Tagebuch Sommer 2016

Frankfurt, 7. Oktober

Eine junge Frau sagt, sie sei mit Deutschland ganz zufrieden. Es gehe ihr gut hier, besonders wenn sie an Indien denke, wo Hunderte Frauen einfach verschwänden, ohne dass jemand nach ihnen frage ....

Erschrocken erwiderte ich: aber hier, in der Bundesrepublik, liegt auch manches im Argen. Wenn ich an die Brandstiftungen der letzten Jahre denke, die nicht von der Justiz verfolgt wurden! Ich erinnerte an Bundesjustizminister Heiko Maas, der vor einigen Monaten die Länderjustizminister zusammengerufen und ihnen das Thema dringend ans Herz gelegt hat: Brandstiftungen müssen verfolgt werden! Seither gab es (soweit ich weiß) zwei oder drei Gerichtsfverfahren, die seriös geführt wurden ....

Die junge Frau, gebildetes selbstbewusstes Kind der Republik, fand den Gesichtspunkt nicht so bedeutend. Ich wies darauf hin, dass Deutschland in seinem Entwicklungsstand draußen vielen als Vorbild diene.

Damit war die Diskussion beendet.

Was mich vor allem entsetzt hatte: der Erwartungshorizont der liebenswürdigen Frau. Sie ist zufrieden, weil sie nicht einfach umgebracht wird, ohne dass jemand nach ihr fragt. Was für einen Wissens- und Bewusstseinsstand verrät das denn?

Ich will meinen Text über "die Götterdämmerung der französischen Intellektuellen" noch mal ganz neu schreiben (er wird dann in "kulturissimo" veröffentlicht): Worauf stützten sich die Intellektuellen traditionell, seit der großen Revolution, seit Zola und Sartre? Auf Freiheit und Gleichheit und Fortschritt? Umwelt?

Die jetzigen Generationen sind damit schon aufgewachsen. Ihnen sagen diese Vokabeln nicht mehr als das Immer Gleiche und Gewohnte. Sie suchen was Neues. Freilich - Tadel vertragen sie nicht gut. Die oben erwähnte junge Frau hatte aus dem Gespräch irgendwas Negatives über Deutschland herausgehört und ihr Hinweis auf Indien war ihre Antwort darauf. Die französischen Intellektuellen hassen den Houellebecq, weil er ihnen geistige Bequemlichkeit vorhält. Natürlich in einer männlich-überlegenen Pose - sonst würde ihn sowieso kein Mann ernst nehmen und ihn wenigstens hassen.

Jedenfalls treten hier, meine ich, die Religionen wieder in den Vordergrund: als Orte, wo jeder ernst genommen wird.  Houellebecq weiß das: er lässt seinen Protagonisten bei dem katholischen (und erotisch provokanten) Huysmans nachschauen. In einem Kloster endet dann die Suche, als er dort das Fenster öffnet und von betäubendem Verkehrslärm überfallen wird. Das Fenster musste er öffnen, um rauchen zu können, weil sonst der Rauchmelder schrillen würde .... Ach ja, über Houellebecq lässt sich herrlich streiten.

Die Religionen lehren Grundmoral: du sollst nicht lügen, nicht stehlen, nicht gierig oder neidisch sein. Ohne dergleichen kommen wir, meine ich, auf die Dauer nicht aus. Wer nicht zur Religion gehen will, sollte den Rechtsstaat ganz hoch halten. Das Grundgesetz und den Rechtsstaat.

Frankfurt, den 5. Oktober

Plötzlich ist es furchtbar kalt draußen geworden. Ja, wer jetzt in den Süden fährt, er verlängert sich den schönen lauen Sommer. Meine Heizung funktioniert nicht, die Zugänge zu den Heizkörpern haben sich mal wieder zugesetzt; doch heute Mittag kommt jemand, der mir sie frei macht - bis dahin heißt es sich warm anziehen ......

Ich fahre nicht in den Süden, denn ich habe zu tun. Nächste Woche Dienstag beginnt mein Feldenkraiskurs (dauert acht Wochen), und ich muss mich selbst auch dafür vorbereiten. Mich anstatt aufs Lesen stärker auf das Körperempfinden umstellen. Jeden Morgen braucht mein  Leib ein bisschen länger, um sich aufzurichten, sich geschmeidig zu machen, sich in der Schwerkraft frei zu bewegen, Schmerzen abzuschütteln. Dafür habe ich Techniken, kenne Wege, und dieses Wissen, die ganze lebendige Feldenkraislehre, ist ein großer Schatz.

Was übrigens Bertha Pappenheim angeht - über die ich gestern schrieb -, so hat Wikipedia einen wunderbar ausführlichen Artikel über sie zu bieten.

 

Frankfurt, den 4. Oktober

Bis zum 16.Oktober liegt in Sachsenhausen ein Schiff vor Anker, das Kulturveranstaltungen des hiesigen jüdischen Museum bietet. Es heißt "POP UP BOOT". Das Museum selbst befindet sich noch für ein Jahr im Umbau.

Das Schiff hat etwas Provisorisches: mit der kleinen Ausstellung über den Neubau und mit alten jüdischen Kultgegenständen im Bug; mit der Bar mitschiffs, die sich "Tel Aviv  Beach" nennt, aber in seinem Angebot beschränkt bleibt, und mit dem größeren Veranstaltungsraum, der sich bis zum Heck erstreckte. Darübe ein Oberdeck mit Liegestühlen und kleinen Palmen. An den Wänden stehen Fragen: nach welcher Person soll der Platz vor dem neuen Museum benannt werden? Die Besucher können rote Punkte neben einen der mehr oder weniger bekannten Namen setzen. Ich wählte Jeannette Wohl - sie war eine enge Freundin von Ludwig Börne und hat ihn sein Lebtag unterstützt, der von seiner Familie keine Unterstützung bekam. An einer andern Wand wurde gefragt, was die Besucher von einem jüdischen Museum erwarten? Ich fand die Aussagen nicht erhellend. Ich wünsche mir Geschichte, Traditionen, Diskussionen.

Letzten Freitag gab es eine Performance: "The casting: wer war Berta Pappenheim?" Die Aufführung stellte sich vor als Teil eines  Projekts namens "Tracking the track", das nicht weiter erklärt wurde - man ging wohl davon aus, dass jeder sofort selbst in seinem Smartphone nachguckte. Hab ich bislang nicht getan, hab gar keins. Die Vorstellung trieb mich nicht an, im Computer nachzugucken. Sie war zu lang, in jeder Hinsicht: die Luft im Raum wurde unerträglich stickig, und die Tiraden der Auftretenden wollten schließlich einfach nicht mehr in mein Ohr hinein. Die einzelnen Darsteller und Darstellerinnen - allesamt Laien - hatten Qualitäten; doch die Inszenierung kam ihnen nicht entgegen. Die halbe Bühne war von drei Frauen besetzt, von denen zwei sowas wie Regie zu führen schienen, die dritte zeichnete auf ihrem Gerät Bildchen, die wie kindliche Kommentare die Monologe auf einer Filmwand begleiteten. Es bewegten sich auf dem engen Raum auch noch zwei Männer mit Kameras umher und filmten fleißig, oder taten so als ob - das alles lief auf eine Verhöhnung des Publikums hinaus. Schade um Berta Pappenheim, die unermüdliche Vorkämpferin für die Rechte der Frauen, gegen Frauenhandel, für bessere Ausbildung. Ihr ist übrigens in Neu-Isenburg ein Haus gewidmet, eine Gesprächs- und Erinnerungsstätte. Pappenheim führte dort viele Jahre ein Mädchenheim. Sie strb 1936. Die Nazis vernichteten alles.

Auf dem Schiff herrscht eine Stimmung, die das Provisorische unterstreicht und die im Gegensatz zu dem benachbarten Äppelwoi-Schiff mit seiner Geranienpracht und seinen zahlreichen Gästen steht. Obwohl viele Tische und Bänke auf dem Popup-Boot stehen und das Boot grundsätzlich um 12 Uhr öffnet, saßen jedesmal, wenn ich vorbei kam, nur einzelne Personen dort, und wie zu einer Besprechung. Keine Wirtshausatmosphäre. An den Charakter des Provisoriums wurde ich auch erinnert, als mitten in der Vorstellung irgendwas gegen die Schiffswand prallte und wir arg ins Schaukeln kamen. Alles lief normal weiter.

Ja, was ist schon "normal"?

Die nächste Veranstaltung auf dem Schiff findet am 6. Oktober um 19 Uhr statt. Dmitrij Belkin, eingewanderter Ukrainer, spricht über: Wie ich in Deutschland jüdisch und erwachsen wurde.

Frankfurt, den 22. September

Das letzte Wochenende verbrachte ich in Paris – der Anlass war ein Klavierkonzert meines Enkels Emil Reinert am Sonntag Vormittag. Ein sehr bewegendes Erlebnis.

Am Samstag stöberte ich, unter anderem, in einer Buchhandlung herum und ging mit einem ganzen Bücherpaket hinaus.

Eines dieser Bücher hieß „Le crépuscule des intellectuels  français?“, „intellectuels“ männlich geschrieben, obwohl neben 16 Männern auch 3 Frauen in dem Bändchen zu Wort kamen. Als Herausgeber und Gesprächsleiter fungierte Nicolas Truong. „Crépuscule“ für Dämmerung, wie Götterdämmerung.

Truong geht von einem derzeitigen „ideologischen Umschwung“  in der  Öffentlichkeit aus. Während von Zola bis Sartre die Intellektuellen sich stets für die „Verdammten der Erde und die Verfolgten“ eingesetzt hätten, träten jetzt „Polemiker“ wie Michel Onfray, Alain Finkielkraut oder Michel Houellebecq in den Vordergrund; besonders ärgert sich Truong über einen gewissen Eric Zemmour, der den Achtundsechzigern das „Tryptichon Lächerlichmachung, Dekonstruktion, Zerstörung“ (dérision, déconstruction, déstruction) entgegenschleudert, mit dem sie Frankreich an den Rand des Abgrunds gebracht hätten.

Truong ruft in seiner Einleitung zu einer neuen Verantwortung der Intellektuellen auf, angesichts der „Attentate von 2015, der  Flüchtlingskrise und der Dekonstruktion von Europa“.  Er fragt: sollen sie  sich bemühen, die Komplexität der Wirklichkeit zu verstehen und ihre Worte im derzeitigen explosiven sozialen  Umfeld sorgfältig zu wählen? Oder sollen sie im Gegenteil alles möglichst vereinfachen, sozusagen das Messer in der Wunde umdrehen? „Erleben wir derzeit bei den linken Intellektuellen eine Verleugnung der Wirklichkeit oder geht es um ein Abdriften der Schreiberlinge nach rechts?“ fragt Truong.

Zwanzig Meister der Feder äußern sich; ich habe alle gelesen. Wollte ich mich mit jedem einzeln auseinandersetzen, bräuchte ich viel Zeit und Platz. Weil ich meine Leser und Leserinnen hier nicht strapazieren will,  picke ich mir heraus, was mir besonders aufgefallen ist: Ich sehe gewisse Unterschiede zwischen Frankreich und Deutschland, während Truong von einer „Einzigartigkeit“ der intellektuellen Landschaft in Frankreich ausgeht. So groß sind die Unterschiede aber gar nicht.

Das nationalistische Denken einer wachsenden Zahl von Bürgern unterscheidet sich hier und dort durch historisch gewachsene Nuancen, gewiss; aber der Gegensatz zwischen Komplexität und ihrer behutsamen Darstellung und der polemisch gefärbten Vereinfachung besteht hier wie dort. Der Gegensatz zwischen Menschenrechten und dem Pochen auf die Privilegien der Einheimischen ebenfalls.

Besonders im Gedächtnis blieb mir aber der häufige Hinweis der Autoren, dass sich die „Rechten“ einer Bedrohung ihrer „Virilité“, ihrer Männlichkeit, ausgeliefert fühlten. Die Virilité erscheint da gewöhnlich etwas nebensächlich, und damit ist das Anliegen in der Vorstellung der Verfasser anscheinend auch erledigt.

Darin sehe ich einen großen Irrtum, ja, den entscheidenden Irrtum. Von IS bis AfD liegt dem geäußerten Unbehagen eben dies zugrunde: die Angst der Männer, ihre „männliche“ Identität zu verlieren. Nur: rechtsrheinisch kommt das Wort „Männlichkeit“ in ernsthaften Äußerungen nicht vor; in Frankreich darf es immerhin genannt werden. Ja, auch die AfD, trotz ihres weiblichen Führungspersonals, vertritt ein Verbot der Abtreibung und will Mütter zurück ins Haus schicken.  Es geht um die politische und soziale Stellung der Frauen in der künftigen Gesellschaft.

Haben die Frauen das schon bemerkt? Wie reagieren sie darauf? In dem Büchlein von Truong: überhaupt nicht. Roudinesco setzt sich mit dem Totalitarismus auseinander; Gisèle Sapiro greift die Intellektuellen an, die öffentlich in den Medien vor allem deswegen reden, um „sichtbar“ zu bleiben, und nicht um die komplexe Wirklichkeit verständlicher zu machen.  Sie stellt „einen Rutsch nach rechts“ fest („une droitisation“), sie stellt eine steigende Xenophobie fest, sie spricht von „neokonservativ“ und „neoreaktionär“, sie moniert, das hier nur „weiße Männer über fünfzig“ das Wort führen, denen ihre „Sichtbarkeit“ und nicht ihre durch ehrliche Forschungen erworbene Sachkompetenz wichtig ist. Im Grunde der Vorwurf: die Medien sind schuld.

Die dritte Frau in dieser Galerie, Danièle Sallenave, bleibt dafür, dass sie eine Schriftstellerin ist, gefährlich im Allgemeinen stecken; ihr Aufsatz endet mit dem Aufruf: Statt „Gestern war alles besser“ und „Morgen wird alles schlechter“ sollten wir sagen: „Heute kann alles besser werden“. Komisch: nachdem ich ihren Text gelesen hatte, wusste ich überhaupt nicht mehr, was da eigentlich drinstand.

Mit Nicolas Truong und seinen Mannen gehe ich zusammen, wenn es um sorgfältiges Bedenken der Vielfalt und um die Verteidigung der Solidarität geht; wenn er aber Houellebecq wegen angeblicher „Islamophobie“ angreift, dann denke ich: spinnt der? In „Unterwerfung“ stellt Houellebecq die Wirklichkeit dar, mit der Virilität als des Uni-Professors liebste Beschäftigung (mit wechselnden Studentinnen), mit der klaglosen Rückkehr der (alternden) Ehefrau an den Herd, mit der sanften Regierung eines sogenannten Islams, der dies ermöglicht. Er hält den Pariser Intellektuellen einen Spiegel vor, und diese erkennen sich darin nicht! Das ist das Drama, das mir Truong in seinem Büchlein vorspielt. 

 

 


Frankfurt, 6. September

Gestern fühlte ich mich den halben Tag sehr müde, obwohl  keine Hitze mehr den Körper zum Schwitzen zwang. Vielleicht habe ich trotzdem zu wenig getrunken; drei Liter am Tag hätte ich schon gebraucht, aber in den vergangenen Tagen nicht eingehalten. Heute beginne ich den Tag darum mit zwei Litern Mate-Tee - hoffentlich macht mich das fitter.

Zu solchem Trink-Marathon braucht man Zeit. (Das erinnert mich an eine Form der mittelalterlichen Folter an Opfern des Hexenwahns: den Frauen wurde ein Trichter in die Gurgel gerammt und Wasser literweise eingeschüttet. Wenn sie sich dann nicht zu einem Verkehr mit dem Teufel bekannten, starben sie sofort ....)

Also ich nehme mir Zeit und lese in Ruhe meine Luxemburger Wochenzeitung, auf die ich seit Jahrzehnten abonniert bin: "d'Letzebuerger Land". Gestern jährte sich zum 25. Mal meine Ankunft in Frankfurt, vorher wohnte ich lange im Großherzogtum. So bleibe ich dem Land, den Entwicklungen und Standpunkten des Landes verbunden. Vor allem werde ich jede Woche daran erinnert, dass Luxemburg anders tickt als das benachbarte Deutschland, dass man dort die Welt unter einer sehr anderen Perspektive betrachtet. Spannend und anregend ist das, sei es, dass es um die Wahrnehmung von Geschichte geht, oder um die europäische Politik, oder um die mehrsprachige Kultur. Oder die Entwicklung der Luxemburger Uni, die jetzt seit 12 Jahren existiert. Die Zeitung selbst enthält Artikel in mindestens den drei amtlichen Sprachen (luxemburgisch, französisch, deutsch), im Kultur-Bericht über England auch in Englisch. Wenn man diese Wechsel gewohnt ist, merkt man als Leser die Unterschiede oft nicht. Ein Eintauchen in eine andere Welt, über die ich mich allerdings dann mit kaum jemandem austauschen kann: mit meiner deutschen Umgebung nicht, und mit den alten Luxemburger Freunden auch nicht, weil ihnen meine bundesdeutsche Perspektive fehlt. Und weil es mir inzwischen oft schwer fällt, mich in ihre rein luxemburgische Perspektive einzufühlen, die ihnen so selbstverständlich ist.

Das ist die größte Herausforderung derzeit: sich in die Welt der andern hineinzufühlen. Ob mit Flüchtlingen oder mit älteren Leuten, deren Sozialisierung unter gänzlich anderen Umständen vor sich ging als die meine. Da fällt es mir oft leichter, mit Jüngeren zu plaudern, weil wir zumindest die Gegenwart gemeinsam haben ....

 

 

 

 

 

 

 



Frankfurt, den 28. August

Meine Worte von gestern schwirren mir nach wie vor im Kopf herum. Stoßen auf Nachrichten über "Burkinis", also Badeanzüge, die den ganzen Körper bedecken und die französische Städte am Strand verbieten wollten. Ein nationales Gericht untersagte ihnen das. Ich sehe Interviews mit schönen Kopftuchträgerinnen in deutschen Städten: aus der Auswahl der Antworten scheint hervorzugehen, dass die Eltern das gern so wollten .... doch wird die Eleganz des Faltenwurfs, der Umschlingungen, der Seidenstoffe dabei nicht erwähnt. Geht es also in Wahrheit nicht nur um eine ANDERE Form des Gesehenwerdens?

Bei Christina von Braun lese ich:... deshalb hängt "das Gefühl der Scham auch eng mit der Geschichte des Sehens und Betrachtetwerdens zusammen". Gleich drauf verknüpft sie das Betrachtetwerden und die Scham mit einem Gefühl von Verletzbarkeit. Fände man darin nicht gute Gründe für eine Verhüllung?

Und hieße das nicht, dass die Art von verschworener Gemeinschaft, wie man sie in den Saunen entdecken kann, eben gerade in ihrem Zusammenhalt ihre Mitglieder gegen gewisse Verletzungen schützen soll?

Von Brauns Buch hat ca 670 Seiten, ich lese seit fast zwei Jahren darin und habe es noch nicht ausgelesen. Es heißt "Versuch über den Schwindel", und wenn man bedenkt, wie zweideutig (mindestens) das Wort 'Schwindel' ist, kriegt man eine Ahnung von der Vielfalt der Gedanken. Schwindelerregend und nur mit Muße zu verkraften.

Die gegenwärtige Hitze verschafft mir das Gefühl von Muße. Gestern fuhr ich ein Stück mit dem Auto, und alles, was ich während der Fahrt sah, was mir begegnete, gewann eine mythische Aura, eine körperliche Lebendigkeit, ja, eine Einmaligkeit, dass meine Gedanken dabei klarer und stärker wurden. Und meine Fahrtüchtigkeit empfand ich ebenfalls als klar und sicher, dass es eine Freude war, und Dankbarkeit erfüllte mich.

Ein großer Sommer.

 

 

 

Frankfurt, den 27. August

Am 26. August in Darmstadt bei ca. 30° C öffentlich vorgetragen (im Rahmen der POSEIDON-Lesung bei einem abendlichen städtischen Kulturfest):

 

Nackicht

Essay

 

Als ich Kind war, pflegte meine Mutter mit mir in ein „Felke-Bad“ zu gehen. Das war ein „Luftbad“, in dem nackte Frauen auf Wiesen, unter Bäumen umherspazierten, sich sonnten, sich unter der Dusche wuschen, oder ihren Kindern was zu essen gaben, das sie von zuhause mitgebracht hatten. Das Nacktsein war dort eine  Selbstverständlichkeit, ich verschwendete keinen Gedanken darauf. 

Im Heranwachsen wurde ich irgendwann prüde. Ich kann keinen bestimmten Zeitpunkt dafür nennen.  Wenngleich ich mit  Brüdern aufwuchs. Sonst fast nur unter Frauen.  Da ist nichts Missbräuchliches passiert.  Das sage ich nicht so leichthin, schließlich habe ich eine richtige feministische Laufbahn hinter mir, mit dem Frauen-Gesundheitszentrum in Berlin zum Beispiel, das unter anderem  lehrte, wie Frauen selbst ihre Vagina betrachten können (mit einem Spiegel) und welche Missbrauchsmöglichkeiten existierten (unzählige).  Es gab eine Menge Gelegenheiten, verdeckten  Missbrauchserinnerungen hinterher zu pirschen.  Ich fand keine.

Was anderes war es natürlich mit den Zurück- und Herabsetzungen,  mit denen das heranwachsende Mädchen konfrontiert wurde. Die als natürlich und gegeben dargestellt wurden, wie Hausarbeit und  niedrigen Verdienst beim Jobben, wie geringere Ausbildung und die Notwendigkeit, den richtigen Mann zu finden. Die Spottverse auf „alte Jungfern“.  Die Lust von halbwüchsigen Jungen, Mädchen physisch anzugreifen oder wenigstens zu bedrohen, immer in Gruppen.  Solche Erfahrungen führten mich schließlich zu den Feministinnen, und die Höhepunkte der weiblichen Selbstbehauptung erlebte ich im „Frauentheater“ , in dem ich viele Jahre lang treu mitarbeitete.  Nicht sich als „Opfer“ darstellen,  hieß es bei uns, sondern die verschiedensten Rollen selbst entwickeln,  uns  befreien von der Dualität zwischen Hure und Madonna,  die sich im „alternativen Theater“ der Männer immer noch tummelten. Freude beim Erfinden solcher Rollen spüren und  diese Freude dem Publikum vermitteln! Das Publikum zum Lachen bringen! Richtiges, echtes Theater wollten wir machen, und für eine Zeit gelang das auch. Allmählich erhoben sich jedoch die Differenzen innerhalb der Gruppe, die Meinungsverschiedenheiten zwischen den Frauen wuchsen, für die es noch keine Ausdrucksmöglichkeiten gab, und für die wir keinen gemeinsamen Ausweg fanden.  Nach neun Jahren explodierte die Gruppe von innen.

Nackte kamen in unseren Aufführungen nicht vor.  Nacktsein war kein Thema. Als Nackte wären wir pornografisch erschienen, wären als sexistisch verschrieen worden,  hätten dem Ansehen der Frauen geschadet. 

Heute, 25 Jahre später, lese ich über Frauen, die ihre Selbstdarstellung als Nackte in der Öffentlichkeit  - den sozialen Medien – als eine Entsexualisierung des Frauenbildes begreifen, und damit als Befreiung. Ich staune.  Freilich, es sind beleibte Frauen, die in den USA „fat femme“ genannt werden. Sie nehmen für sich in Anspruch, auf diesem Weg Selbstbewusstsein und psychische Kraft zu gewinnen.  Sie wollen sich in dem Körper, der der ihre ist, behaupten. Sie wollen die Schönheitsideale auf den Laufstegen und in den Kosmetik-Annoncen als unterdrückerisch  entlarven.  Sie gehen einen ganz neuen Weg der Emanzipation, so scheint es mir. 

Mir in meiner Prüderie nützt das nicht. Soweit wie die „fat ladies“ bin ich noch nicht.  Nicht fett, nur alt. Dennoch: dieser Tage wagte ich mich zum erstenmal in meinem Leben in eine gemischte Nacktsauna. Das ist eine öffentliche Sauna, in der man nur nackt erscheinen darf, nicht im Badeanzug, und in der sich Männer und Frauen gleichzeitig im selben Raum aufhalten.

Zuerst war ich ganz allein dort. Im Saunabetrieb gibt es ein Ritual, das heißt „der Aufguß“.  Als ich draußen vor der Tür mehr und mehr Stimmen vernahm, wusste ich schon: es naht die Stunde des Aufgusses.  Kurz drauf traten mehr als ein Dutzend Personen ein,  Frauen, Männer, verschiedenen Alters, alle mit einem Handtuch um die Hüften, oder über der Schulter, oder über dem Arm. Auf solch ein Handtuch muss man sich setzen, das verlangt die Hygiene. Die meisten nahmen auf der untersten Reihe der Bänke Platz, oft ganz dicht nebeneinander. Einige stiegen höher.  Sie benahmen sich still und bescheiden. Es folgte ein Mann mit einem karierten Umschlagtuch um die Hüften und brachte allerlei Gerät mit,  darunter Eimer, eine Kelle. Er wedelte mit einem Handtuch Luft durch die offenen Türen. Nach kurzer Zeit schloss er die Türen und stellte sich vor. „Ich heiße Bernd. Dies ist ein Melissenaufguss.“ Dann griff er zu Eimer und Kelle, schöpfte Wasser aus dem Eimer und goss es mit den pathetischen Gesten eines Sämanns über die erhitzten Steine, bis dort an allen Stellen ein Dampf aufgestiegen war. Darauf entfaltete er einen riesigen Fächer, wohl 80 cm hoch, und wedelte gewissenhaft allen Anwesenden die melissengeschwängerte Dampfluft zu - alle  auf den unteren, den mittleren und den oberen Bänken Sitzenden erhielten ihren Anteil.

Ich muss gestehen, ich blieb nicht bis zum Schluss. Ich hatte schon vorher meine zehn Minuten Sauna hinter mich gebracht, und ich hatte genug. 

So muss ich warten, bis mich ein nächstes Mal der Mut packt und ich in eine solche Sauna zurückkehre. Auch wenn ich mich dafür der Menge  werde anschließen müssen, die bis zuletzt nackt vor der Tür der Sauna wartet, um nachher nichts von dem ganzen  Aufguß-Ritual zu versäumen. 

Oder wechsle ich stattdessen meine Meinung , wie es ja heute öfter geschieht, und stelle mich hinter meine Prüderie? Abwarten, es wird sich zeigen!

 

Frankfurt, den 26. August

Eigentlich bin ich diesen Sommer nicht verreist (es war trotzdem sehr schön); faktisch war ich im Juni drei Tage in einem "Wellness"-Hotel in Westfalen (eine Entdeckung), im Juli in Mutterstadt in der Pfalz bei uralten Freunden (erstes Wiedersehen nach 40 Jahren!), zweimal in Offenbach zum reformierten Gottesdienst, einmal in Düsseldorf bei einer Geburtstagsfeier; im August führte ich vier Tage lang amerikanische Freunde in Frankfurt und der Umgebung herum; danach verbrachte ich 5 Tage in Nürnberg bei einer Feldenkrais-Fortbildung; mit einer sehr guten alten Freundin kehrte ich noch mal für zwei Tage in das westfäische Wellness-Bad zurück;  gestern und heute habe ich eine Lesung (in der Gruppe: heute mit der Literaturgruppe POSEIDON in Darmstadt).

Gestern trat ich mit dem "Literaturclub der Frauen aus aller Welt" in Karben auf, wo ein literarischer Verein besteht, der regelmäßig und erfolgreich zu Lesungen im Hinterhof eines Renaissance-Schlösschens einlädt. Auch gestern war der Saal gerappelt voll, das Thema hieß: "Verlust der Heimat". Ich las meine Fluchtgeschichte "3 Sommer", eine Erzählung, in der ich die Entwicklung eines Kindes zum jungen Mädchen während der Vertreibungen in den drei Sommern nach Weltkrieg II begleite.
Nach zwei Jahren Flucht ist kein Kind mehr dasselbe, das es am Anfang war!

Ich nützte bei der am Ende möglichen Diskussion die Gelegenheit, auf die Ausstellung im Frankfurter "Museum der Weltkulturen" hinzuweisen, wo Zeichnungen von Flüchtlingskindern aus Berlin gezeigt werden, als Antworten auf die Frage "Zeig mir, wo du herkommst". Ein Künstler hatte sie beim Zeichnen angeleitet. Es sind Kinderzeichnungen, nicht direkt von künstlerischem Wert, auch nicht eigentlich aus dem ethnologischen Gesichtswinkel zu erfassen. Sie machen den Besuchern aber augenfällig, dass Flüchbtlinge existieren, dass sie Schlimmes erlebt haben, dass sie hier ankommen und sich zurechtfinden, mehr oder minder. Dass sie Unterstützung und Wertschätzung erhalten. Der Oberbürgermeister betonte das bei der Eröffnung: Die Ausstellung spricht auch für unsere Stadt! Sie ist ein Beispiel für das Tun allerorten in der Republik. Ich dachte: Auch wenn der Künstler selbst vielleicht die Tribüne mehr nutzen konnte als die Kinder. Im September wird eine Kindertherapeutin vom Sigmund-Freud-Institut darüber sprechen, was solche Zeichnungen mit den Kindern machen, machen können. Die Ausstellung soll Anstöße zu vielerlei Diskussionen bieten.

Unsere Lesung in Karben wurde ergänzt von Medienberichten, durchaus kritischen, was aber nach unseren sehr sensiblen und insgesamt versöhnlichen Prosa- und Lyrik-Texten dem Abend eine Vollständigkeit verlieh.

Die einzige Schwierigkeit: nach einem solchen Abend kann ich schlecht einschlafen, brauche eine längere  Ruhezeit, um mich abzuregen .....

Ich muss mir die Zeit dafür nehmen.

Meinen Text von heute Abend werde ich morgen hier einstellen!

 

Frankfurt, 28. Juli

Heute spreche ich über ein Buch, das mir unversehens ins Haus geflogen kam. Es heißt:

SCHWEIGEGOLD

ein Erzählband von Wendel Schäfer

 

Vor Jahren klagte jemand darüber, dass es kein „Originale“ mehr gäbe. Alle strebten danach, ernst genommen zu werden, man passe sich an. Wenn ich nach einem Original aus meiner Jugend suche, dann fällt mir Herbert Wehner ein. Allerdings verfügte Herbert Wehner über so viel Macht, dass er gleichzeitig gefürchtet wurde.  Heute ist es so weit gekommen, dass einer, der die Welt durch eine eigene Linse betrachtet, gleichzeitig dafür Sorge tragen muss, dass er nicht in eine „Geschlossene“ eingeliefert wird. Eigentlich müsste er immer zwei Linsen dabei haben und damit ständig jonglieren.

Wendel Schäfer, meine Generation, weiß als Autor noch, wie Originale aussehen. Er vermag sich in sie hinein zu versetzen, ja, vielleicht mit zunehmender Lebenserfahrung findet er eine umso tiefere Freude an solchen sanften Verrücktheiten.  Die sich auf dem Lande, wo Schule keine Selbstverständlichkeit war – und wo Kinder oft als „kapiert sowieso nix“  von vornherein im schulischen Sinne aufgegeben wurden – also diese leichten Verrücktheiten konnten sich in der bäuerlichen Umgebung etwa des Hunsrück (wo Schäfer herstammt) über die Jahre ordentlich entwickeln und den erwachsenen Menschen prägen. Einen Dorfnarren nannte man ihn oft, aber das war noch 19. Jahrhundert.

Wendel Schäfer veröffentlicht 2016 einen Band mit kurzen und sehr kurzen Geschichten über Menschen, die sich absondern, die ihrer Umgebung unverständlich vorkommen und gleichgültig links liegen gelassen oder gemobbt werden. (Schäfer gebraucht diesen Ausdruck nicht; denn das kam schon immer vor.) Durchweg hat es auch bei diesen Figuren schon in der Schule gehapert, was für „Normale“ ein hinreichender Grund ist, um sie nicht weiter zu beachten. Oder sie, wenn es passt, für ihre Zwecke zu benutzen. Wendel Schäfer beschreibt unnormale Menschen, welche eigene Ziele verfolgen. Das macht sie dem Leser interessant, dass sie was wollen. Schäfer stellt das so fein ziseliert dar, dass wir Lesende rasch begreifen, worum es dem einsamen Menschen eigentlich geht, dass auch wir uns hineinfühlen und mit ihm fiebern oder leiden.

Es sind Männer, und jeder dieser Hauptfiguren hat seine Individualität, ist ein eigener, unverwechselbarer Charakter.  So dass wir mit jeder dieser kurzen Erzählungen in immer neue Überraschungen geraten. Einmal tritt auch eine Frau auf. Sie ist alt, besitzt ein eigenes Haus und trinkt. Trinkt ganz unmäßig, und die ganze Trinkerei ist alles, was über ihren Charakter dargestellt wird. Wir erleben keinen lebenden Menschen mit ihr, nur ein Schema. Jedoch ermöglicht das Haus einen männlichen Gast, und dieser erweist sich nebenbei als ein begnadeter Musiker. Der aus der Unzahl der leer gesoffenen Schnapsflaschen rund um das Haus eine Windorgel bastelt, die schließlich die Nationalhymne erklingen lässt. Vor Schreck fällt die Frau aus dem Fenster.

Wie Wendel Schäfer mit der Sprache umgeht, das lässt sich durchaus mit dieser Windorgel vergleichen. Ein unendlich feines Gehör braucht man dazu, und wenn gewiss bei Schäfers Kurzgeschichten auch keine Nationalhymne herauskommt, so beschreibt der Dichter doch seine Heimat, die Dorfwelt, die Enge der Kleinstadt, beschreibt sie mit Liebe und Mitgefühl für die Träume und die unerfüllten Sehnsüchte jener Bewohner, denen es nicht gelang, sich aus der Enge zu befreien. 

Wenn er Frauen als Individuen ausspart, so entspricht auch das dem Geist der Zeit und des Ortes, wo Wendel Schäfers Narren vor- und herkommen. Ein feinsinniger und lesenswerter Blick zurück in die Vergangenheit.

 

 

 

 

 

Wendel Schäfer „Schweigegold“, Kurzprosa.

Edition Krautgarten, 2016. Mit vier Grafiken von  Michael Schaffer

Frankfurt, den 26. Juli

Was für ein schöner Sommer! Kein Tag wie der andere; jeder zeigt sein eigenes Gesicht. Seit über einer Woche schwankt die Temperatur um die 30° -Marke, mal höher, mal tiefer. Es ist schwül. Manche Leute vertragen das nicht. Mir bekommt es glänzend.

Ich gehe aus - letzen Sonntag nahm ich an einer Führung in der französisch-reformierten Kirche in Offenbach teil; der emeritierte Archivar vom "Haus der Gschichte", Herr Ruppel, kann so großartig vielfältig und kundig erzählen: Baugeschichte der Kirche, Geschichte der Hugenotten und alles, was damit zusammenhängt. Ich schreibe an einem Gedicht über dieses eindrucksvolle Kirchlein und werde auf das Thema zurückkommen.

Heute Abend besuche ich einen Vortrag - oder ein Gespräch? - über "Frauenbewegungen in Nordafrika und Nahost".

Über die Attentate will ich hier nicht reden. Wichtiger sind Demokratie, Neugier, sprich Wissensdurst / Wissenslust.

 

Frankfurt, den 24. Juli

Black lives matter

Gestern war ich auf einer Demo, die unter diesem Motto an der Hauptwache stattfand. Den Satz mag ich nicht, er riecht nach Rassismus – haben wir nicht gelernt, und steht es nicht in unserer Verfassung, dass JEDES Menschenleben Achtung verdient? Dieser Satz aber geht von der Voraussetzung aus, dass dies nicht gilt. Offenbar spricht er besonders US-Bürger an. Folgerichtig wurde auf der Versammlung gestern vor allem Englisch geredet. Die wichtigsten Ansagen wurden auch ins Deutsche übersetzt; die Anwesenden sollten sich einen Papierschnipsel aus einer Plastiktüte ziehen, auf dem ein Name mit Geburtsdatum stand, sowie das Datum seiner Ermordung durch die US-Polizei. Sodann wurde jeder gebeten, den Namen laut auszusprechen und sich dann lang auf den Boden zu legen, oder wenigstens hinzusetzen, als Zeichen dafür, dass der genannten Person für immer die Stimme genommen worden sei. Etwa acht Polizisten standen misstrauisch im Hintergrund, nach einer Weile gingen sechs fort, um über die Sicherheit auf der Zeil zu wachen.

Auf der Demo traf ich keinen Bekannten, auch nicht den Freund, der mich eingeladen hatte (oder die Info an mich weitergeschickt). Er ist Afrikaner, und wahrscheinlich versammelten sich gestern nur Afro-Amerikaner. Dazu Deutsche. Ich sprach einen jungen, bleichen, blonden Deutschen an, was er mit “FIGHT“ auf seinem T-shirt meine. Gegen was er kämpfe? Er kämpfe FÜR etwas, erwiderte er stolz, nämlich für Solidarität. Ich beharrte: Solidarität gegen wen? Für ihn bedeutete „kämpfen“ offenbar das Gleiche wie „für etwas sein“. Ich gab auf und setzte mich auf eine Bank, um meine Knie ausruhen zu lassen. Eine ältere, sorgfältig gepflegte Dame, die auch da saß, fragte mich säuerlich, auf die Ansammlung hinweisend: „Was ist das da?“ Engagiert erwiderte ich: „In Amerika schießen Polizisten Mitbürger tot, bloß weil sie schwarz sind. Dagegen wird hier protestiert.“ Sie meinte, es gäbe hier überhaupt viel zu viele Fremde. Ich: „Aber das war in Frankfurt doch immer so! Eine Messestadt! Mir gefällt das, deswegen bin ich vor über zwanzig Jahren hierher gekommen! Ist doch viel interessanter, wenn nicht alle die gleiche Sprache sprechen.“ Sie schwieg. Ich spürte aber keine Feindseligkeit. Als ich schließlich fortging, winkte sie mir freundlich lächelnd zum Gruß. Sie blieb noch sitzen.

Ich verabschiedete mich vor dem Ende der Veranstaltung. Diese war in das gemeinsame Rufen von Parolen gemündet. Alle standen wieder, der Vorsprecher rief ins Megafon „Black lives matter“ und im Chor sagten es alle nach; es folgte „no justice, no peace“ und eine ganze Menge anderer solcher Schlagwörter. So heizte sich die Stimmung auf, es entstand Gemeinschaftsgefühl. 

Mir war nicht wohl dabei. An wen richtete sich das Ganze? Was wollte man erreichen? In der taz las ich nachher von einer in der USA tobenden Debatte zwischen der Bewegung „Black lives matter“ und einer anderen Denkrichtung, wonach die herrschenden Spannungen vor allem auf soziale Unterschiede zurückzuführen wären. „Der schwarze Durchschnittshaushalt verlor zwischen 2005 und 2010 ganze 59 Prozent des Vermögens, der weiße nur 18 Prozent“, lese ich da. Auch die jahrelange Vernachlässigung der Armen insgesamt hat Folgen. Davon aber, so schreibt die taz-Reporterin, wollen die „Black-lives-matter“-AktivistInnen nichts wissen.

Im Internet finde ich noch keinen Bericht über den Verlauf der Demo. Wird wohl friedlich ausgegangen sein.

 

Frankfurt den 19. Juli

Die verflixte Vorsilbe „ver“-

Manchmal hörte ich Leute behaupten, sie fürchteten sich nicht vorm Tode, denn dann wären sie ja tot und merkten nichts mehr davon. Da wären nur die Lebenden die Leidtragenden. Doch vor dem Sterben hätten sie Angst. Denn beim Sterben lebt man noch. Was würde sie dabei erwarten?

Besser, man denkt gar nicht daran. Seit ein paar Jahren fällt mir auf, dass in Gesprächen das Wort „verstorben“ gebraucht wird. „Der und der ist verstorben,“ mit Trauermiene. In mir krümmt sich dann jedesmal etwas, und ich weiß nicht, was es ist. Vor noch nicht langer Zeit „starb“ man, es hieß dann: „Hast du schon gehört? Der und der ist gestorben, ganz plötzlich.“ Seit einiger Zeit aber scheint man nur noch zu „versterben“.

Ich versuche, mir das zu erklären, mein Unbehagen ebenso wie diese Veränderung in der Umgangssprache.  Was bedeutet die Vorsilbe „ver“-? Zuerst schlage ich im Duden nach und stelle fest, dass „ver“- sich auch mit Adjektiven oder Substantiven verbindet wie „verarmen“ oder „verstädtern“. Mit Verben wird es komplizierter, da wechselt die Bedeutung  in unerwartete Richtungen. Zum Beispiel bei „denken – verdenken“, wo das Denken sich in ein Übelnehmen verwandelt. Ach: „wandeln – verwandeln“ – was geschieht da? „Wandeln“ ist allgemein und mehrdeutig, „verwandeln“ aber geht von einer bestimmten Gestalt in eine bestimmte andere über. Es wird konkret.  Das gilt auch für „verbuchen“ – ein bestimmter Betrag wird an  einem bestimmtem Ort der Buchhaltung eingetragen, also „verbucht“, während „buchen“ etwas Allgemeines bezeichnet. Ebenso bei „binden“ und „verbinden“.

Bei „sich irren“ und „sich verirren“ bezieht sich die eine Tätigkeit nur auf das Innere des Subjekts, während die andere vom physischen Ort de Subjekts handelt. Wie steht es mit „sagen-versagen“? Eine Art von Gegenteil, aber von anderer Art als „schweigen“. Und was hat ein "Versager" mit "sagen" zu tun? Daraus ließe sich eine ganze Geschichte aufbauen. „Bergen-verbergen“ läuft ebenfalls auf Gegensätzliches hinaus, indem man in dem einen Fall etwas ans Licht holt, es im andern Fall ins Dunkle zieht. Ich wollte schreiben „es versteckt“, doch da hätte ich schon wieder eins der unberechenbaren „ver“-Wörter: „stecken-verstecken“. Verstecken heißt „verbergen“; könnte man es auch im Sinne von „falsch stecken" benutzen? 

Ehe ich ins Wortschöpferische abschweife, will ich lieber zu meiner Anfangsfrage zurückkehren. Aufmerksam machen für Nuancen, für die Vielfalt der Sprache, das ja. Aber nicht Vollständigkeit anstreben.  Also: wie unterscheidet sich „sterben“ von „versterben“? Anscheinend gar nicht. Der Duden vermerkt unter „versterben“, es heiße „sterben“ und gehöre zur gehobenen Sprache. Aber ist es wirklich dasselbe? Kann man statt „Großvater liegt im Sterben“ denn sagen, er läge „im Versterben“? Genau! „Versterben“ verträgt keine Gegenwart. Man ist immer schon tot, wenn das Wort auftaucht. Das Verb gebraucht sich ausschließlich in der Vergangenheit. Diese Vermischung vom Tod mit dem Leben , wie sie im Wort „sterben“ erscheint, mag in der Konsumgesellschaft keiner mehr, denke ich. Entwederoder heißt die Devise.  Zumindest verbal umgeht man so das gefürchtete Sterben.Es passt sich dem allgemeinen Opportunismus an.

 

 

Frankfurt, den 16. Juli

Wem kann man vertrauen?

 

Vertrauen – wem kann ich trauen? Von wem darf ich erwarten, zumindest erhoffen, dass er -  oder sie - mich nicht hintergeht, mich nicht belügt, mich nicht betrügt, oder auch, dass er/sie eine Schwäche von mir nicht zu seinem Vorteil und gegen mich ausnutzt?

Eine große Frage unserer Zeit.

In den Zusammenhang gehört auch die Frage:

Wie kann jemand sich politisch äußern und dabei die Wahrheit sagen? Zumindest nicht die Unwahrheit?

Solche Fragen wirbelten durch meinen Kopf, als ich  jüngst einer Versammlung meiner sozialdemokratischen Parteigruppe beiwohnte. Es ging dort nur um die Besetzung kleiner Ehrenämter, um die sich all die Jahre kaum einer bemüht hatte. Plötzlich sonnten sie, die Ehrenämter, sich in einem Kampfstatus, einem Symbolwert

Erst als einige der Kandidaten nur 1 Stimme erhielten – das war die meine – wurde mir bewusst, dass die meisten derer, denen ich vertraue, nicht anwesend waren. Hingegen wurde hier über Abwesende offen negativ geredet. (Diese médisance, die ich für eine Krankheit halte...) Sachverhalte wurden schief oder falsch dargestellt, und keiner nahm Anstoß daran, im Gegenteil, manche nickten befriedigt.

Vor zwei Jahren gab es in dem Verein einen schweren Zwist, der offenbar bis heute nicht beigelegt ist. Es ging um Macht, genauer gesagt, um eine Kandidatur für die Landtagswahlen. Es waren zwei Personen, die darum kämpften, und nur eine konnte gewinnen, d.h.das Recht, im Namen der Partei zu kandidieren, zugesprochen bekommen. Der Gewinner starb kurz vor der Landtagswahl, so hatten beide verloren.   Diese zwei aber hatten Anhänger. Unter den Anhängern schwelt seither der Kampf weiter.  Nur mühsam kratze ich un-polemische Worte zusammen, in die ich das Dilemma kleiden könnte. Persönlich finde ich die andere Seite opportunistisch, d.h. es geht dort um Anerkennung für verdiente alte Parteisoldat(inn)en, um Jobs für die Jüngeren, um ein Weiter-so-wie-immer.  Keine politische Linie. Kein Interesse für die großen Probleme unserer Zeit: Neo-Liberalismus, Europa, Krieg,  sich weitende Einkommensschere.  Keine Diskussion, eher selbstzufriedener Tratsch.

Das macht mich krank. Und ich ziehe mich zurück.  Vor einem Jahr, als der Zank noch wogte, fragte ich eine ehemalige Kulturdezernentin, warum sie beim Höhepunkt des Zwistes  gehässige Schimpfwörter gebraucht hatte, die doch keiner Wirklichkeit entsprachen? Sie zuckte spöttisch mit den Schultern: „Das machen doch alle.“ 

Mich fröstelte.

Welche eine Freude hingegen, Gesine Schwan anzuhören!  Ihre Kraft, ihre Zuversicht zu spüren!  Es waren die Frankfurter Jusos, die sie am 1. Juli eingeladen hatten. Sie sprach über Europa, sie setzte sich dafür ein, dass die Kommunen näher an die EU-Gremien herangeführt werden. Dafür hat sie mit anderen ein Projekt unter „Europa neu gründen“ entwickelt, als SPD-Projekt.

In Frankreich starb vor kurzem Michel Rocard. Er gehörte der sozialistischen Partei an. Als er Ministerpräsident war (unter Mitterand), fiel er mir auf als jemand, der sich bemühte, auch als Politiker immer die Wahrheit zu sagen.  Heute wird er in den Nachrufen gerühmt als jemand, „qui disait vrai“, als einer, der ehrlich war. 

Wie macht man das, ehrlich bleiben? Als Politiker, und überhaupt?  Eben: Vertrauen schaffen? Wie erreicht man das?

 

 

 

 

Frankfurt, den 3. Juni 2016

Den Welzer kann ich immer nur in kleinen Abschnitten lesen. Nicht dass er schwer verständlich wäre wie ein Philosophenbuch, oder dass er langweilig geschrieben wäre, nein, nein, er ist eingängig und in flüssigem, leichten Deutsch verfasst. Und dennoch: nach einigen Seiten habe ich genug und lege das Buch beiseite.

Es ist kein Wälzer, hat nur knapp 300 Seiten; aber sein Autor heißt Welzer, Harald Welzer; dieser ist Professor "für Transformationsdesign" an der Universität Flensburg und noch vieles anderes. Mit seinen 57 Jahren hat er schon viele Bücher veröffentlicht; das jetzige trägt den Titel: "Die smarte Diktatur - Der Angriff auf unsere Freiheit". 

Er spricht nicht nur im eigenen Namen, er beruft sich unter anderem oft auf Saskia Sassen, eine amerikanische Professorin hohen Ranges, die sich kritisch mit Herrschaftsverhältnissen in der Gegenwart auseinandersetzt. Und genau das tut Harald Welzer auch. Wie sich die Macht immer stärker in den Händen von wenigen sammelt, die Macht und das Geld; wie sich der marktwirtschaftliche Kapitalismus unversehens in  eine neue Feudalherrschaft verwandelt, mit Herren und Knechten, mit wenigen im Luxus Schwelgenden und vielen hungernden Elendigen, deren höchste Chance in einem neuen Sklaventum besteht.

Wie gesagt, ich hab das Buch noch nicht ausgelesen, hab noch nicht mal die Hälfte geschafft. Die Aussichten, die es bietet, sind so extrem deprimierend, dass ich sie nur häppchenweise vertrage. Neulich trat Welzer hier in Frankfurt auf, um sein Buch vorzustellen; er forderte die Anwesenden auf, ihr Smartfon beim Rausgehen abzugeben ..... Es war eine Provokation, die das gewiefte Publikum lächelnd und wohlwollend abtat. Alle verstanden ihn,  doch gab  es außer denen, die eh kein Smartfon besaßen (vermutlich eine Minderheit) niemanden, der darauf einzugehen bereit war. Eine junge Frau, möglicherweise hochbegabte Studentin, verwies in einer flammenden Rede dem Autor, der ihr Vater hätte sein können, seine Forderungen irgendwie als weltfremd und irreal, und hätte nichts dagegen gehabt, wenn ein Herausgehender ihr sein Smartfon geschenkt hätte, weil sie selbst es sich nicht leisten konnte.

Ich werde das Buch vielfach weiterschenken, mehr fällt mir nicht ein .... Doch: es zuende lesen.

 

Frankfurt, 29. Mai

Hinter mir liegen vier reiche Tage in Triest. So intensiv erlebte ich diese Tage, dass jeder einzelne von ihnen mir fast wie eine Woche vorkam. Am einfachsten beschreibt sich noch die Stadt selbst - eine italienische Hafenstadt. Dachte ich, denn ich kannte Venedig und Neapel, wollte mir im vorhinein kein Bild machen. Meine Überraschung im Anblick der Wirklichkeit verrät, dass ich mir doch ein Bild gemacht hatte.

Triest, eine Stadt von ca. 205.000 Einwohnern, breitet sich hauptsächlich am Hang aus, an mehreren Hängen, beginnt am großzügig flachen Ufer.  Aus dem Mittelalter blieb stellenweise ein sehr dichte Bebauung, in Gassen, mit sechs-, siebenstöckigen Gebäuden. Nach gut hundert Metern geht es hügelaufwärts, wir stoßen auf ein römisches Theater; hier wird die Bebauung weniger dicht, bleibt aber immer noch vielstöckig. Der "Golf von Triest" öffnet sich zwischen grün bewachsenen Hügel breit nach Westen und garantiert traumhafte Sonnenuntergänge. Molen erstrecken sich nach Westen, weit ins Wasser hinein, doch lagen keine Schiffe dort vor Anker. Die Hafenbecken leer, die Ladekräne  dem Verrosten nahe, die Depots verfallend. Ich bemerkte erst am nächsten Tag, dass der moderne Hafen, an einer südlich sich zurückziehenden Küste gelegen,  sehr wohl allerlei Aktivitäten unterhält. Und der sogenannte "Alte Hafen", das was ich zuerst gesehen hatte,  soll demnächst zu einem wirtschaftlichen (oder kommerziellen) Zentrum ausgebaut werden. Derzeit wirkte das Leben in der Stadt betriebsam ohne Hetze. Bis zur slowenischen Grenze sind es nicht mehr als 8 km. Viele Inschriften gab es auf Italienisch und Slowenisch. Der unaufdringliche Luxus in der Stadt, ihr historisches Flair und die unbeschreiblichen Sonnenuntergänge würden einen Ferienaufenthalt allemal rechtfertigen.

Mein Aufenthalt bot jedoch mehr. Der internationale Verein der ehemaligen europäischen Beamten hielt dieses Jahr dort seine Mitgliederversammlung ab. Über zweihundert Fachleute für das Europa der EU trafen sich, hörten einander zu, diskutierten, oft durchaus heftig, verabredeten sich. Immer war ihre Verantwortung, oft auch ihre Begeisterung zu spüren. Eine Verantwortung für Europa fordert, über das Ziel einer Gemeinschaft in Frieden hinaus: zuhören, verstehen, vermitteln - das wussten alle aus lebenslanger Erfahrung. Alle waren bedrückt im Gedanken an jenen Teil des europäischen Wahlvolks, dass nichts von Europa wissen will, das nicht zuhört, das nicht wählen geht oder Kandidaten wählt, die zurück in die nationale Enge streben. Alle wussten: nationale Enge führt früher oder später zum Krieg.

Einer erklärte mir etwas, das ich unbedingt weitergeben möchte. Ich hatte nach Argumenten gefragt, nach Argumentationshilfen gegenüber jenen, die wählen gehen würden, wenn sie jemand von der Sinnhaftigkeit des europäischen Gedankens überzeugen könnte. Eigentlich: von der Zweckmäßigkeit der Vorgänge, die wir, die sie als "europäisch" erleben und nicht verstehen oder gar als für sie nachteilig wahrnehmen. Sie haben den Krieg nicht mehr erlebt, das ungestörte Reisen über Grenzen wurde ihnen zur Selbstverständlichkeit; aber wenn etwa die deutschen Umweltstandards von "europäischen" Regulierungen abgeschwächt oder gar verhindert werden, dann steigt Wut auf. Sie müssten also als erstes verstehen, wie Verhandlungen in Europa funktionieren, wer die Verhandelnden sind, welche Interessen  sie vertreten oder gar als vordringlich ansehen. Damit aber würde man sich schon auf einer Ebene befinden, auf die einem nicht jeder folgen mag oder kann. Wie erreicht Europa die Wähler?

Mir hat einer als Einführung (so verstand ichs) den Unterschied zwischen "wählen" und "abstimmen" erklärt. Ich sah bis dahin keinen wesentlichen Unterschied zwischen den Begriffen, gehört alles in das, was "Demokratie" bereitstellt, dachte ich. Nun schäme ich mich geradezu, da mir die gewaltige Differenz deutlich gemacht worden ist. "Wählen" bedeutet, dass der Wähler zwischen einer - theoretisch - unbegrenzten Zahl von Möglichkeiten wählen kann. Wie lang sind oft unsere Wahlzettel! Der Wähler wählt seine Vertreter ins Parlament, in den Landtag, in die Stadtverordneten-Versammlung. Dort entstehen dann Gesetze und Regelungen. Sobald es ans "Abstimmen" geht, geschieht etwas anderes. Abstimmen kann man nur mit "Ja" oder "nein", notfalls kann man sich enthalten.Es werden Regeln ausgearbeitet, über die dei Versammlung abstimmt.

Der Bundeskanzler, so hörte ich, wird nicht "gewählt", sondern er wird von der Mehrheit im Parlament "bestimmt".

Der große Unterschied zwischen "Abstimmen" und Wählen" wurde mir erst nach und nach klar, als ich nämlich an die immer geringer werdende Wahlbeteiligung in den europäischen Ländern dachte. Weil die Leute den Unterschied zwischen Wählen und Abstimmen nicht bedenken, er ihnen nicht bewusst ist,  verwechseln sie die beiden. Indem sie gar nicht mehr zur Wahl gehen - so denken, oder vielmehr fühlen sie - dann stimmen sie mit "Nein".  Sie wollen sich erst gar nicht mit den einzelnen Personen, den Kandidaten, befassen, da sie nicht einschätzen können, was diese Kandidaten tun, tun wollen, tun können und ob sie ihnen nicht gar ein X für ein U vormachen. Die Nichtwähler sehen sich als intelligente Menschen, selbstbewusst, im Sinne von "Nein heißt Nein" vielleicht. Nur dass sie nicht zu artikulieren vermögen, was sie wollen und was dieses Wollen für ihre Stadt, ihr Land und Europa bedeuten würde. Fantasie brauchten sie, Fantasie und Wissen, Geschichtskenntnis, Verständnis für den Reichtum von Vielfalt - und Vielfalt bedeutet nichts anderes als viele Unterschiede -, Einfühlungsvermögen. Bereitschaft zum gegenseitigen Zuhören.

Das sind Eigenschaften, mit denen man nicht geboren wird. Das muss man lernen. Das ist anstrengend.

Eigenschaften, die nicht dadurch entstehen, dass sich alle Geldleute zusammenschließen, um mehr Geld zu verdienen, und alle Armen immer ärmer werden zu lassen. Auch nicht dadurch, dass man für jede einzelne Tasse Kaffee ein Aluminiumtöpfchen öffnet und anschließend in den Müll wirft (diese umweltverschleißende Manier des Kaffeetrinkens herrschte auch in Triest vor), um ein Beispiel zu nennen.

Es geht um Frieden,  und Frieden erreiche ich, erreicht jeder von uns nur, indem er unter Rücksicht auf den oder die oder das Nächste, Nächstgelegene, die unmittelbaren ebenso wie die weltweiten Zusammenhänge erkennt, bedenkt  und bei der Verfolgung von politischen Zielen beachtet. Schiller schrieb: "es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbar nicht gefällt." Wer ist "Der Böse"? Warum ist er böse? Das wird man oft nicht herausfinden, und Soldaten zur Verteidigung bereitstehen zu haben, wird man nicht umgehen können.  In Triest hörte ich mehrere alte Kollegen sagen: "Europa hat den Fehler gemacht, dass es keine Verteidigungsgemeinschaft gründete." Das mag richtig sein, oder nicht; ich glaube eher nicht.

Mein persönlicher Eindruck ist: zu viele Menschen glauben heute an "das Böse". Wenn Kain verständnisvolle Erzieher gehabt hätte, dann hätte er seinen Bruder nicht aus Neid ermorden müssen.

 

 

 

 

 

Frankfurt, den 21. Mai

In der deutschen "Monde Diplomatique" vom Mai schreibt Kathrin Röggla über öffentliche Pöbeleien, ausgerechnet in Bildungskreisen: "... für mich stellt gerade die vermeintliche Harmlosigkeit dieser zunehmenden Pöbeleien einen Indikator dar, einen Indikator für eine gewaltige Schieflage in der öffentlichen Kommunikation. Warum kündigen diese Leute die Veranstaltungskonventionen auf?" Vorher hatte sie gefragt: "muss man sie daran erinnern, dass eine Poiumsdiskussion etwas ist, wo Statements auf dem Podium ausgeführt werden, die dann in einem zweiten Schritt diskutiert werden ...."

Was Ähnliches habe ich vor zwei Tagen zum erstenmal hier in Frankfurt erlebt, und zwar im Club Voltaire. Es gab eine Auseinandersetzung zwischen zwei poetischen Auffassungen, die viel Erregung hervorrief. Ein italienischer Dichter - Ferruccio Brugnaro - las aus seinem Gedichtband "Un pugno die sole, Poesie per sopravvivere" (auf Deutsch erschienen unter "Eine Faust voll Sonne - Überlebensgedichte", Zambon-Verlag). Einfühlsame, manchmal erschütternde Gedichte, die von Ausbeutung und Kampf, von Gemeinschaft und Einsamkeit handelten. Sprachlich bewegten sie sich auf kunstvollem Niveau. Im anschließenden Gespräch erklärten Anwesende, dass sie selbst sich beim Schreiben niemals "frei" fühlen würden , wenn sie dabei eine "Ideologie" vertreten müssten (wie es nach ihrer Meinung der Dichter tat). Sie schöpften ihre "Kreativität" allein aus sich, sagten sie, aus ihrem Inneren, aus ihren Gefühlen. Und wenn sie Leser fänden, denen das gefiele, dann hätten sie alles getan.

Auf Italienisch gilt "sinistra" - "links" - als Audruck einer edlen Gesinnung, als Ort, auf den man stolz sein kann, als ein Standpunkt, der sich um das Gemeinwesen sorgt.Das lässt sich nicht eins zu eins auf Deutsch übersetzen. Da kommt auch keine Ironie vor. Allerdings hatten die in sich selbt Verliebten, die in ihren Gefühlen Badenden, ebenfalls kein Bedürfnis nach Ironie. Und  plötzlich tauchte nun dieser Standpunkt der Pöbelnden auf: eine Frau, die einfach dazwischenschrie, eine Alt-68erin vermutlich, die abgestandene Meinungen in einer übergaren Sprache umständlich von sich gab. Die klagte, auch sie sei Schriftstellerin, und nicht eingeladen. Darum musste sie sprechen, und alles übrige Gespräch unmöglich machen. Schließlich stand der Italiener auf, zornig, entschieden wollte er sich auf so was nicht länger einlassen.

Ich hätte der 68erin gern gesagt, dass Reden nicht genügt, dass man auch zuhören muss - aber ich fand keinen Zugang, war selber aufgebracht und ging wortlos nach Hause.

Danach entdeckte ich den Artikel von Kathrin Röggla, der sich hauptsächlich mit dem Redestil der AfD-ler befasste, der darauf hinausläuft, überhaupt nicht zuzuhören, sondern einfach nur immer das Gleiche zu sagen. (Nämlich den Ängstlichen einzuhämmern, dass ihre Angst aufhören würde, wenn alles Fremde verschwände...) Aber sich eben auch darüber wunderte, wieso dieser Stil sich nun unter sog. Gebildeten breit machte, sie nannte als ein Beispiel die Kölner Philharmonie.Eine Antwort wusste sie nicht.

Wie steht das nun mit der Ironie? Als ich 1991 nach Frankfurt kam, begegnete sie mir als selbstverständliche Kommunikationsweise überall. Ich musste das erstmal lernen, weil manches so gar keinen Sinn für mich ergab. Diese Art von Ironie stellt alles (nein, das meiste) was gesagt wird, unterm Sagen gleich selbst in Frage. Es läuft darauf hinaus, dass man keine Verantwortung mehr zu übernehmen braucht für das, was man sagt. War ja ironisch. Mir wurde das damals sehr deutlich, als ich kurz nach der Wende  in Rostock ein Theaterstück von Schiller sah, das in seiner Inszenierung jeglicher West-Ironie entbehrte und - großartig gespielt - der Zuschauerin die Freude machte, dass die handelnden Personen alles wirklich meinten, was sie  sagten.

Mir scheint, es geht hier um eine Degeneration des Begriffs der Ironie, wie sie etwa Thomas Mann benutzte, und wo sie sinnvoll war. Es geht, vermute ich, anstatt um ein mehrschichtiges Denken, oft um einen  Mangel an Verantwortung, der unter dem Deckmantel "Freiheit" entstanden ist. Von den jüngeren Leuten glauben ja viele, dass Freiheit darin bestehe, ihr Leben über Internet abzuwickeln ....

Die Diskussion im Club Voltaire machte mir den Unterschied  klarer, den ich zwischen der deutschen Vorstellung von "Poesie" und der italienischen bemerkt hatte. Eine andere Besucherin drückte das so aus: In Deutschland würde Dichtkunst immer "filigran" gedacht und behandelt, während Poeten in Italien sich selbstbewusst mitten im Leben befänden.

Brugnaro erzählte in seinen Gedichten vom Leid. Vom Leiden an den Verhältnissen, in die der Einzelne hineingeboren wird, denen er allein nicht entkommen kann. Der Dichter fand dafür eine berückende Sprache. Die auch in der Übersetzung noch wirkte.

Er trat im Rahmen des "Europäischen Poesie-Festivals" auf. Dieses geht heute und morgen noch weiter. Zum Beispiel heute Abend um 19 Uhr in der Goethe-Universität, Campus Westend, Casino-Gebäude, Raum 1.802.

 

 

 

 

Frankfurt, den 29. Mai

Hinter mir liegen vier reiche Tage in Triest. So intensiv erlebte ich diese Tage, dass jeder einzelne von ihnen mir fast wie eine Woche vorkam. Am einfachsten beschreibt sich noch die Stadt selbst - eine italienische Hafenstadt. Dachte ich, denn ich kannte Venedig und Neapel, wollte mir im vorhinein kein Bild machen. Meine Überraschung im Anblick der Wirklichkeit verrät, dass ich mir doch ein Bild gemacht hatte.

Triest, eine Stadt von ca. 600.000 Einwohnern, ist am großzügig flachen Ufer dicht bebaut - aus dem Mittelalter - und durch prächtige oder trauliche Plätze - aus dem 19. und 20. Jahrhundert - durchlüftet. Nach wenigen hundert Metern geht es hügelaufwärts, und hier ist die Bebauung nicht ganz so dicht, aber immer noch vielstöckig. Der "Golf von Triest" öffnet sich zwischen grün bewachsenen Hügel breit nach Westen und garantiert traumhafte Sonnenuntergänge. Molen erstrecken sich nach Westen, weit ins Wasser hinein, doch lagen keine Schiffe dort vor Anker. Die Hafenbecken leer, die Ladekräne  dem Verrosten nahe, die Depots verfallend. Ich bemerkte erst am nächsten Tag, dass der moderne Hafen, an einer südlich sich zurückziehenden Küste gelegen,  sehr wohl allerlei Aktivitäten unterhält. Und der sogenannte "Alte Hafen", das was ich zuerst gesehen hatte,  soll demnächst zu einem wirtschaftlichen Zentrum ausgebaut werden. Derzeit wirkte das Leben in der Stadt betriebsam, aber nicht hetzig. Bis zur slowenischen Grenze sind es nicht mehr als 8 km. Viele Inschriften gab es auf Italienisch und Slowenisch. Der unaufdringliche Luxus in der Stadt, ihr historisches Flair und die unbeschreiblichen Sonnenuntergänge würden einen Ferienaufenthalt allemal rechtfertigen.

Mein Aufenthalt bot jedoch mehr. Der internationale Verein der ehemaligen europäischen Beamten hielt dieses Jahr dort seine Mitgliederversammlung ab. Über zweihundert Fachleute für das Europa der EU trafen sich, hörten einander zu, diskutierten, oft durchaus heftig, verabredeten sich. Immer war ihre Verantwortung, oft auch ihre Begeisterung zu spüren. Eine Verantwortung für Europa fordert, über das Ziel einer Gemeinschaft in Frieden hinaus: zuhören, verstehen, vermitteln - das wussten alle aus lebenslanger Erfahrung. Alle waren bedrückt im Gedanken an jenen Teil des europäischen Wahlvolks, dass nichts von Europa wissen will, das nicht zuhört, das nicht wählen geht oder Kandidaten wählt, die zurück in die nationale Enge streben. Alle wussten: nationale Enge führt früher oder später zum Krieg.

Einer erklärte mir etwas, das ich unbedingt weitergeben möchte. Ich hatte nach Argumenten gefragt, nach Argumentationshilfen gegenüber jenen, die wählen gehen würden, wenn sie jemand von der Sinnhaftigkeit des europäischen Gedankens überzeugen könnte. Eigentlich: von der Zweckmäßigkeit der Vorgänge, die wir, die sie als "europäisch" erleben und nicht verstehen oder gar als für sie nachteilig wahrnehmen. Sie haben den Krieg nicht mehr erlebt, das ungestörte Reisen über Grenzen wurde ihnen zur Selbstverständlichkeit; aber wenn etwa die deutschen Umweltstandards von "europäischen" Regulierungen abgeschwächt oder gar verhindert werden, dann steigt Wut auf. Sie müssten also als erstes verstehen, wie Verhandlungen in Europa funktionieren, wer die Verhandelnden sind, welche Interessen  sie vertreten oder gar als vordringlich ansehen. Damit aber würde man sich schon auf einer Ebene befinden, auf die einem nicht jeder folgen mag oder kann. Wie erreicht Europa die Wähler?

Mir hat einer als Einführung (so verstand ichs) den Unterschied zwischen "wählen" und "abstimmen" erklärt. Ich sah bis dahin keinen wesentlichen Unterschied zwischen den Begriffen, gehört alles in das, was "Demokratie" bereitstellt, dachte ich. Nun schäme ich mich geradezu, da mir die gewaltige Differenz deutlich gemacht worden ist. "Wählen" bedeutet, dass der Wähler zwischen einer - theoretisch - unbegrenzten Zahl von Möglichkeiten wählen kann. Wie lang sind oft unsere Wahlzettel! Der Wähler wählt seine Vertreter ins Parlament, in den Landtag, in die Stadtverordneten-Versammlung. Dort entstehen dann Gesetze und Regelungen. Sobald es ans "Abstimmen" geht, geschieht etwas anderes. Abstimmen kann man nur mit "Ja" oder "nein", notfalls kann man sich enthalten.Es werden Regeln ausgearbeitet, über die dei Versammlung abstimmt.

Der Bundeskanzler, so hörte ich, wird nicht "gewählt", sondern er wird von der Mehrheit im Parlament "bestimmt".

Der große Unterschied zwischen "Abstimmen" und Wählen" wurde mir erst nach und nach klar, als ich nämlich an die immer geringer werdende Wahlbeteiligung in den europäischen Ländern dachte. Weil die Leute den Unterschied zwischen Wählen und Abstimmen nicht bedenken, er ihnen nicht bewusst ist,  verwechseln sie die beiden. Indem sie gar nicht mehr zur Wahl gehen - so denken, oder vielmehr fühlen sie - dann stimmen sie mit "Nein".  Sie wollen sich erst gar nicht mit den einzelnen Personen, den Kandidaten, befassen, da sie nicht einschätzen können, was diese Kandidaten tun, tun wollen, tun können und ob sie ihnen nicht gar ein X für ein U vormachen. Die Nichtwähler sehen sich als intelligente Menschen, selbstbewusst, im Sinne von "Nein heißt Nein" vielleicht. Nur dass sie nicht zu artikulieren vermögen, was sie wollen und was dieses Wollen für ihre Stadt, ihr Land und Europa bedeuten würde. Fantasie brauchten sie, Fantasie und Wissen, Geschichtskenntnis, Verständnis für den Reichtum von Vielfalt - und Vielfalt bedeutet nichts anderes als viele Unterschiede -, Einfühlungsvermögen. Bereitschaft zum gegenseitigen Zuhören.

Das sind Eigenschaften, mit denen man nicht geboren wird. Das muss man lernen. Das ist anstrengend.

Eigenschaften, die nicht dadurch entstehen, dass sich alle Geldleute zusammenschließen, um mehr Geld zu verdienen, und alle Armen immer ärmer werden zu lassen. Auch nicht dadurch, dass man für jede einzelne Tasse Kaffee ein Aluminiumtöpfchen öffnet und anschließend in den Müll wirft (diese umweltverschleißende Manier des Kaffeetrinkens herrschte auch in Triest vor), um ein Beispiel zu nennen.

Es geht um Frieden,  und Frieden erreiche ich, erreicht jeder von uns nur, indem er unter Rücksicht auf den oder die oder das Nächste, Nächstgelegene, die unmittelbaren ebenso wie die weltweiten Zusammenhänge erkennt, bedenkt  und bei der Verfolgung von politischen Zielen beachtet. Schiller schrieb: "es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbar nicht gefällt." Wer ist "Der Böse"? Warum ist er böse? Das wird man oft nicht herausfinden, und Soldaten zur Verteidigung bereitstehen zu haben, wird man nicht umgehen können.  In Triest hörte ich mehrere alte Kollegen sagen: "Europa hat den Fehler gemacht, dass es keine Verteidigungsgemeinschaft gründete." Das mag richtig sein, oder nicht; ich glaube eher nicht.

Mein persönlicher Eindruck ist: zu viele Menschen glauben heute an "das Böse". Wenn Kain verständnisvolle Erzieher gehabt hätte, dann hätte er seinen Bruder nicht aus Neid ermorden müssen.

 

 

 

 

 

Frankfurt, den 9. Mai

Früher nannten wir den 9.Mai scherzhaft "La Saint Schuman", denn es war für die europäischen Beamten immer ein Feiertag, und wir lebten in einem Land mit katholischer Tradition, nämlich in Luxemburg.....

 

Die taz brachte letzte Woche - am Dienstag, dem 3. Mai, dem "internationalen Tag der Pressefreiheit" - eine zweisprachige, türkisch-deutsche Ausgabe heraus. Ich las sie sorgfältig, und dabei fiel mir eine Bemerkung ein, die ich von einer türkisch-stämmigen Freundin kürzlich gehört hatte. Sie flocht in unser Gespräch die Worte ein: "seit der Unabhängigkeit der Türkei ....". Ich fragte sofort: "Unabhängig wovon?" - "Von den Osmanen."

Die Antwort verblüffte mich so, dass ich nicht weiterfragte. Sie wollte sich gar nicht in das Geschichtsbild einfügen, das ich mir in all den Jahren erworben habe. Vergleichsweise würden die Deutschen sagen können: Seit Deutschland von den Kaisern unabhängig geworden ist ...... Nein, sie sagen: die Monarchie wurde abgeschafft, der Kaiser wurde aus Deutschland vertrieben, und das Land verwandelte sich in eine Republik! So würde ich das jedenfalls ausdrücken. Ich muss bei nächster Gelegenehit das Gespräch mit der Freundin noch einmal aufnehmen und weiterfragen.

Bei der Lektüre der "günlük gazete", d.h der "tageszeitung" am letzten Dienstag, fiel mir das Gespräch wieder ein, weil ich trotz sorgfältiger Lektüre das Gefühl hatte, ich erführe nichts Neues. Es fehlten mir Zusammenhänge. Wo kommt Erdogans absolute Mehrhheit her? Was wünschen sich seine Wähler? Sind die Wahlergebnisse ehrlich? Welche politischen Programme existieren, auf welcher Seite? Wie muss sich ein verlässlicher türkischer Staatsbürger definieren, damit er nicht als Separatist verleumdet werden kann? Ich denke dabei natürlich an die Kurden. Welche Idealbilder stecken in den Köpfen? Bilder, die in der Türkei jedem vertraut sind, aber mir nicht? Also: im Grunde versteh ich nicht, was vorgeht. In den Köpfen, aber auch im Land. Was versteht meine Freundin unter "den Osmanen"?

Seit gut einem Monat habe ich aufgehört, in meinem SPD-Ortsverein aktiv zu sein - vor allem aus gesundheitlichen Gründen. Doch hielt mich nichts, da ich vor allem Opportunismus sah, wenig politische Ziele; vor allem Floskeln, festgefahrene Redensarten oder Resignation. Für meine Funktion als "Migrationsbeauftragte" hat sich anscheinend niemand mehr gemeldet. Das Thema würde nur dann jemanden interessieren, wenn er dadurch an Macht gewönne. Nun kann man in der Partei aus jedem Thema eine gewisse Macht schöpfen, doch muss man sich dann auch etwas auskennen darin, gewisse Kontakte pflegen. Ich selbst fühle mich unter Mehrsprachigen zuhause. Das gilt aber für die meisten Genossen nicht. Also haben sie ihnen (denen die aus einer Migrantenfamilie stammen) auch nichts zu sagen. Umgekehrt sehe ich Ähnliches: die inzwischen erwachsenen Kinder zugewanderter Türken können zwar Deutsch und Türkisch, doch verstehen sie die Vor-Stellungen in den Köpfen der Mehrheitsangehörigen nicht oder können sie nicht in Einklang mit ihren eigenen bringen.

Und da trifft sich das wieder mit der Ausdrucksweise meiner Freundin von der "Unabhängigkeit". Viele Migranten - zumal die Afrikaner - sprechen mit Stolz von ihrer Unabhängigkeit, nämlich der ihres Landes, das vorher als Kolonie von einem europäischen Staat abhängig war. Die Türkei hingegen war immer unabhängig; jedoch wurde sie Republik in sehr viel engeren Grenzen als denen des "Osmanischen Reiches", das sich über die Jahrhunderte viele Länder angeeignet hatte (nicht zuletzt Griechenland). Die Staatssprache war aber doch immer Türkisch, wenn auch mit arabischer Schrift. Die Türkische Republik schaffte die arabische Schrift ab und führte die lateinische ein. Ein Zeichen von Unabhängigkeit .....

 

Verwirrung, Verwirrung. Wir wissen nicht genug!

 

 

 

 

 

 

 

Frankfurt, den 25. April

Mein Hibiskus lässt die Blätter hängen. Üblicherweise stellt er kaum Ansprüche, will nur genügend Wasser und wächst und wächst. Wenn er im Sommer draußen steht, dann blüht er auch. Drinnen hatte er das Blühen in den letzten Jahren fast aufgegeben. Im letzten Jahr hingegen stellte ich ihn auf den Balkon, und er dankte es mit tiefroten Blüten. Als es letzte Woche so hübsch warm wurde, stellte ich ihn wieder hinaus. Aber es war noch zu früh. Eine Temperatur unter zehn Grad verträgt er nicht, sie wirkt wie Frost auf ihn. Nun muss ich verschiedene Zweige ganz abschneiden, ihn hereinholen und warm halten. Hoffen, dass er wieder heranwächst, buschig wird und  glänzt in dem vertrauten dunklem Grün.

In den vergangenen Wochen erlebte ich in Heidelberg Thomas Fuchs mit seinem Thema "Leibgedächtnis", das senkte sich tief ein. Ich werds wieder hervorholen, weil es, wie alle ganzheitlichen Themen, viel Zeit zum Klären braucht. Diesen Unterschied, der im Deutschen zwischen "Leib" und "Körper" besteht, kann man nicht einfach definieren, man muss ihn spüren. Wenn ich von einem "Leibgericht"" spreche, dann meine ich natürlich kein "Körpergericht" - das gibts ja gar nicht. Mit diesem Beispiel erhältt man einen schmalen Zugang zu all den Aspekten, die sich aus einem Gebrauch des Wortes "Leib" ergeben können. Ich werde darauf zurückkommen, auch, weil die Tagung hieß: "Feldenkrais und Leibgedächtnis". Das machte es noch interessanter.

An einem andern Wochenende nahm ich an einer Tagung über Rose Ausländer teil. Es ging um "das Jüdische" in ihren Gedichten. Rose Ausländer wuchs in einer liberalen jüdischen Familie in Cernowitz auf; ihre Mutter stammte aus Berlin, so lernte die kleine Rose Deutsch als Muttersprache; doch ihr Vater kannte sich im Religiösen sehr gut aus und wachte darüber, dass Rose nicht nur Jiddisch, sondern richtiges Hebräisch lernte, damit, wie er sagte, sie sich die Bibel nicht von fremden Männern erklären lassen müsse. Sie konnte alles selber lesen. Lernte auch zusätzlich sehr gut Englisch, so dass sie später, als die Verfolgungen begannen, ihren Lebensunterhalt in New York finden konnte. In Cernowitz lernte man auf den Straße natülrlich noch viele andere Sprachen - Cernowitz, das war eine ganze Welt. Und bevor Rose Ausländer zeitweilig nach Amerika auswanderte, hat sie die Bedrohungen der Shoah am eigenen Leib erfahren müssen. Als sie sich nach dem Krieg in Wien niederlassen wollte, das sie als ihrer Heimat am nächsten ansah, floh sie nach sechs, sieben Monaten vor dem dortigen Antisemitismus. In Düsseldorf, so hatte sie gehört, wohnten viele alte Cernowitzer. Sie ging nach Düssledorf. Da war sie schon Rentnerin. Im "Jüdischen Elternheim" fand sie eine Bleibe.

Was sie dort nicht fand, war geistige Nahrung, Verständnis für ihre Dichtung. Der Rabbiner war orthodox, und von der Orthodoxie wollte sie, ihrem Vater treu, nichts wissen. Es fand sich ein junger deutscher nichtjüdischer Verleger, Helmut Braun,  der ihre Gedichte mochte, sie veröffentlichte, ja, und sie berühmt machte! Ihn lud Rose Ausländer jeden Freitag Abend zu sich ein, fast 20 Jahre lang, um ihre Unbahängigkeit von der Orhtodoxie zu zeigen. Eine Sabbatfeier anderer Art. Ihre Gedichte zu lesen, sie zu hören, ist immer ein Vergnügen, trotz Trauer, Melancholie, Sehnsucht. Sie starb 1988. Helmut Braun gründete eine "Rose-Ausländer-Gesellscjaft" und pflegt die Erinnerung an sie.

NEUGIERIG

Nacht schwarze Mutter

die meine Bilder gebärt

 

Im Traumorient

fallen die Schleier

ich hebe sie auf

für eine Hoch-Zeit

 

reite auf einer Lawine

vom Jungfernjoch

in den Schneefall

 

falle nicht

auf

ich gehe von Mensch zu Mensch

neugierig

werbistdu

Traumfreund

 

 

(aus: Rose Ausländer - "Mutterland Einverständnis" - S.Fischer)