Wissenschaftler, mit dem ich vor einiger Zeit einen kurzen, aber interessanten Briefwechsel gehabt hatte, extra eingeladen hätte. Es sei "ein wichtiger Vortrag", schrieb er. Ich hoffte, bei der Gelegenheit neue Ideen für Erzählmaßstäbe zu entdecken.

Doch nicht nur darin wurde ich enttäuscht. Der Vortrag, was immer er besagen wollte, blieb undeutlich. Ich traf niemanden, der oder die ihn verstanden hätte. Manche sagten entschuldigend: "Er war sehr dicht." Andere: "Schlecht strukturiert." Ich schloß mich der zweiten Meinung an. Der einzige einigermaßen klare Standpunkt, den ich selbst heraushören konnte, war: "Irgendwelche politischen Gremien wollen sich in die wissenschaftliche Arbeit der Historiker einmischen. Ich laufe also Gefahr, straffällig zu werden, bloß wenn ich historische Ergebnisse veröffentliche. Straffällig!"

Vor einigen Monaten hatte das Frankfurter Institut Francais (seligen Angedenkens, Sarkozy hat es am 1. August abgeschafft) das gleiche Thema behandelt, nachdem die französische Nationalversammlung Gesetze verabschiedet hatte, die der Geschichtsschreibung Leitlinien verpassten. Eins der Gesetze, wonach der französische Kolonialismus für alle Beteiligten angeblich positiv war, wurde nach heftigen Protesten zurückgezogen. Ein anderes, das Sklaverei als Verbrechen gegen die Menschlichkeit einstuft (mit entsprechenden Strafmöglichkeiten), besteht weiter. An jener Frankfurter Tagung nahmen ein einschlägiger Historiker, sowie ein französischer "Nachfahre ehemaliger Sklaven" und eine Literatin aus Gouadeloupe teil; der deutsche Referent hatte leider kurzfristig abgesagt. Auch bei jener Tagung war die Frage der politischen Einmischung in die historische Wissenschaft aufgeworfen - und behandelt worden: wie wehren sich die Historiker gegen diese Zumutung, was sind  Zweck und Ursache der politischen Entscheidung, wo steht man jetzt?

Nichts dergleichen gestern abend. Es hieß sehr oft: "Die EU sagt...." Jedoch nicht ein einziges Mal wurde erklärt, ob der EU-Rat nun ein Gesetz beschlossen hatte, die EU-Kommission eine Ausführungsbestimmung, ob das EU-Parlament einen Standpunkt verabschiedet oder irgendjemand eine Meinung geäußert hatte. Die rechtliche Relevanz blieb völlig unerörtert. Mehr noch: Recht und Politik schienen zwei Bereiche, die der Historikerin gleichgültig waren, mit denen sie lieber gar nichts zu tun haben wollte. Dass unter "irgendwelche politischen Gremien" jemand zu verstehen ist, dem als GESETZGEBER in einer Demokratie alle Bürger unterstehen, gegen den sie aber notfalls auch verfassungsgerichtlich vorgehen können, schien sie nicht zu beunruhigen. "Moral" gehörte anscheinend nicht in ihr Fachgebiet (ich verstehe darunter Menschenrechte, gleiches Recht für alle u.ä.).

Soweit ich verstand, glaubt Dr. Jureit, es gäbe eine Geschichte an sich, unabhängig von Standpunkten, Machtinteressen, Gewissensfragen. Ich habe diese Nacht sehr viel darüber nachgedacht, und so weit bin ich mit meinen Überlegungen gekommen. Ich versuchte, mit anderen Teilnehmern darüber zu sprechen, und stieß dabei auf deutsche Vorstellungen von Geschichte in erstaunlichen Variationen: was man in der Schule gelernt hat, was man selbst erlebt hat, was in Zeitung und Fernsehen vorkommt, was sie von der Familie wissen, alles scheint auf der gleichen Ebene deponiert zu werden. So macht sich anscheinend jeder seine eigene "Geschichte" zurecht.

Das ist mir neu. Ich muss versuchen herauszufinden, was die Wissenschaftler unter "oral history" verstehen - da sie den englischen Ausdruck gebrauchen, muss er was anderes als mündliche Überlieferung bedeuten. Die man ja auch erst wahrnimmt, wenn sie aufgeschrieben ist.

Ich dachte bisher, es gebe eine offizielle Geschichtsschreibung - die z.B. in den Schulbüchern steht. Die, wenn neue Erkenntnisse auftauchen, auch schon mal umgeschrieben werden muss. Eine, die über die persönliche und die gemeinschaftliche Identität mitbestimmt. Der Frage muss ich weiter nachgehen...