Tagebuch Sommer 2010

Frankfurt, den 27. Oktober

Es wird kalt, schon mehrmals glitzerte  morgens Raureif auf den Dächern. Passend dazu habe ich in den übrigen Zimmern neue Fenster eingesetzt bekommen, die die Wärme besser festhalten.

Letzten Sonntag unterhielt ich mich im Café Wiesengrund öffentlich mit Chantal Tanet über ihre Erfahrungen in Deutschland: seit dem 1. September ist sie Gast des hessischen Literaturrates in der Villa Clementine in Wiesbaden. Diesen Samstag geht ihr Aufenthalt zuende.

Was ist ihr aufgefallen? Sie fand zunächst mal zwei Monate zu kurz, um sich wirklich ein Bild zu machen, und sie möchte nächstes Jahr wiederkommen. Dennoch schienen ihr die Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich gewaltig. Nirgendwo gebe es in  Frankreich, sagte sie, eine Stadt mit der großzügigen Begrünung wie in Wiesbaden. Auch die Vielfalt von Theatern und Opernhäuser nötigte ihr große Bewunderung ab. Nur mit Kinos seien Frankreichs Städte besser ausgerüstet, meinte sie, als die deutschen. Hier träfen sich Intellektuelle in Kneipen oder Vereinsräumen in einem Umfang, den sie von Frankreich nicht kenne. Überhaupt gelinge die Kommunikation zwischen den Bevölkerungsgruppen - z.B. von Intellektuellen und Nicht-Intellektuellen - hierzulande besser, war ihr Eindruck. In Frankreich blieben die Gruppen stärker unter sich.

Ich las anschließend meinen Essai "Lesen in Bordeaux" vor, in dem ich mich über meine Frankreich-Erfahrungen äußere (bisher nur erschienen in "Galerie no 28" in Luxemburg). Es ergaben sich intensive Gespräche zwischen den Referentinnen  und den Zuhörern.

Frankfurt, den 23. Oktober

Tägliches Schreiben ist ein Merkmal des Schriftstellers; nein, auch wenn ich mich hier erst nach zwei Wochen wieder melde, habe ich doch das Schreiben nicht aufgegeben. Gestern ging endlich mein langer Buchmessenbericht hinaus. Er wird Mitte November in der Kulturbeilage des Luxemburger "tageblatt" erscheinen. Ich musste darin der Aufgabe gerecht werden, auch einen Monat nach der Buchmesse noch etwas Ansprechendes zu bieten.

Wahrlich gibt es genug Stoff, selbst wenn man voraussetzt, dass ich nicht überall auf der Buchmesse sein konnte und nicht alles mitbekam. Ich musste also auswählen, auch unter dem Gesichtspunkt, dass mein Text in erster Linie für luxemburgische Leser gedacht ist.

So gab es Unzufriedenheit mit dem Luxemburger Gemeinschaftsstand, der erheblich von der Regierung finanziert wird. In Luxemburg haben sich Verleger zu einem Verband zusammengeschlossen, und dieser Verband organisiert den Gemeinschaftsstand: er stellt das Standpersonal, er schießt auch Geld vom Verbandskonto zu, und unbezahlte Überstunden fallen ebenfalls an. Nun wollen nicht alle Luxemburger Verlage oder einzelne Autoren in diesen Verband eintreten - ich denke, es ist wie überall: da würden mindestens zwei Verbände gebraucht. Jedenfalls will die Regierung für ihre Subventionen eine ordentliche Abrechnung haben, und die bekommt sie vom "Verband der Luxemburger Buchverleger". Das genügt ihr. Für die Streitereien auf der unteren Ebene interessiert sich die Regierung nicht.

Im Ergebnis werden bei weitem nicht alle in Luxemburg erschienenen Werke  auch in Frankfurt präsentiert. Das zeigte sich dieses Jahr besonders krass, als zu Beginn der Messe bekannt wurde, dass ein Luxemburger Autor im Rahmen eines "European Union Prize for Literature for emerging talents in the field of contemporary fiction" ausgezeichnet worden war (Jean Back für seine Novelle "Amateur"), und das Buch auf dem Stand nicht gezeigt werden konnte, weil der Verlag nicht Mitglied im Verband war.

Das "tageblatt" hatte mich gebeten, über die Pressekonferenz am Luxemburger Gemeinschaftstand einen aktuellen Artikel zu schreiben, und ich - wieso eigentlich? - hatte zugesagt. Wahrscheinllich, weil mir die Luxemburger Literatur am Herzen liegt. Es geschieht viel Interessantes in dem kleinen Land, das noch immer ein Stückchen mein Zuhause ist. Dementsprechend legte ich meinen Sofortbericht an: die Luxemburger Literatur verdient eine bessere Präsentation, und zwar inhaltlich, ästhetisch, technisch.

Nur das Buffet beim Empfang nach der Pressekonferenz könnte bleiben, es war vorzüglich. Davon schrieb ich aber in meinem Artikel nichts; denn über gutes Essen denkt und schreibt man in Luxemburg anders als in Deutschland. Drüben ist es selbstverständlich. Wenn ich denke, wie alljährlich dort neue Restaurants aufmachen, die einander an Köstlichkeit überbieten! Es stehen meistens junge Köche dahinter, die auf Reputation, Karriere und Erfolg setzen.

Kurzum, ich schrieb mal wieder etwas in Richtung "Kampf für die gute Sache", nämlich die Literatur, moralisch unterstützt von den Freunden in Luxemburg. Ob sich nächstes Jahr am Stand etwas ändern wird? Bisher stellen die Luxemburger Verleger nämlich "Literatur" nur unter anderm aus, neben Ratgebern für die Steuererklärung u.s.w. In ihrem Pressekommuniqué sprachen sie nicht von "Büchern", erst recht nicht von "literarischen Werken", sondern von einer "Luxemburger Produktion".

Wird es nächstes Jahr in Frankfurt einen Paradigmenwechsel geben?

Frankfurt, 8. Oktober

Buchmessenzeit. Hektik, Glück und Sonnenschein.

Eben las ich, dass unter dem Titel "Geisteswissenschaften International"  Preise für 23 deutsche Werke der Geisteswissenschaften vergeben wurden, die damit ins Englische übersetzt werden sollen. Unter den Werken entdeckte ich auch Navid Kermanis "Gott ist schön". Das freut mich ganz besonders, weil mir das Buch diesen Sommer die Tage erleuchtete - ich habe Anfang August auch in diesem Tagebuch darüber geschrieben. Ja, die ganze Welt soll das Buch lesen, es dient dem Frieden.

Heute war ich bei der Pressekonferenz mit David Grossmann, der übermorgen den "Friedenspreis des deutschen Buchhandels" in der Paulskirche verliehen bekommt. Auch dort war viel von "Frieden" die Rede. Eine fragende Journalistin wollte wissen, ob das Wort nicht inzwischen zu einer leeren Hülse verkommen sei, ob man es überhaupt noch brauchen könne.

Ach, wie der Dichter David Grossmann daraus eine wundervolle Rede entwickelte! Dass "Schalom" das Wort sei, das isrealische Kinder als erstes Wort in der Schule schreiben lernten, dass es in der Bibel vorkomme. Man dürfe es niemals aufgeben, man müsse es gewissermaßen immer wieder massieren, damit es lebendig bleibe ...

Erschöpfung gehört auch zur Buchmesse. Dennoch besuchte ich gestern abend noch die Lesung von Hertha Müller im Schauspielhaus. Es war ausverkauft. Hunderte von erwartungsvollen Menschen folgten jedem Wort, jeder Bewegung der Nobelpreisträgerin, die Zuhörer reagierten wie eine einzige Person, wenn sie schmunzelten, lachten oder atemlos lauschten. Sie waren sich einig in  ihrer Bewunderung, sie spiegelten sich in der großen Autorin und wurden eins mit ihr.

Gefragt, ob es sie erleichtere zu wissen, dass nun (mit Vargas Llosa) ein anderer die Bürde des Nobelpreisträgers übernehme, gab Hertha Müller mit eleganten Worten zu verstehen,  dass die Ehre doch große Mühen mit sich gebracht habe. Wenn sie zurückschaue, dann wundere sie sich schon, "was aus einem geworden ist". Die Zuhörer fühlten sich mit diesem Satz auf ihre eigenen Plätze verwiesen, denn wäre nicht jeder gern "was geworden", und ist denn einer nicht "wahrhaft was geworden", wenn er den Nobelpreis erhalten hat? Und schien nun die Nobelpreisträgerin nicht geradezu das Gegenteil zu denken?

Über diesen Widerspruch wurde herzlich gelacht.

Frankfurt, 1. Oktober

Vor kurzem fiel mir ein, dass ich mein Luxemburger Wochenblatt lange nicht mehr bekommen hatte. Ich überlegte hin und her und musste mir eingestehen, dass es schon seit meiner Rückkehr aus Bordeaux nicht mehr im Briefkasten gelegen hatte.

Als erstes schämte ich mich tief, weil ich diese Zeitung seit fast vier Monaten nicht vermisst hatte. Sie hielt mich doch immer in Kontakt mit den Geschehnissen im "Ländchen"! Wie kam es, dass ich fand, mein Kontakt sei trotzdem nicht abgerissen?

Wahrscheinlich, weil ich zwischendurch hingefahren war, als die Anthologie der Stiftung OMEGA öffentlich vorgestellt wurde, eine Gelegenheit, bei der ich so manchen lieben Bekannten traf. Viel telefoniert auch, und Artikel für kulturissimo geschrieben.

Hieße das, der Bezug meiner Wochenzeitschrift sei überflüssig? Ich rief an und stellte fest, dass meine Zeitung immer noch weiter an meine Adresse nach Bordeaux gesandt wurde. Ich konnte mich zum Abbestellen nicht durchringen. Zwei Tage später hielt ich die neueste Nummer  von "d'Letzebuerger Land" wieder in der Hand.

Ich las, ich vertiefte mich, Gefühle der Vertrautheit und der Freude überfluteten mich bei der Lektüre. Ich entdeckte in dieser Zeitung Dinge, die ich vermisst hatte, ohne es zu wissen. Das war zunächst einmal die Sorgfalt und Genauigkeit ohne Polemik bei der Darstellung der politischen Verhältnisse. In deutschen Zeitungen muss immer mehr oder weniger gehetzt werden, daran gewöhnt man sich und denkt nicht daran, dass es auch anders geht, und dass die Genauigkeit viel angenehmer kommt als das Hecheln. Dann dieser Blick über alle (luxemburgischen) Grenzen: nach Deutschland wie nach Frankreich und nach Belgien, und gleichberechtigt. Manche Rezensionen - Bücher, Theater, Musik, Kunst, alles - erheben einen beim Lesen, lassen einen etwas von der Freude spüren, die der Rezensent selbst dort erlebt hat, der Begeisterung. Die Satire auf der letzen Seite weckt mir ein Schmunzeln im Gesicht. Sie handelt meistens von "Luxemburg", würde also einen richtigen Deutschen kaum interessieren. Er könnte sie wohl gar nicht verstehen - oder?

Erinnern Sie sich, dass jüngst Präsident Sarkozy die europäische Kommissarin Reding angegriffen hatte, weil diese seine Roma-Vertreibung mit einem gewissen Genozid von vor siebzig Jahren verglichen hatte? Reding ist Luxemburgerin, und er hatte gemeint, dann solle sie doch die Roma nach Luxemburg holen.

Dem steht ein luxemburgisches Gesetz entgegen, wonach man in einem Wohnwagen einzig und allein auf einem angemeldeten Campingplatz übernachten darf, und der wäre für Roma viel zu teuer. Bei der Satirikerin des LL hieß das: "Dafür will ihr der Empera-Tor aus Sarkozynien die Zigeuner in die Schuhe schieben. Nehmt ihr sie doch. Wobei das natürlich vollkommen unmöglich ist, da in Luxusburg nur zivilisiert gecampt werden  darf, ätschi bätsch! Selber Zigeuner! Deine meine keine. Außerdem haben wir schon 300. Die werden sich in unserm fahrenden Volk sicher bestens integrieren."

Vor allem hatte Sarkozy bei dieser Gelegenheit die EXISTENZ des Großherzogtums als einen Fehler der Geschichte bezeichnet. Bei der Satirikerin liest sich das folgendermaßen:

" ... der mit der Geschichte nicht wirklich zufrieden ist. Die Geschichte ist unorganisiert, die Protagonisten improvisieren heillos. Hier wäre eine Korrektur fällig, dort müsste eine Existenzberechtigungsüberprüfung stattfinden. Es kann schließlich nicht jeder und alles existieren. Die Existenzberechtigung von Pétain und Hitler, die sich in dieser Unterpräfektur Rendez-vous gaben, und die Existenzberechtigung des Zuges nach Auschwitz sind allerdings nicht gemeint. Es geht um eine völlig überflüssige Staatengründung. Bismarck, bitte setzen!"

(Die kleine Zeitzeugin, LL vom 24. September 2010)

Wie schön, dieses "bitte"!

 

Frankfurt, 27. September

Wie viel ist wieder geschehen seit dem letzten Eintrag! Glücklicherweise wird mir nur schwindelig, wenn ich an das denke, was ich mir noch alles vorgenommen habe, und nicht dann, wenn ich mich an das Erreichte erinnere.

So nahm ich am 19. September an einer Lesung des "Literaturclubs der Frauen aus aller Welt" teil, die von der "Literaturgesellschaft" im Café Wiesengrund organisiert worden war. Wieder eins dieser heimeligen Literaturfrühstücke, die mir als Organisatorin einst am Herzen lagen. Wir lasen zu fünft:  Susanne, Agapi, Tuula, Tamara und ich.  Wir hatten vereinbart, noch nichts aus unserer Anthologie "Wortwandlerinnen" zu lesen, weil diese erst am 22. 9. herauskam und wir damit noch andere Lesungen gestalten wollen, bei den "Interkulturellen Wochen" zum Beispiel, die Ende Oktober in Frankfurt beginnen.

Stattdessen trugen wir unsere jeweiligen Variationen des "Taschentuch"-Themas vor. Dr. Beckermann, unser Lektor, hatte es uns vorgeschlagen: das Thema bestand aus einem Zitat der Nobelpreisrede von Hertha Müller. "Hast du auch dein Taschentuch dabei," fragte Mutter jeden Morgen, oder so ähnlich. Verblüffend, wie verschieden die Geschichten ausfielen, die um dieses Zitat herum geschrieben worden waren.

Mich hatte das Thema zunächst irritiert, es inspirierte mich überhaupt nicht. Es machte mich fast wütend. Warum denn? fragte ich mich, und sobald ich mir die Zeit nahm, darüber nachzudenken, entstand eine kleine Geschichte, für die ich an jenem Sonntag einiges Lob einheimste. "Häkelspitzen" heißt sie.

Am folgenden Montag Abend erhielt Peter Kurzeck im Mousonturm den "Robert-Gernhardt-Preis", und aus Treue zu Peter ging ich hin. Es wurde ein gemischtes Erlebnis: das Schöne und Großartige bestand im Auftritt von Peter Kurzeck und in seiner Erzählkunst. Er schlug den Saal sofort in seinen Bann: wenn er zu erzählen beginnt, dann scheint es, als würde er aus einem dünnen Grashalm eine blühende Wiese zaubern. Endlich, niemandem wurde seine Zeitüberschreitung bewusst außer wahrscheinlich den Organisatoren, verließ er die Bühne. Jedoch nur, um am Arm einer Organisatorin wieder die Stufen hinaufgeführt zu werden: er hatte versäumt, etwas über den zweiten Preisträger zu sagen. Anscheinend war ihm diese Pflicht auferlegt worden, und er hatte es vergessen. Der zweite Preisträger, dessen Namen mir entfallen ist, hatte schon vor Peter gesprochen, etwas über ihn (nicht besonders einfühlsam), etwas über sich selber (das ich mir nicht merken konnte). Es war ein junger Literaturwissenschaftler, dem ich das Beste wünsche.

Richtige Preisreden für diese substantiellen Preise (zweimal 12.000 €) hielt niemand. Ich erfuhr, dass der Preis vom Land Hessen gestiftet wurde, beziehungsweise von landeseigenen Banken, deren Vertreter auch in der Jury saßen. Die Preise werden für ein  unfertiges literarisches Projekt vergeben, das damit befördert werden soll, ein wunderbarer Gedanke. Zwei Herren, ein Ministerialbeamter und ein Banker, äußerten sich am Rednerpult zu dem Ereignis in einer Weise, die weder sprachlich noch inhaltlich irgendwie an Literatur erinnerte oder diese wichtig nahm. Gewiss, Banker oder Beamte müssen nicht rhetorisch begabt und literarisch bewandert sein, doch warum besorgen sie sich für eine solche Gelegenheit nicht einen kundigen Redeschreiber?? So dass sie mit Eleganz und Leichtigkeit brillieren könnten?

Die Ergebnisse vom vergangenen Jahr lagen auf den Stühlen, je ein Buch von zwein als Geschenk an die Besucher der diesjährigen Preisverteilung. Mir fiel ein hübsches Büchlein mit Reise-Gedichten von Elsemarie Maletzke und einem ihrer Bekannten zu. Ich las es mit wachsender Enttäuschung: ein mittelmäßiges Poesiealbum wäre vielleicht aufregender. Wieso lässt sich eine so begabte Frau wie Elsemarie Maletzke auf so eine Oberflächlichkeit ein? Nur wegen der 12.000 €?

Ich sehe schon, für heute reichts. Morgen vielleicht mehr.

Frankfurt, den 18. September

Diesen Herbst nehme ich an einer ganzen Reihe von Gruppenlesungen teil. Die Reihe beginnt morgen, 19. September, 11 Uhr, im Café Wiesengrund in Frankfurt, Finkenhofstraße 17. Ich lese dort gemeinsam mit Kolleginnen vom "Literaturclub der Frauen aus aller Welt" - jetzt wo das Wort "Integration" von allen Wänden flackert, könnte der Saal wohl voll werden. Unsere Anthologie "Wortwandlerinnen" erscheint nächste Woche bei Brandes & Apsel. Um die Überraschung dicht zu halten, werden wir morgen keine Texte aus der Anthologie vorlesen, sondern, im Gegenteil, möchte ich sagen, ganz frische, ganz neu entstandene.

Herr Beckermann, unser Lektor und Berater, gab der Gruppe im Frühjahr eine Aufgabe: wir sollten eine Geschichte rund um ein bestimmtes Zitat erfinden. Es war ein Satz aus der Nobelpreisrede von Hertha Müller, er handelte von dem Taschentuch, das ihre vorsorgliche Mutter ihr jeden Morgen auf den Schulweg mitgab. Daraus sind tatsächlich ganz verschiedene Erzählungen entstanden, die natürlich nicht von Hertha Müller, sondern von jeder von uns handeln, ohne unbedingt autobiografisch zu sein.

Ich werde neben meiner kleinen Taschentuch-Geschichte noch ein paar Gedanken zum Thema "Übersetzen" vortragen - sie  entstammen meinem derzeitigen Roman-Manuskript. Es ist schon erstaunlich, wie um Übersetzung immer wieder neu gerungen werden muss!

Die offizielle Vorstellung der Anthologie "Wortwandlerinnen" ist auf den 16. November angesetzt. Der Verlag hat die "Romanfabrik" (Frankfurt, Hanauer Landtsraße) dafür reserviert. Beginn: 20 Uhr 30.

Meine nächste öffentliche Lesung mache ich nächsten Freitag zusammen mit der POSEIDON-Gruppe in Darmstadt: am 24.9., 20 Uhr, im Café Arkade, Rheinstraße 21. Thema dort ist: "StadtLandKuss"; eine gänzlich andere literarische Baustelle. Ich freu mich sehr drauf.

Frankfurt, 13. September

Huch, wie die Zeit vergeht.

Zuerst eine Korrektur: seit meinem letzten Eintrag habe ich begriffen, dass auch heute in der Bundesrepublik nicht von "EINwanderern" die Rede ist, sondern nur von "ZUwanderern". Wenn ich recht verstanden habe, konnte selbst die Schröder-Regierung seinerzeit gegen die CDU nicht das Wort "Einwanderer" in die Gesetze schreiben lassen.

"Zuwanderer" sind dann wohl Menschen, die "dazu" kommen, die schon etwas Vorhandenes antreffen. Was unterscheidet sie etwa von amerikanischen "Einwanderern"? Auch diese müssen sich an vorgegebene Gesetze, an die Verfassung halten.

Jeder Mensch mit amerikanischem Pass ist stolz auf diese Verfassung. Und hier beginnt der Unterschied. Lange Zeit kümmerte sich der gewöhnliche Bundesbürger gar nicht um die Verfassung, das "Grundgesetz". Wer nicht gerade an der Gleichberechtigung von Frauen interessiert war,  brauchte sie gar nicht zu kennen. Das bedeutet: die Mehrheitsbevölkerung wusste nicht viel über sich selbst, wusste dagegen deutlich oder dumpf, dass die deutsche Geschichte mal dumm gelaufen war, dass man besser nicht über deutsche Identität spricht. Sich demnach auch nichts genaues drunter vorstellt (oder jeder was anderes). Wenn nun '"Andere" hier "einwandern", solche, die genau wissen, wo sie herkommen und wer sie sind, dann könnten die sich hier ja breit machen! Das will auch keiner.

Übrigens nennt Sarrazin, soweit ich feststellen konnte, als die zwei  einzigen typisch "deutschen" Eigenschaften die geringe Geburtenzahl und einen angeblichen hohen Intelligenzquotienten. Angesichts der Sarrazinschen logischen Mängel bei der Argumentation finde ich die Behauptung vom hohen IQ ziemlich vermessen. Gestern abend hörte ich im Fernsehen von einem jungen Türken die launige Feststellung: "Sarrazin ist die Verena Poth der Politik"- einen solch genialen Satz soll ihm erst einmal jemand nachmachen!

Um nochmal auf die Frauenfrage zu kommen: im Fernsehen lief dieser Tage eine hübsche Schnulze mit dem Titel "Der letzte Patriarch". Sie war gut gespielt, spannend inszeniert. Erst nachträglich wurde mir die Perfidie bewußt, von der die Geschichte getragen wurde. Der alte Firmenbesitzer hatte in seinem Leben unzählige Frauen, immerhin aber auch drei legitime Kinder. Einer der zwei Söhne stirbt, was den Vater zu der Erklärung veranlasst: der Sohn habe an manischer Depression gelitten. Das sagt er in einem Ton, als meine er: um den ist es nicht schade. Die Tochter wiederum springt willig sofort ein, als der Vater ihr eine Arbeit übertragen will, die bis dahin seine letzte Ehefrau verrichtet hatte. Die Ehefrau wird wegen Fremdgehens entlassen. So, und die Geschichte handelt nun von einem jungen Chinesen in Shanghai, der in Konkurrenz zu unserm Patriarchen eine Firma in China illegal aufbaut, mit großem Erfolg. Fazit? Nicht zu fassen: es wird suggeriert, dass der tüchtige junge Chinese ein illegitimer Sohn des Patriarchen sei!

Ob das nicht als ein hübsches Argument gegen die These dienen könnte, deutsche Mütter machten zu wenig Kinder? Der deutsche Herrenmannmensch besamt selbst den ganzen Globus und erreicht damit zuletzt doch noch die Weltherrschaft!!! Erobert in diesem Fall den chinesischen Markt.

Sämtliche Frauen in diesem mehrstündigen Film begnügen sich sofort oder nach einer Weile damit, zu schweigen, zu lächeln und ihren Mann zu ehren. "Sois belle et tais-toi!" sagte schon Gainsbourg halb ironisch.

Nach diesem Film dürfen deutsche Männer wieder einmal träumen: von schönen Frauen und Weltherrschaft und im Alter von einem wahrhaft mütterlichen guten Geist ....

 

 

 

Frankfurt, 5. September

„Heimat Babylon“ hieß ein Buch, das Daniel Cohn-Bendit und Thomas Schmid im Jahr 1992 veröffentlichten. Interessant wird es heute, im Jahre Sarrazin, noch mal einen Blick in dieses Buch zu werfen.


Die Autoren stützen sich auf eine ganze Bibliothek von Publikationen zur Frage der Migration, und sie vertreten eine These: „Die Bundesrepublik ist ein Einwandererland“, sagen sie immer wieder und belegen es. Die Situation war nämlich zu jener Zeit die, dass die Regierung den Standpunkt „Deutschland ist kein Einwandererland“ vertrat und demenstprechend nur eine „Ausländergesetzgebung“ für nötig hielt. Diese „Ausländer“ waren ausschließlich als Arbeitskräfte gedacht, mit deren Hilfe unter anderm auch das Ansteigen der Löhne allgemein etwas gedämpft werden konnte. Sobald die Arbeitslosigkeit anstieg, versuchte man, sie wieder loszuwerden, neue Zuwanderung zu verbieten.


Mit Familien, mit Kindern, gar mit alternden Rentnern hatte, zumindest in den fünfziger Jahren, keiner gerechnet. Einfach nicht dran gedacht. In „Heimat Babylon“ lese ich: „Heute klingt es auf peinliche Weise banal, wenn mahnend die Weisheit verkündet wird, Arbeitskräfte seien geholt worden, Menschen jedoch gekommen.  Es hat aber – so unglaublich das auch klingt – wirklich niemand daran gedacht: Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard nicht, die Bundesanstalt für Arbeit nicht, die Unternehmerverbände nicht und auch die Kirchen, die Medien und die kritische Intelligenz nicht, die sonst ja immer sehr genau zu sagen weiß, wo ‚die’ Macht versagt hat.“


Cohn-Bendit gründete in Frankfurt das AMKA, das Amt für multikulturelle Angelegenheiten, für das er ehrenamtlicher Dezernent wurde. Die Epoche des Multi-Kulti begann. Die Andern, die Nicht-Deutschen, waren ebenso viel wert wie Deutsche, hieß das, man sollte ihre Kultur respektieren, was nicht selten darauf hinaus lief, es mehr zu respektieren als das Eigene. In den Neunzigern hörte ich in Frankfurt das Wort „Islam-Bonus“, das besagte, wenn einer in irgendeiner Funktion (des Vereinslebens) sich besonders für Islamisches einsetzte, mehr als man z.B. beim Katholischen für angemessen gehalten hätte, dann müsse man ihm das zugestehen, er genieße den „Islam-Bonus“. (Offenbar galt „Islam“ denen, die mir das sagten,  als das schlechthinnig Andere). Hinzu kam, dass „deutsch“ unter Deutschen Anfang der Neunziger nicht angesehen war, es wurde vielfach mit „Nazi“ gleichgesetzt.


Cohn-Bendit und seine Mitstreiter setzten sich politisch dafür ein, dass die „Ausländer“ nun auch als „Menschen“ behandelt und ernst genommen würden. Die Erfolge blieben nicht aus. Ab 1998 kam eine neue Regierung, und diese erklärte Deutschland zum erstenmal zum „Einwandererland“. Das hatte Folgen, zum Beispiel die, dass Deutsch-Unterricht für alle – also auch für Kleinkinder, Frauen, Analphabeten – von öffentlichen Stellen angeboten wurde. Noch nicht besonders koordiniert, manchmal mit wenig Überzeugung vertreten. Die Lehrer vergaß man lange, die teilweise bis heute als selbstverständlich für die Gestaltung ihres Unterrichts voraussetzen, dass jedes Sechjährige ordentlich Deutsch kann, möglichst nur Deutsch.  Inzwischen bekommt niemand mehr ein längeres Visum oder gar die deutsche Staatsangehörigkeit, der nicht Deutschkenntnisse nachweist. Auf welchem Niveau? Das dürfte stark variieren.


Doch immer noch fragt niemand, soweit ich beobachten kann, nach der Wirkung des deutschen Empfangs (Unterbringung in Fremdarbeiterbaracken am Anfang, später eine demütigende Ausländerpolitik) auf die Zugewanderten. Wie gingen und gehen sie selbst mit der Kälte, mit der Isolierung, mit der Verachtung um, die ihnen öfter entgegenschlug? Sie sammeln sich in Sippen, Nationalverbänden, und eben auch in Moscheen. Sie entwickeln eigene Lebensformen. Dieses Eigenleben hat inzwischen gelegentlich eine Macht entwickelt, die sich vom urbanen Leben abschottet und es dadurch bedroht. In Köln, in Duisburg haben die Stadtväter nicht bloß den Bau von Moscheen zugelassen, was durchaus nötig und zweckmäßig war, sondern sie haben auch Baupläne gestattet, wo diese Moscheen zu Märkten, zu Geschäftszentren ausgeweitet werden, die nach außen abgeschlossen sind. Also  findet sich dort mitten in der Stadt eine „geschlossene Stadt“, mit anderer Sprache und mit Zugang nur für Angehörige einer bestimmten Gruppe von Stadtbewohnern. Sowas gab es nicht mal in den mittelalterlichen Städten Europas! Die Händler öffneten ihre Auslagen zur Straße hin! Noch heute bietet man üblicherweise seine Waren zur Straße hin an; selbst in den modernen Einkaufszentren ist das Prinzip aufrecht  erhalten worden. Um die alten Kirchen herum standen Geschäfte, oft an die Kirchenmauern angelehnt, aber immer nach vorn offen!


Wie dem auch sei, heute hat sich unter ethnisch Deutschen ein Zorn gegen solche Migranten angestaut, die auch nach 30jähriger Anwesenheit noch kein Deutsch können, die sich absondern und die in die staatlichen Schulen Schwierigkeiten tragen, welche ohne sie vielleicht nicht aufträten. Diesen Zorn hat die pseudo-intellektuelle Schrift des Bundesbankers jetzt sichtbar werden lassen.  


Wie kann man dem Zorn begegnen, damit wieder Frieden einkehrt?


Frankfurt, 4. September

Es tut mir leid, dass am Mittwoch das versprochene Interview über Bordeaux nicht gesendet wurde - ein Versehen der Redaktion, hieß es. Nun soll das Interview am 6. Oktober, 15 Uhr, auf Sendung gehen, und dann stehe es vielleicht sogar im Veranstaltungskalender der Buchmesse! schreibt mein Redakteur.

Nun, warum nicht.

Ich hatte am Mittwoch auf Radio X eingestellt und mir zehn Minuten angehört, was da geredet wurde. Seltsamerweise vertrat dort jemand die gleiche, logisch verworrene, These, der ich beim Museumsuferfest begegnet war, als wir im Anschluss an die Lesungen noch eine öffentliche Diskussion führten: auf die Frage nach der Beziehung zwischen Schriftsteller und Geld wurden verschiedene Thesen aufgestellt. Die logisch anfechtbare war die, dass die Autoren im Gespräch vor allem an das Geld dachten, das ihnen jemand für ihr Schreiben zahlen sollte oder nicht zahlt.

Andreas Muncke hatte eine Geschichte in einer Anthologie mit dem Titel "Geld schreibt" veröffentlicht, die mit einem Preis ausgezeichnet worden war. Sie hat er am Sonntag vorgelesen, und daraus sowie dem Motto der Lesungen "Das Leben ist kein Sonderangebot" ergab sich das Thema des Gesprächs. Die logische Falle bestand darin, dass die Autoren nicht unterschieden zwischen dem literarischen Thema "Geld" und dem Geld, das sie gern in ihrem Portemonnaie hätten. Gäbe es nicht auch andere Kriterien als die des Markterfolgs, um ein literarisches Werk zu schätzen? Muncke meinte, wenn sein Schreiben kein Geld bringe, werde es selbstverständlich zum "Hobby". Dagegen erhob sich Widerspruch. Waren denn der Bibliothekar Lessing, der Minister Goethe oder der Justitiar Kafka bloße "Hobby-Schreiber"?

Die Debatte wurde an der Stelle abgebrochen, doch würde ich sie gern innerhalb des VS fortsetzen. Freilich setzte das die Erfüllung von zwei Bedingungen voraus: erstens dürfte dabei niemand den anderen niedermachen wollen, zweitens müsste man das Zuhören pflegen. Ist das schon Utopie?

Andreas Munckes Geschichte hörten wir übrigens mit großem Vergnügen zu. Die Anthologie "Geld schreibt" erschien im Brockmeyer-Verlag in Bochum.

 

Frankfurt, den 30. August

Am kommenden Mittwoch, dem 1. September 2010, läuft um 15 Uhr auf Radio X (Bürgerradio in Frankfurt) ein einstündiges Interview über meine Bordeaux-Reise. Ewart Reder hat mich interviewt. Als Radio kann man es nur auf Frankfurter Stadtgebiet empfangen; doch erreichbar ist die Sendung auch als "livestream"
über das Internet. Die Adresse lautet: www.radiox.de

Langsam erhole ich mich von den Strapazen des Museumsuferfestes. Ich habe praktisch keinen anderen Stand besucht, es hat mir völlig gereicht, mich um den eigenen zu kümmern. Gestern habe ich fünf Lesungen moderiert und anschließend eine kleine Diskussion geleitet. Es ging dabei um die Auseinandersetzung zwischen "Literatur" und "Geld". Das Gespräch, das ich mit drei der Autoren führte, die vorher aufgetreten waren, zeigte, dass bei dem Begriff "Geld" die meisten zunächst mal an "Schreiben als Erwerbsarbeit" dachten. Bleibt das Schreiben bloß ein "Hobby", wenn es den Lebenserwerb nicht decken kann?  Auch das Publikum beteiligte sich; es schälte sich die Idee heraus, dass literarisches Schreiben auch außerhalb des Maßstabes "Geld" einen Wert besitzen könnte (immerhin). Diese Feststellung sollte bei Gelegenheit weiter verfolgt werden, denn den jüngeren Generationen scheint sie nicht unbedingt verständlich zu sein. "Erfolg haben" heisst Geld dafür bekommen, je mehr, desto erfolgreicher. Und welchen anderen Wert als "Erfolg" gibt es heute?

Daraus folgt weiterhin die Frage nach der Berechtigung von  "Literaturförderung". Morgen um halb neun wird darüber in der "Romanfabrik" diskutiert, wie ich hörte.

An solchen Fragen ermisst ein alter Mensch, wie sich die Zeiten und Denkweisen ändern!

Frankfurt, 29. August

Es passiert so viel, und ich bin danach so müde, dass ich selten zum Webseiten-Schreiben komme. Auch jetzt müsste ich mich schon vorbereiten auf das Museumsuferfest, wo ich in drei Stunden als Moderatorin auf der Bühne stehe.

Gestern nachmittag habe ich dort selber eine Geschichte vorgelesen. Sie hieß "Der Mann im Kamelhaarmantel" und entstammte einer Anthologie "Gesicht  zeigen gegen rechts", erschienen 1995 in Frankfurt. Es ging darin um einen schwarzen Amerikaner, der in Frankfurt an einer belebten Straßenbahnhaltestelle von einem Deutschen mittleren Alters unflätig beschimpft wurde, und keiner nahm Anstoß daran oder reagierte. Das hatte ich mal selbst erlebt.

Als ich das Buch gestern aufschlug, fand ich ein Gedicht von Elmar Podlech, das mich ganz neu ansprach. Er klagt darin über seine "Sprachlosigkeit" - ein Thema, das mich momentan auch beschäftigt. Wenn man die Wörter, die Ausdrucksweisen, die Sätze nicht findet, um das zu sagen, was einen bewegt. Eigentlich kann man das erst feststellen, wenn man die Worte zuletzt doch gefunden hat .... Ich rezitierte Elmars Gedicht. Er starb im April 2008, und es gehört sich wohl, dann und wann an die alten Kämpfer zu erinnern.

Es tat mir auch gut, meine Geschichte vorzulesen - das Thema ist nach 15 Jahren noch immer nicht inaktuell. Und die Leute hörten zu! Obwohl während des Lesens ein Gewitterschauer niederprasselte, blieben die Zuhörer auf ihren Stühlen sitzen, sie spannten einfach ihre Schirme auf. Sie saßen unter Platanen, das half auch ein Weilchen, den Regen fernzuhalten. 

Nächstes Mal mehr!

Frankfurt, 22. August 2010

Ach, was für eine herrliche Hitze! Man möchte sich mit aller Kraft an ihren Saum klammern, dass sie nicht weglaufe!

Gestern abend war ich im Theater. Ein hiesiges Alternativtheater - "Theater Praml" -  brachte Hölderlins "Hyperion" auf die Bühne. Zwar hatte ich mit dem Theater vor Jahren schlechte Erfahrungen gemacht, doch wurde nach der letzten Saison über eine Inszenierung so geredet, dass ich bedauerte, nicht hingegangenzu sein. Und dieses Jahr Hölderlin! Den ich seit vier Monaten mit Lust studiere! Da musste ich hin.

In einer ehemaligen Fabrikhalle waren ordentliche Sitze in aufsteigender Ordnung angebracht, und so saß ich bald da, voller Erwartung und Neugier. "Hyperion" ist ein Briefroman, der die inneren Zustände des Schreibers darstellt - nicht von vornherein auf Bühnendramatik angelegt.

Die Truppe übernahm Ausschnitte aus dem originalen Text, das heißt, es wurde erzählt. Insgesamt sechs männliche und drei weibliche SchauspielerInnen teilten sich die Sätze auf, manchmal im Chor gesprochen, in Anlehnung an das klassische griechische Theater. Die Darsteller sprachen  gut, wenn auch ein wenig pathetisch oder affektiert. So hielten sie öfter mitten im Satze inne, so dass man etwas verstand, was sich, sobald sie weitersprachen, als nicht richtig erwies. Ein Beispiel aus dem Gedächtnis (und mit dem Textbuch neben mir): "Wir hatten dann auch mit heitrem Feuer" - Pause - "uns über manches gestritten". Wahrscheinlich sollten die Zuhörer mit dieser Masche ans Zuhören gekettet werden. Ich gab mir alle Mühe. Nach etwa eineinviertel Stunden wurden die Zuschauer aufgefordert, "mit nach Athen" zu kommen. Das heißt, sich zu Fuß in das andere Ende der Halle zu begeben, wo ein paar griechische Säulen aus Pappmaché rumlagen und wo es zwar ein paar Stühle, aber nicht genug für das gesamte Publikum gab. Nun, diese Phase dauerte vielleicht 15, 20 Minuten, dann wurde eine "Pause" angekündigt.

Ich ging raus und fühlte mich unwohl. Müde und steif fühlte ich mich, und als ich genauer in mich schaute, sah ich eine schwere Niedergeschlagenheit. Dieses Theater war anstrengend und bot keinerlei Trost, geschweige denn Freude - wo doch die Freude Hölderlins oberstes Gut ist, noch über der Melancholie! Wie machten die das? Warum ließen die andern Zuschauer sich  das gefallen? Ich sah sie still wie in einer Trauerhalle zur Theke gehen, sich zu trinken und zu essen holen. Die meisten wandten sich hinaus in die warme Nacht, um im Hof zu wandeln, manchmal sprachen sie mit bedeckter Stimme zu einander. Grad, als wären wir bei einer Beerdigung. Die Gewichte der Depression lasteten nun so schwer auf mir, dass ich mein Fahrrad losband und nach Hause fuhr. Das Radeln weckte mich ein wenig aus der Steifheit und der Schwere.

Ja, wie machten die das? Sie entgingen der Eintönigkeit des Erzähltextes nicht genug, und da half es eben auch nicht, dass die fünf Männer meistens mit Sport und Fitness beschäftigt waren, um sich in Wallungen zu bringen, ja, sich einmal so gar völlig nackt auszogen, um sich synchron zu waschen, während ausgerechnet in diesem Moment drei schöne, von oben bis unten bekleidete Frauen an ihnen vorbei nach vorn schritten.

Der Text gibt manches her, unter anderm eine Beschimpfung der Deutschen. Ich galube, dass sich das Publikum hauptsächlich aus jenen gebildeten Bundesrepublikanern - ich nenne sie auch "BRDisten", was sich auf die alte, die westliche Bundesrepublik bezieht  - zusammensetzte, die gewohnt waren, sich schuldig zu fühlen, ohne sich darüber Rechenschaft zu abzulegen. Die Inszenierung bediente diese Schuldgefühle. Sie verlangte freiwilliges Leiden. So kann ich auch verstehen, dass eine Frankfurter Ausgeh-Zeitung dieses Stück an die Spitze ihrer Empfehlungen gesetzt haben soll, wie ich von meinem Sitznachbar erfuhr. In dem allgemeinen Spaß- und Krisen-Gerede noch einmal abtauchen in die alte deutsche Schuldaura aus der Vorwendezeit! Die kostbare Hölderlin-Sprache sanktifizierte diesen Gemütszustand.

Nun, so tröstete ICH mich. Und ich erwarte nicht, dass ein anderer unter den mehr als hundert Zuschauern von gestern abend versteht, was ich meine....

 

Frankfurt, den 18. August

Noch ist nicht Herbst, noch herrscht die Farbe Grün vor. Aber wir ziehen uns Jacken oder Mäntel an. Als ich gestern zwei billige Schirme in einem billigen Kaufhaus besorgen wollte, gab es keinen mehr. Keinen einzigen auf zwei Stockwerken. Die Wühlkästen enthielten vor allem Schulmaterial.

Da ging ich in den Kaffeeladen gegenüber und kaufte einen "Schirm für Herren", zusammenlegbar,  auf Knopfdruck. "Grade gestern frisch hereingekommen", verriet die Verkäuferin. Er besitzt eine bequeme Schlaufe, so dass ich ihn am Handgelenk tragen kann. So einen hatte ich noch nie. Praktisch, weil man ihn nicht überall ablegen muss - und dann vergisst.

Ich verliere meine Schirme, lasse sie irgendwo stehen, sobald es aufhört zu regnen, es ist eine Art Krankheit. Als ich gestern meinen Schirmständer untersuchte - da pflegten immer wenigstens sechs Schirme drin zu stehen - fand ich nur noch zwei vor, natürlich beide beschädigt. Also kaufe ich auf Vorrat, dachte ich mir. Offenbar hatten das andere auch schon gedacht.

Eben bekam ich mal wieder eine "Schneeball-Mail", seit langem keine mehr gehabt. Sie stammte von einer sympathischen Bekannten. Ich ließ mich drauf ein, es ging um sogenannte "Tibetische Fragen". Die stellte angeblich der Dalai Lama selbst. Naja, zum Schluss wurden mir Interpretationen zu meinen Antworten geboten, immerhin nichts Unangenehmes, aber dann sollte ich die Fragen an möglichst viele Menschen weiterschicken. Je mehr Addressaten ich eintrüge, desto mehr Glück würde mir in den kommenden Tagen, Wochen, Monaten zuteil.

Sowas mach ich nicht, dieses Vertrauen schenke ich nicht, auf einen solchen fliegenden Teppich setze ich mich nicht. Die Sache wurde gelöscht. Was sage ich nun der Bekannten, wenn sie mich das nächste Mal fragt?

 

 

Frankfurt, den 12. August

Es dauert doch ein paar Tage, ehe ich wieder etwas Ordnung in den Tagesablauf bringe. Post aufarbeiten, versprochene Anrufe tätigen und andere Verpflichtungen ausführen. Daraus ergeben sich neue Aufgaben, manchmal die reinste Hetze.

Jetzt habe ich das meiste erledigt. So wollte zum Beispiel die Gesellschaft zur Förderung der Literatur in Asien, Afrika und Lateinamerika, wo ich Mitglied bin, eine Liste von maximal fünf Autoren oder Autorinnen haben, von dem oder der ein gewöhnlicher Europäer schon mal gehört haben sollte, um mit seinem Gegenüber aus einem anderen Kontinent auf gleicher Ebene zu stehen. Trojanow (von dem die Idee stammt) stellt fest, dass "die gebildeten Inder oder Brasilianer ... in ihrer 'Heimatkultur' genauso bewandert (sind) wie in der kulturellen Tradition des Westens, was umgekehrt eher selten anzutreffen ist." Also: der Inder kennt Grass, aber kennt der Europäer auch Prakash?

Na gut, mit den Indern kenne ich mich auch nicht gut aus. Meine Vorschläge lauteten:

1. Assia Djebar. Sie ist Algeriern, schreibt französisch und hat eine gewisse Emanzipation der Araberinnen im Maghreb begleitet.

2. Machmud Darwisch. Ein, nein, DER palästinensiche Dichter, schreibt arabisch und allein die Übersetzungen haben mich dauerhaft begeistert.

3. Mo Yen. Über diesen chinesischen Schriftsteller habe ich letztes Jahr aus Anlass der Buchmesse geschrieben, ich lernte ihn bei Lesungen kennen, war hingerissen von seinem Humor und seinem Geist.

4. Gabriel Garcia Marquez. Ein südamerikanischer Autor von Welt - wer kennt ihn denn nicht ohnehin? Seine "Hundert Jahre Einsamkeit"?

Nun merk ich: Orhan Pamuk habe ich vergessen. Aber wo bleibt dann Hazim Nikmet? Wo bleiben Hafis und Rumi? Wahrscheinlich werden sich andere Mitglieder der Gesellschaft um diese kümmern.

 

Eine weitere Aufgabe bestand darin, mein Abschluss-Interview von Bordeaux durchzulesen und den Druck zu genehmigen. Es ist lang, es ist auf französisch und wird im September in der Vierteljahreszeitschrift von ECLA-Aquitanien erscheinen. Es gefällt mir. Stephan Ferry hat das Interview geführt und dann eine Zusammenfassung geschrieben. Wir hatten viele Stunden miteinander geredet, ich erfuhr bei dieser Gelegenheit selber ganz viel über Bordeaux und was dort so läuft.

Am 24. Oktober 2010, um 11 Uhr werde ich bei einem Frühstück im Café Wiesengrund (Frankfurt) noch einmal über meinen Bordeaux-Aufenthalt sprechen - das ist jetzt auch schon verabredet. Der Clou dabei: wir werden zu zweit sein, die französische Stipendiatin aus Aquitanien wird sich zu mir gesellen. Sie heißt Chantal Tanet, Näheres über sie kann man unter "www.literaturrat-hessen.de" erfahren. Sie ist eine jener französischen Intellektuellen, die einfach, direkt und freundlich auf  Andere zugehen.

 

Wiener Neustadt, 7. August

Wiener Neustadt hat ca. 40.000 Einwohner, Industrie, Flugfeld, viele Schulen und natürlich auch Kultur. Der wunderbare Buchladen von Frau Hidake lud gestern zu einer Lesung mit Musik - wegen des Wetters wurde sie in den Saal der Volkshochsschule verlegt, und der Saal war voll. Es mussten noch Stühle dazugestellt werden. Am Büchertisch lag viel Jüdisches. Im Mittelpunkt des Abends, so erfuhr ich, sollte ein Buch des amerikanischen Autors Jonathan Safran Foer stehen, der auf Deutsch im Fischer-Verlag erschienen ist: "Alles ist erleuchtet" heißt er, glaub ich. Wiener Neustädter Autoren hatten Eigenes zu diesem Buch verfasst und komponiert; darin bestand der Inhalt des Abends. Das Programm dauerte anderthalb Stunden.

Das Basisbuch handelte von der Suche eines jüdischen Amerikaners nach seinen Vorfahren in Europa und vor allem in der Ukraine und besaß - ich las Auszüge - den melancholisch-lächelnden Charme, den viele dieser Bücher besitzen. Mich interessierten die hiesigen Autoren, und vor allem ihr Eingehen auf das Thema.

Als erstes fiel mir auf, dass ausschließlich Männer auftraten. (Der Nachteil von reinen Männerveranstaltungen ist der, dass häufig eine Instanz zur Verhinderung von Eitelkeiten fehlt.) Als zweites wurde deutlich, dass die Herren vorzugsweise mit Sprachlosigkeit spielten: Lautmalereien, und, bei den Musikern, unverständliche Texte. Es wurden auch richtige Erzählungen vorgetragen; gut in Erinnerung blieb mir eine, wo zwei Jungs mit einem antiken Motorrad nach Charkow aufbrechen, um die Gräber der Großväter zu suchen. Doch als sich ihnen unterwegs eine schöne junge Frau anschließt, landet ihr prächtiges Motorrad bald im Straßengraben, und die Jungs geben ihren Plan auf. Ende der Geschichte.

Diese Erzählung repräsentiert recht anschaulich das Gelingen des ganzen Abends. Ziel nicht erreicht.

Heute morgen las ich im "Standard", dass bei Aufnahmeprüfungen für das Medizinstudium in Österreich Maturantinnen merklich schlechter abschnitten als Maturanten. Das wundert mich jetzt nur noch mäßig: offenbar sehen Frauen sich hierzulande per se im zweiten Rang. Gestern abend entdeckte ich keine, die etwas dabei fand, dass bei der Lesung nur Männer auftraten. Und im Geschäftssleben, sei es am Flughafen, an Bahnschaltern, im Hotel oder im Museum, bin ich noch keiner Frau begegnet, die bescheid wusste. Doch alle waren sie wunderschön angezogen und diskret geschminkt.

Rätselhaftes Österreich ...

 

Wiener Neustadt, 4. August 2010

Hier in Wiener Neustadt bin ich, um die Konzerte zu besuchen, an denen mein Enkel beteiligt ist, und um zu schreiben. Bekanntlich war ich schon in Bordeaux, um Material für einen Roman zu sammeln, den ich bereits begonnen hatte. Eine Geschichte, reine Fiktion, und doch. Um mit Elfriede Jelinek zu reden: man bringt sein Herzblut ein .... ohne dass ich mich, wie könnte ich!, mit der Nobelpreisträgerin vergliche. Aber ein Herz hat doch jeder ...

Hier komme ich nun tatsächlich vorwärts. Auf dem Weg besorgte ich mir ein Buch, das mich schon vor zehn Jahren angeguckt und angesprochen hatte, nur ergab sich bislang keine Nische, mich ihm zu widmen. Die finde ich JETZT. In derselben Nische bringe ich es unter, in der ich schon Hölderlin und manche andere verwahre. Jetzt, wo ich die Zeit dafür habe.

Das Buch heißt "Gott ist schön", es handelt von der Ästhetik des Korans, und sein Verfasser ist Navid Kermani, in Deutschland geborener und aufgewachsener Sohn eines iranischen Flüchtlingspaares.

Es erschien schon 1999 (bei einer Lesung erlebte ich Kermani selbst und war bleibend beeindruckt), es enthält seine Dissertation. Der Autor spricht nicht so sehr über den Koran selbst als über die Wirkung auf dessen Hörer und später die Leser. Mit seiner Belesenheit aus den Bibliotheken des Abend- und Morgenlandes zeigt Kermani, wie wichtig die Schönheit der Korantexte für die Muslime war und ist. Er beschreibt die Wirkung mit eigenen Worten und mit Zitaten, und immer folgt ihm die Leserin, als schreite sie auf einem weichen Teppich ....

Ich möchte einen winzigen Auszug hier hineinsetzen, und hoffe, ich darf das. Der Auszug entstammt Kapitel I, "Die ersten Hörer", wo ich einen "Exkurs über Sprachmagie" fand. Unter Magie versteht Kermani keinen "Hokuspokus", wie er schreibt, sondern eine unmittelbare Wirkung, wie sie in alten Zeiten üblich war:

"In der mythischen Epoche, die Vico skizziert, wird es keine sprachlichen Abstraktionen gegeben haben, keine <leeren Worte>, nichts, was <einfach dahergesagt> wäre, keine Umgangssprache, wie Karl Kraus sie verspottet hat: <Umgangssprache entsteht, wenn sie mit der Sprache nur so umgehen; wenn sie sie wie das Gesetz umgehen; wie den Feind umgehen; wenn sie umgehend antworten, ohne gefragt zu sein.> Was gesagt oder verschwiegen wird, ist niemals gleichgültig oder wirkungslos und immer konkret. Kein Bedürfnis entsteht nach Taten, die den Worten folgen sollen, wie man es als Floskel sagt. So gesehen, hatte Goethes Faust unrecht, als er anstelle des biblischen <Am Anfang war das Wort> die Tat als Ursprung reklamierte. Das Wort IST in alten Kulturen Handlung, auch in der griechischen, wo <logos> für beides, Wort und Tat, steht ......... Faust hat also lediglich eine andere Übersetzung des griechischen Begriffes gegeben - wodurch er gleichzeitig, von Goethe visionär erfasst, die präzise Konsequenz aus dem faktischen Auseinandertreten von Wort und Tat zog, das als Ausganspunkt der modernen Zivilisation benannt werden kann."

Das spricht mir so aus dem Herzen! Dabei habe ich gerade erst das zweite Kapitel des Buches begonnen.

Wiener Neustadt, 2. August

Allmählich wird mir der Ort vertraut, ich finde ungewöhnliche Winkel, von denen niemand spricht. Zum Beispiel das Stadtmuseum, in einem ehemaligen Kloster untergebracht. Es wirbt mit einer zeitgenössischen Ausstellung: abstrakte bunte Zeichnungen, die "Menschenbilder" genannt werden, ohne dass ich Menschen erkennen konnte, vor allem auch ohne wesentliche Abwechslung. Da ich gestern nach dem Mittagsmahl beim Umherschweifen in der sonntäglichen Stille der Altstadt das Muesum geöffnet vorfand, trat ich ein. "Pensionistin?" "Ja". Da brauchte ich nur einen Euro fünfzig zu zahlen. Rasch gelangweilt von den Zeichnungen, vertiefte ich mich in alte Kataloge, die über Kaiser Maximilian und über den Habsburger Ferdinand berichteten, sie lebten zwei Generationen früher als der gute König Henri Quatre. (Das ist das Spannende: es lassen sich Quer-Verbindungen herstellen!)

Dann machten mich die jungen Damen an der Kassa freundlich darauf aufmerksam, dass in 15 Minuten geschlossen würde. So lief ich rasch in die hinteren Räume und entdeckte, zu meiner Überraschung, nichts hatte mich darauf vorbereitet, ein komplettes historisches Museum von der Neustadt und ihrer Umgebung! Liebevoll aufgebaut, ohne Überladungen, stellte man alles von der Hallstattkultur über die Römerzeit, die Habsburger, die Industrialisierung im 19. Jahrhundert bis zur Fliegerei am Beginn des 20. dar! Mit Lok-Modell und Flugmodell! Modern und anschaulich.

Doch einen Katalog des Museums, ja auch nur Postkarten von dem Gemälden und Gegenständen suchte ich vergeblich.

Das ist Wiener Neustadt. Es gibt Winkel, wo der Geist leuchtet, doch nur wenige Auserwählte bemerken es....

 

Wiener Neustadt, 31. Juli

Eben entdecke ich den Ausdruck "Geopoesie". Er scheint aus Frankreich zu stammen, doch fand ich ihn im Zusammenhang mit Kenneth White, einem Schotten. Dieser publiziert nicht nur auf Englisch, sondern auch direkt auf Französisch, er lebt schon lange in Frankreich. Ja, ein Zeitgenosse, zwei Jahre jünger als ich. In Bordeaux war er den Buchhändlern bekannt und wichtig. Er fungierte als einer der zwei Übersetzer eines Hölderlin-Gedichtes ins Französische ("Andenken", das mich noch immer beschäftigt).

Mein Eindruck, dass er mit Hölderlin verwandt ist, rührt aus ihrer beider Bedürfnis, Wort und Wurzeln zu vereinen, das Gefühlte in vollkommene Formen der Sprache zu gießen.

Wie erkennt man "Vollkommenheit"?

Eine andere Frage drängt sich auf: wie bewahre ich meine Konzentration unter den Lautsprechern des Internet-Ladens? Ein immer gleicher, mit sparsamen Formen arbeitender orientalisierter Gesang, eine Frauenstimme, eine Männerstimme, ein türkisches Orchester, manchmal vereinigen sich beide Stimmen. Das alles in einer Lautstärke, die zwar nicht wehtut, doch ein Überhören sehr anstrengend macht.

Was "Geopoesie" angeht, so sucht sie, im Rücken jeglicher Dekonstruktivismen, einen Halt im Ort, im Lokalen, in dem geologischen Platz, an dem sich einer befindet. Hat sich nicht auch Hölderlin immer wieder an die Landschaft seiner Heimat gewandt, an den Fluss, die Berge und Täler, den je besonderen Wandel der vier Jahreszeiten? An die Städte und Orte, in denen er lebte? Boten ihm die Ufer, die Felsen, die Bäume nicht letztlich jenen tiefen Halt, den er nirgendwo anders fand? Gewiss bedeuteten sie ihm immer mehr als nur "Baum", "Blüte", "Vogelgesang"; in der Vieldeutigkeit fand er den Raum zum Atmen, dort brachte er "Gedächtnis" unter. Die geologischen Erscheinungen dienten ihm als Meilensteine der Erinnerung, der sinnstiftenden.

"Was bleibet, stiften die Dichter," heißt es in "Andenken".

Wiener Neustadt, den 30. Juli

Mal wieder auf Reisen. Nach fünf Tagen des Suchens habe ich endlich einen gewöhnlichen Internetladen gefunden. Niemand vermochte mir was Genaues über einen solchen Ort in der Stadt zu sagen. Der vom letzten Jahr verkauft jetzt nur noch Handys. Im Hotel könnte ich zwar ins Internet, aber das Gerät ist außerordentlich langsam - für einen Euro fünfzig habe ich kaum Zeit, um eine Mail zu öffnen und zu beantworten! Ärgerlich.

Wiener Neustadt hat eine bunte Bevölkerung, es besteht aber wohl Segregation. In den Cafés auf dem Hauptmarkt und auf den dorthin führenden Straßen (aus meiner Richtung) sehe und höre ich fast nur eingeborene Östreicher . Im Internetladen dagegen wird wohl hauptsächlich Türkisch gesprochen.

Aus den Zeitungen ersehe ich keine Auseinandersetzung, bzw. nichts von der tatsächlich vor Ort stattfindenden. Es hat was Unheimliches, vergleichbar einer drohenden Gewitterwolke hinter hohen Baumwipfeln, so dass man sie nicht sieht.

Gestern hatten wir so ein Wetter. Am späten Nachmittag setzte ein Dauerregen ein.

Daher wurde es nichts mit dem Fackelschein beim Klavier-Konzert im Hofe der "Theresianischen Militärakademie". Das Konzert wurde in einen Saal verlegt, der jedoch seine eigene Feierlichkeit mit den vielen General-Porträts und beschrifteten Marmortafeln an den Wänden entfaltete. Die Pianisten bekamen sorgfältiges Scheinwerferlicht, das den zusätzlichen Kerzenschein in seiner Romantik nicht einschränkte.

Mein Enkel Emil Reinert war unter der Pianisten, die gegenwärtig in der Nähe ein internationales Seminar besuchen. Emil spielte Chopin - es wird z.Zt. Chopins 200ster GEburtstag gefeiert, und seine Musik legt wahrhaftig keine Patina an. Mein Enkel spielte so wunderbar, dass ich als Grossmutter mich um Bescheidenheit bemühen musste, vor lauter Lobpreisungen. Nun, es bekam mir gut. Dem Emil hoffentlich auch. Ich werde ihn erst morgen wieder sehen, beim nächsten Konzert.

 

Frankfurt, den 25. Juli

Eben finde ich die Nachricht vor, dass mein Bericht über das Gallus-Zentrum und die dortige Filmvorführung jetzt unter

www.spd-sachsenhausen.de/Gästebuch

zu lesen ist.

 

Gestern bekam ich "Oden und Epigramme" von Klopstock aus dem Nachlass von Musch Steinschneider - eine in Fraktur gedruckte Reklam-Ausgabe ohne Erscheinungsjahr.

Klopstock schreibt:

"Du, Gedanke, bist der Gebieter. Die folgsame Sprache

Ist dir getreu und hold. Sie ist der edelsten Worte

Geberin in dem Gedicht'. Ihr dient mitsingend der Wohlklang,

Ihr mitsingend das Silbenmaß. Doch, wenn einer der letzten

Herrscher wird, so verwundet die Sprache dieser Empörer;

Bleich durch den Dolchstoß sinkt sie; mit ihr der entnervte Gedanke."

 

Klopstock lebte eine knappe Generation vor Hölderlin und war diesem ein Vorbild.

 

 

 

Frankfurt, den 23. Juli

Wie lehrt man Kinder die Kulturtechniken, die man für ein erfolgreiches Berufsleben in Deutschland braucht? Das sind etwa Lesen, Rechnen, Konzentration. Konkurrenz auf diesen Feldern. Kreativität.

Diese Fragen beschäftigen mich nun schon eine Weile, und sie tauchen auch wieder im Zusammenhang mit dem Hamburger Volksentscheid auf. Wenn man alle Schulkinder am Anfang sechs Jahre lang zusammen lernen lässt anstatt nur vier, so dachte man in Hamburg, werden mehr Kinder in diese Kulturtechniken eingeführt. Eine Mehrheit entschied jedoch gegen die sechsjährige Grundschule.

Eine Mehrheit, die sich aus den Leuten zusammensetzte, die solche Kulturtechniken bereits beherrschen. Die andern, diejenigen, denen sie fremd sind, nahmen fast nicht teil an der Abstimmung. Was lehrt uns das?

Diese andern, die sogenannten "kulturfernen Schichten", wussten nicht bescheid. Ihnen war die Chance nicht bewusst, die ihnen geboten wurde. Vermutlich verstanden die meisten gar nicht, worum es eigentlich ging. Die Politiker, die sich um die Einführung dieser Chance bemühten, versäumten es offenbar, sie den betroffenen Eltern plausibel zu machen. Sie hätten von Haus zu Haus gehen müssen, reden, erklären, verheißen, werben. Dafür braucht man auch erstmal einen Zugang zu diesen Häusern oder Wohnungen oder Eltern - wie findet man den Zugang? Man braucht Zeit, die richtige Sprache, die geeigneten Argumente. Es kostet viel Kraft. 

Als "bezahlte Arbeit" kommt dergleichen schon gar nicht in Frage. Als was denn sonst?

Worin besteht politische Arbeit?

Ich denke, dass jedes einzelne Kind Unterstützung braucht, um sich mit den "Kulturtechniken" vertraut zu machen, ihre Bedeutung zu verstehen, sie sich anzueignen, überhaupt erst den Willen dazu zu entwickeln. Jedes einzelne Kind, auch im Zusammenhang mit dem Elternhaus. Das Selbstbewusstsein muss gestärkt werden.

Im Frankfurter Gallus-Zentrum fand neulich ein Filmvorführung statt: Jugendliche hatten Videos über ihren Alltag gedreht, und die Videos schaute man mit Begeisterung an. Die Leiterin des Zentrums berichtete jedoch, dass die Jugendlichen sich gefürchtet hätten, die Videos öffentlich zu zeigen, weil sie sich gar nicht vorzustellen vermochten, dass sie etwas anderes als "Scheiße" produziert hätten. Das Selbstbewusstsein! Wie es scheint, werden die Schüler in manchen weiterführenden Schulen systematisch gedemütigt.

Unter www.spd-sachsenhausen.de habe ich einen Bericht über die Veranstaltung im Gallus-Zentrum geschrieben (wegen technischer Probleme kann sich das Erscheinen noch etwas verzögern).

 

Frankfurt, den 22. Juli

Die Hitze lässt ein wenig nach, sie steckt aber noch in den Häusern. Heute kam ich mit dem Fahrrad auf der Straße an zwei Leuten vorbei, die über die Hitze sprachen, und ich hörte die Frau sagen, wie heiß es in ihrer Wohnung sei. Sie wedelte mit dem Stoff ihrer Bluse über der Brust und sagte: "ich arbeitete im Schweiße meines Angesichts."

Es war dieses Bibelzitat, das nach ihrem Empfinden die Enormität des Schwitzens am besten ausdrückte, besser als "lief der Schweiß in Strömen" oder "war ich gleich klatschnass" oder so was Ähnliches. Mich wunderte es, amüsierte mich auch.

Heute konnte ich noch mal mit meinen Lesekindern lesen. Ich hatte neulich ein Kinderbuch von Hans Magnus Enzensberger gefunden, es heißt "Bips", und die Kinder mögen es sehr. Der Junge wünschte sich heute sogar, es ein zweites Mal zu lesen. Es sei so schön. Die Geschichte beschreibt verschiedene Gemütszustände eines Jungen, der Bips heißt und der sich wütend in einem Wäschekorb versteckt hat. Dort lebt er allerlei Fantasien aus: von giftgrünen Kaugummis und einem seidenen Fallschirm und vielen anderen Dingen, die ihm zustoßen.  Das Buch ist in einem wunderbaren Deutsch abgefasst, und doch läuft es den Kindern wie selbstverständlich über die Zunge. 

Eine ganze Stunde hielten wir durch, und danach waren alle fröhlich.

Im nächsten Schuljahr, dem dritten,  werde ich noch ein Weilchen weiter mit ihnen arbeiten, denke ich. Bis sie allein alles wie selbstverständlich lesen können.

 

Frankfurt, 17. Juli

In Lilianes Garten

Verborgen in einem Dörfchen am Rande des Odenwalds, weitab von der Landstraße, die um das Gebirge herum- oder in Abzweigungen auch hineinführt, liegt Lilianes Garten. An einem dieser warmen Sommerabende war ich zu Gast dort. Das Pförtchen hinter dem Haus stand offen, ich wurde erwartet. Der Platz, auf den ich trat, war gesäumt von Blumentöpfen mit Setzlingen oder Bäumchen, mit exotischen oder blühenden Pflanzen. Vor mir, unter hohen Bäumen, begrenzt von Hecken und Sträuchen, schlängelte sich ein Weg durch das Gras, an Gemüse-Beeten vorbei. Es war ein alter und zugleich frischer Garten. Die Beete zeigten keine Spur von jener Zwanghaftigkeit, die ich von den Beeten meiner Kindheit kannte: erstarrt unter Ordnung, Gradlinigkeit und die Nutzfläche bis zum Rande. Hier arbeitete einer aus Vergnügen, nahm sich Platz und Zeit, säte nach Bedarf. Es war Lilianes Mann, wie ich nachher hörte.

Ich atmete die Düfte ein, so vielfältig, ich konnte sie nicht benennen und doch waren sie mir vertraut. Sie weckten Erinnerungen und Sehnsüchte. Seitlich eröffneten sich Bögen in den Hecken, hinter denen ich andere Beete, andere Hecken erahnte. An Nutz- und Ziergrün vorbei wand ich mich bis zu dem Sitzplatz, an dem schon die anderen saßen und plauderten und den man vom Haus aus kaum hatte erkennen können. Hinter einer dichten Brombeerhecke erstreckte sich noch eine Obstwiese, der Garten erschien mir unendlich. Ich forschte nicht weiter, es war mir, als sei ich angekommen. Drei Schritte entfernt leuchteten rote Johannisbeeren aus dem Grün.

In diesem Garten, in dieser Umgebung, mit diesen Gastgebern verschmolz die Gruppe zur Gemeinschaft. Wir besprachen unsere nächsten Auftritte, eine fröhliche Zufriedenheit herrschte über uns. Jeder, jede schreibt anders, und sah sich doch von allen anerkannt und einbezogen. Der Duft, die Vogelstimmen, die Scherze .....

Es dämmerte, als ich aufbrach. Ich fuhr mit dem Auto durch die grünblaue Landschaft, und vor mir, direkt über dem graden Straßenband, stand die Mondsichel am Himmel. Das vollkommene Bild einer schmalen Mondsichel. Sie schien zu sinken. Ja, sie sank stetig, während ich weiterfuhr, es war, als wollte sie sich mir vor die Füße legen. Eines leichten Schwindels musste ich mich erwehren, was tu ich mit dem Mond? "Konzentrier dich", dachte ich, und vergaß schließlich den Mond, als ich in die Stadt kam. Auf der Autobahn gab es keinen Mond mehr, die Nacht war jetzt vollkommen dunkel. Nur die Scheinwerfer blieben übrig. Und die Erinnerung.

Frankfurt, 15. Juli

Auszüge aus meinem Leserbrief an die ZEIT erscheinen in der heutigen Ausgabe der ZEIT!

Genauer gesagt: der Abschnitt über die Mehrsprachigkeit.

Frankfurt, 12. Juli

Montag früh, in der Wohnung steht die Hitze. Draußen, auf dem Balkon, duftet der Sommer, regt sich ein Lüftchen, herrscht Frische in des Wortes ursprünglicher Bedeutung.

Das Wort "Frische" wurde von der Werbebranche eingekauft und prostituiert. Ich wage es kaum es zu benutzen. Nur weil ich alt bin und seinen eigentlichen Sinn noch kennengelernt habe, fällt es mir ein, wenn ich hinaustrete, in den Sommermorgen unter dem blauseidenen Himmel, und meine Nase sich ausdehnt im Vergnügen des Atmens.

Zwei Tage schon leben wir unter der Hitze. Samstag hatte ich Besuch aus Württemberg, die Freundin wollte Kirchner im Städel angucken und wenn möglich Frankfurter Architektur aus den zwanziger Jahren. Freitag abend holte ich sie vom Zug ab und zeigte ihr als erstes, und im Licht der Abendsonne, die "Heimatsiedlung", die auch dem damaligen Frankfurter Baurat Ernst May zu verdanken ist. Ende der zwanziger Jahre baute die Gewerkschaft für ihre Leute diese Siedlung, die nach außen abgeschlossen wirkt, die innen Gemeinschaft und Abwechslung bietet. Der Besuch erfüllte uns mit friedlichen Gefühlen.

Samstag zeigten die Thermometer in der Stadt 38°C, als wir uns am Nachmittag gegen vier Uhr auf den Weg in die "Römerstadt" machten. In der Nähe der U-Bahnstadtion entdeckte ich einen Kiosk, sowas heißt in Frankfurt "Wasserhäuschen",  in der Hitze schritt ich zielstrebig dorthin, trat grüßend zwischen die Männer, die sich gegen die Wände lehnten, mit einer Bierflasche in der Hand, und sie grüßten lachend zurück, freundlich, ohne jeden Hauch von Feindseligkeit. Vor mir kaufte ein Mann ein winziges Fläschchen Schnaps, es kostete mehr, als er gedacht hatte, er versuchte zu handeln. Der Frau hinter dem Schalter, mit indischen Zügen, fiel ein Schatten von Müdigkeit über das Gesicht. Ich kaufte eine Cola.

So zogen wir los, in leichtem Taumel, fast ohne Gewicht, und schauten die Bauhaus-Bauten an. Ein lang sich hinstreckendes weißes Gebäude, vierstöckig, doch weil die Straße abschüssig ist, sinken die vier Stockwerke alle zwanzig Meter (oder mehr) um ein halbes Stockwerk, so dass die Fassade auf eine einladende Weise gegliedert ist, denn sie biegt sich gleichzeitig, es gibt bei aller Gleichheit der Fenster und der Treppenhäuser keine Eintönigkeit. Das Haus steht vor dem Eingang der berühmtesten Frankfurter Siedlung, bekannt als Ernst-May-Siedlung: lauter Einfamilienhäuser für Menschen, die nicht reich sind. Hier entstand die "Frankfurter Küche", die erste Einbauküche, die als Arbeitsplatz konzipiert der Hausfrau auf engem Raum Platz und Bequemlichkeit bot. Freilich gelang es uns nicht, eine solche Küche mit eigenen Augen anzugucken; es gibt sie noch in einem Ausstellungshaus, das aber nur am ersten Samstag im Monat geöffnet hat. In den andern Häusern haben die Bewohner seit 1928 Änderungen vorgenommen. Nur nach außen nicht. Da wird das Copyright gewahrt.

Unter dem Gewölbe der Hitze bekamen der bebaute Raum, die Blumen und Sträucher darin, die explodierenden Blütenbälle der Hortensien etwas Weihevolles, unser Besuch etwas Einmaliges, nicht Wiederholbares. In unserer Benommenheit wuchs unsere Wahrnehmungsfähigkeit, wir fühlten uns hinein in dieses Wohnen im Grünen, auf engen Quadratmetern, in den wohl bedachten Proportionen jedes einzelnen Details.

Als wir nach Sachsenhausen zurückkehrten (wo ich wohne) und hier die alten hohen Wohnhäuser betrachteten, fiel uns vor allem die Weite auf zwischen den Häusern. Breite Straße, hohe Fenster - es war, als könnte man ein bisschen aufatmen.

Frankfurt, den 8. Juli

Noch immer beschäftige ich mich mit Hölderlin. Ich arbeite an einem Essay über das Gedicht "Andenken" und betrachte dabei gleichzeitig meine eigenen Erinnerungen. In einem Brief spricht Hölderlin von "Zärtlichkeit", die er dort in Frankreich angetroffen habe, und stellt sie in Gegensatz zur "Popularität" in Deutschland, womit er, nehme ich an, so etwas wie Volkstümlichkeit meint.

Im Deutschen weckt mir das Wort "Zärtlichkeit" oft Unbehagen, es sagt nicht dasselbe aus wie die französische "Tendresse". Diese kommt mir unaufdringlicher vor als jene. Eine "Tendresse" lässt sich auch äußern, wenn man jemandem nicht zu nahe treten will; mit "Zärtlichkeit" ist das fast unmöglich. Sie bedeutet immer auch Intimität. Als er aus Frankreich kam, sprach Hölderlin von Zärtlichkeit, so darf ich das in meinen Erinnerungen vielleicht auch tun?

Freilich will ich keineswegs sentimental werden, und so werde ich die Hölderlin-Bücher erstmal beiseite legen und mich anderen Dingen zuwenden. Morgen kommt eine Freundin zu Besuch, die etwas über Architektur in Frankfurt erfahren möchte. Das Deutsche Architektur-Museum ist leider geschlossen, wie ich schon herausfand; doch gibt es ja die verschiedenen Ernst-May-Siedlungen mit der "Frankfurter Küche", und da lohnt sich ein Besuch.

Heute rief mich die Bank an, und ich erfuhr, dass sich Betrüger an mein Konto herangemacht hatten. Die Bank sperrte meine Kreditkarte. Die Betrugssummen würden mir nicht angerechnet, sagte man. Mir schien, sie waren noch nicht hoch, ich fragte nicht. Es erleichterte mich zu erfahren, dass da jemand ständig aufpasst. Denn von der Kreditkarte bekomme ich die Abrechnung nur einmal im Monat, so dass ich von betrügerischen Abhebungen zunächst nichts erfahre. Auf meine Frage, wie das geschehe, erläuterten mir die Banker: Betrüger stehlen die Daten von Händlern, probieren sie dann erstmal mit kleinen Beträgen aus. Gegen diese Hacker könne zunächst keiner was tun. Ich hätte doch fragen sollen, wie es weiter geht! Aber ich war mit meinen Gedanken woanders....

Frankfurt, den 7. Juli

Leserbrief an die Wochenzeitung DIE ZEIT
 zu „Ist Deutsch noch zu  retten?“, Seite 44, ZEIT vom 1. Juli 2010

„Rettet die deutsche Sprache!“ stand auf dem Titelblatt der ZEIT vom 1. Juli, doch der so angekündigte Artikel war nur mit „Ist Deutsch noch zu retten?“ überschrieben. Natürlich nicht, wenn man dem Verfasser glaubt.
„Deutsche Akademien machen sich Sorgen, Sprachvereine werden gegründet“ – nach Ansicht der „ZEIT“ ist das ein Teil des Problems. Offenbar denkt man dort, dass Deutsch so lange gesichert wäre, als sich niemand drum kümmert. Es wird denn auch im ganzen Artikel mehr über Englisch geredet als über die deutsche Sprache. Ja, man macht sich Gedanken über die Qualität des Englischen, die natürlich beim Globalisierungs-Rap verloren zu gehen droht. Besorgt ist man auch über die wachsende Kluft zwischen Gebildeten und Ungebildeten innerhalb der Republik („wissenschaftliche Elite und Staatsvolk“), was doch die Demokratie bedrohe. Als ob das früher anders gewesen wäre! Als ob nicht die deutschen Akademiker, oft bis heute noch, ihre ganze Energie dahineinsetzten, auf deutsch schwer verständlich zu sein!
Der ganze Artikel ist rückwärts gewandt und von Schreckensstarre geprägt. Oder sogar von Vorurteilen gegenüber Menschen, „die auf der einen Seite  der gesellschaftlichen Skala“ sich als „unfähig oder unwillig“ erweisen, deutsch zu lernen! Großer Gott, als ich 1991 nach Frankfurt kam, wurde ich, wenn ich das Wort „deutsch“ gebrauchte, als „nationalistisch“ beschimpft, oder ich hörte: „Ich ein Deutscher?? Dann müsste ich mich ja schämen. Ich bin Europäer!“ Süffisant antwortete ich: „So reden nur Deutsche.“ Aber dass proletarische Zuwandererkinder bei solchen Auffassungen keinen Gewinn für ihr Selbstbewusstsein finden konnten, wenn sie korrektes Deutsch verwendeten, sprang auch in die Augen.
Ich hatte als Übersetzerin in der EU gearbeitet, deutsche Abteilung. Ich kann mehrere Sprachen. Ich lebte lange Zeit in einer Umgebung, wo jeder Mensch mehrere Sprachen benutzte. Nicht immer fehlerfrei, aber immer zum Zwecke der Verständigung. Mit dem Bedarf verfeinert jeder seine Sprache(n). Im ZEIT-Artikel kommt das Wort „mehrsprachig“ nicht vor. Vermutlich vertritt der Autor noch immer den Standpunkt altdeutscher Bildungshuberei, wonach Mehrsprachigkeit eine Bastard-Eigenschaft sei. Also das Gegenteil von reinrassig. (Vor Jahren hörte ich den „Bastard-Begriff“ im Zusammenhang mit Mehrsprachigkeit bei einer Tagung der Deutschen Akademie für Sprache.)
Eigentlich weiß doch jeder, dass heutzutage die Mehrsprachigkeit eine Überlebensnotwendigkeit ist, überall auf der Welt. (Unter „Mehrsprachigkeit“ verstehe ich im Idealfall Muttersprache plus zweite Sprache oder mehr.) Wenn halbgebildete Geldleute meinen, sie müssten ihre Kinder früh auf Englisch trimmen, so geben sie vermutlich ihre eigene, in der Jugend gelernte Missachtung für das Deutsche mitsamt der ebenfalls erlernten Sakralisierung „unserer Demark“ weiter. Wenn Wissenschaftler auf Englisch veröffentlichen, sollten sie Englisch auch wirklich können und sie sollten vor allem Deutsch beherrschen, damit sie wissen, was sie schreiben, und damit sie auch auf Englisch schreiben können, was sie wollen.
Wie schade, dass zwei große Seiten zu diesem wichtigen Thema so unnütz vertan wurden.

 

(Vermutlich nicht abgedruckt, da ich keine entspr. Mitteilung erhalten habe.)

Frankfurt, den 3. Juli

Liegt es an der Hitze, dass ich nicht so recht ins Tagebuchschreiben zurückfinde? Oder an der Verwirrung, die bei der Rückkehr ins Altgewohnte entsteht? Weil es "Alt-Gewohntes" eigentlich nicht mehr gibt nach längerer Abwesenheit?

Ich war nur zwei Monate in Bordeaux. Doch habe ich dort jeden Tag genützt für Neugier. Ich war ständig voller Lust auf Neues. Jeden Tag, und auch dort bildeten sich bald Gewohnheiten: der Gang zum Bäcker, die Tageszeitung. Tee oder Kaffee oder beides?

Wieder in Frankfurt, brachte ich die Lust auf das Gespräch mit den Menschen mit, die mir begegnen, in der Nachbarschaft, auf Festen oder in der Schule, wo ich noch mal wieder lesen übe mit meinen zwei Zweitklässlern (die inzwischen ins dritte Schuljahr versetzt wurden). Ich habe eine Art Fröhlichkeit aus Bordeaux mitgebracht, eine Stimmung, die ich dort in jedem Laden fand - zum Beispiel bei dem Zeitungshändler, der nicht allein angeln gehen wollte und seinen Kunden einlud, mitzukommen, obwohl es viel zu kalt war. Beide lachten!

Freilich weiss ich nicht, ob ich mir die Stimmung hier in Deutschland bewahren kann. Die Leute nörgeln lieber als zu lachen. Oder sie sind nur höflich, ohne diesen Hauch von persönlicher Zuwendung, die es in Frankreichs Stadtvierteln gibt, dort, wo man sich kennt.

Eine eigene Stimmung zu bewahren, für die es keine Erwiderung gibt, ist deswegen eine Unmöglichkeit, weil das rasch in einen Wahn umschlagen kann. Oder auf die anderen so wirkt wie ein Wahn. Wenn es mir nicht gelingt, diejenigen, die mir begegnen, mitzunehmen in die Stimmung der heiteren Aufmerksamkeit, dann steh ich allein und wie ein Trottel da. Glücklicherweise hat die Natur mich mit einem Lächeln begütert, das von jeher ansteckend gewirkt hat und auf das ich selbst im Alter noch zählen kann. Ich kann es dosieren, je nach der Aufnahme, die es beim Gegenüber findet. Welch ein Vergnügen, wenn es erwidert wird!

Die Frage bleibt, wie oft mir zum Lächeln zumute ist. Einstweilen habe ich noch Hölderlin, um mich in Begeisterung zu tauchen. Er trägt sein Herz hinein in die hohe Poesie, da gibt es keine Worthuberei, da bedeutet jedes Wort ein Vielfaches. Erschreckt hat mich sein Zorn gegen Ende des Hyperion-Romans: ein fürchterlicher Zorn auf die geistige Enge in Deutschland. Der Roman, um 1795 erschienen, spielt in Griechenland, zu einer Zeit (um 1770), als die Griechen versuchten, ihre Unabhängigkeit zu erkämpfen, und das ohne Erfolg. Der Erzähler flüchtet sich für eine Zeit nach Deutschland ....

Frankfurt, den 24. Juni

"Integration" bedeutet vielerlei; in der Politik betrifft es gewöhnlich das Verhältnis von Einheimischen und Zugewanderten - Migranten in erster, zweiter, dritter Generation, eingebürgerte oder nicht eingebürgerte. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie sich - ich rede von der Bundesrepublik - auf Deutsch miteinander verständigen. Das war so, seit der erste Gastarbeiter kam. 

Dieser Tage wohnte ich einem öffentlichen Gespräch über das Thema "Deutsch als Sprache der Integration" bei - mein Thema seit so manchem Jahr. Die Diskussion fand im Holzhausenschlösschen statt; das ist eine Villa aus dem 19. Jahrhundert, die sich als Wasserschlösschen verkleidet hatte und heute einer "Frankfurter Bürgerstiftung" zum Domizil dient. (Das Programmheft enthielt einen Aufruf zur "jährlichen Teichreinigung" - "alle ehrenamtlichen Helfer sind herzlich willkommen!")

Das Schlößchen liegt inmitten einer vornehmen Wohngegend mit Villen und geräumigen Wohnhäusern aus dem 20. Jahrhundert. Dementsprechend gehörten auch die Besucher der Diskussion durchweg den höheren Ständen an, vermutlich überwiegend Lehrer. Der Moderator, Dr. Kaehlbrandt, verband elegant und kompetent die Aussagen der fünf Gesprächsteilnehmer, die sämtlich ebenfalls dem akademischen Milieu entstammten und ihr jeweiliges Feld meisterlich vertraten: Grundschule in einem "Problemviertel", das Amt für multikulturelle Angelegenheiten, Masterstudiengang "Interkulturelle Bildung, Migration und Mehrsprachigkeit", eine Deutschrussin aus Kasachstan, die es aus eigenem Antrieb zu perfekter Zeisprachigkeit gebracht hatte, und ein türkischer Unternehmer, von dem man das Gleiche sagen kann.

Ich lernte an diesem Abend, wie viele Projekte und Inititativen der Förderung es allein in Frankfurt gibt, vielmehr, ich bekam eine Ahnung davon: polytechnische Gesellschaft, Diesterwegstiftung, um nur zwei zu nennen - und die AWO-Freiwilllig-Agentur, für die ich (und viele andere) mit Kindern lesen übe, wurde gar nicht erwähnt. Ich lernte aber auch, dass trotz einzelner Bemühungen, trotz Pilotprojekten die öffentliche Schule sich kaum weiter bewegt. Dort hängt es noch immer von Lehrern und Schulleitern ab, ob und wie weit man auf den einzelnen Schüler eingeht.

Denn soviel war auch an diesem Abend klar: jedes einzelne I-Männchen - und I-Frauchen füge ich heute hinzu -  bringt ein eigenes Vorwissen mit, das sich nicht mit dem der Mitschüler deckt und das der Lehrer zunächst nicht einschätzen kann. Der/die LehrerIn müsste auf jedes einzelne Kind eingehen.

Mein bevorzugtes Thema - "die Kinder sind zweisprachig" - aber wurde unterschiedlich angegangen. Der von Dr. Kaehlbrandt favorisierte und inzwischen für die Lehrerausbildung in ein oder zwei Bundesländern gültige Terminus heisst "Deutsch als Zweitsprache", während man früher eher von "Deutsch als Fremdsprache" redete.

Ich hatte zum Schluss Gelegenheit, meinen Standpunkt dagegen zu setzen: indem man Deutsch zur "Zweitsprache" deklariert (natürlich ohne auf die erste zu gucken, dafür ist keine Zeit), deklassiert man zweisprachige Kinder, verlangt weniger von ihnen als für "Erstsprachler" und verdammt sie damit zu niederen Funktionen im Leben. Ihre Zweisprachigkeit wird ignoriert oder immer noch als Behinderung betrachtet. Lehrer müssen begreifen, was "Zweisprachigkeit" mit einem Kind macht: z.B. lernt es dadurch zu relativieren, verschiedene Seiten derselben Sache wahrzunehmen und vieles mehr.

Die Neuheit, dass in einigen Bundesländern zur Lehrerausbildung inzwischen "Deutsch als Zweitsprache" zu den Pflichtfächern gehört, ist insofern ein Fortschritt, als die bisherigen Lehrer oft gar keine Vorstellung von der geistigen Tätigkeit eines Mehrsprachlers haben.

Aus den verschiedenen Redebeiträgen lernte ich selbst auch folgendes: Die Probleme mit dem Deutschen in der Schule betreffen vor allem zweisprachige Unterschichtkinder. Die Kinder von türkischen Professoren lernen gewöhnlich sehr gut Deutsch und haben keine Schwierigkeiten im Bildungswesen.

Schließlich begegneten mir im Holzhausenschlösschen auch wieder jene arroganten deutschen Bildungsbürger, die sich in der Tiefe ihres - Herzens? Gemüts? Wesens? - etwas von einem Herrenmenschenbewusstsein bewahrt haben. "Zweitsprache" genügt nach ihrem Empfinden für Unterschichtkinder, doch würden sie es nie sagen. Sie handeln bloß entsprechend.

 

Frankfurt, 15. Juni

Was ist am französischen Fernsehen anders als am deutschen?

In Bordeaux hatte ich Zugang zu ein paar hundert Programmen (nachdem mir mein tüchtiger Enkel gezeigt hatte, wie das ging). Es waren fast nur französische Programme -  Arte, manchmal "deutsche Welle" und meistens "Sky" (aus England) ausgenommen. Ausgenommen auch arabische Programme, doch tummelten sich dort ebenfalls Frankreich-Sender, nur eben auf Arabisch. Einmal auf Englisch. Für sonstige Sender, z.B. CNN und BBC, hätte man zahlen müssen. (Der Vollständigkeit halber: es gab auch russische, türkische, spanische Sender.)

Darin  besteht also schon mal ein Unterschied: Das Fernsehen wird nicht föderal bestimmt, sondern ist gallo-französisch und kommerziell beherrscht. Vielleicht sollte ich ein anderes Wort als "föderal" benutzen, denn sämtlich Departements des Mutterlandes waren mit einem eigenen Sender vertreten. Diese sendeten vom Hauptort des jeweiligen Departements aus und boten damit einen Anschein von Föderalismus. Nur, dass es sich eben allemal um "Provinz" handelt. Es muss schon mal was in den zwei Pariser Sendern "TF1" und "Antenne 2" gesendet werden, damit es öffentlich wahrgenommen wird. Wie neulich die Sendung mit dem heimlich gedrehten Film über die Integristen in Bordeaux.

Ich habe nicht oft vor dem Fernseher gesessen. Mir fiel auf, dass man gern Spielfilme zeigte, die mit dem nationalen Selbstverständnis zu tun hatten und die es mit der sekular-geschichtlichen Wahrheit nicht immer genau nahmen. Damit meine ich, dass Kirche und Staat offenbar zwei verschiedene "Narrative", wie man heute gern sagt, verfolgen. Bei der Besichtigung der Kirche St. Seurin fiel mir auf, dass dort Geschichte sich eher auf Wunder und Legenden stützte als auf gesicherte Quellen. Während ja die auf den "Großen Schulen" ausgebildeteten Historiker eine herrliche Genauigkeit und einen überwältigenden Reichtum an Belegen bieten. Das fiel mir wieder auf, als ich gestern in der Montaigne-Biografie von Madeleine Lazard stöberte, einer emeritierten Sorbonne-Professorin. Im Fernsehen ist mir dergleichen nicht begegnet. Wie gesagt, ich guckte nicht oft.

Was bemerke ich nach meiner Heimkehr am deutschen Fernsehen? Es setzt weniger auf den nationalen, als auf den volkstümlichen Charakter. In den Spielfilmen tauchen erstaunlich viele "Proleten" auf, ursympathische natürlich. Die "Reichen" und Arroganten werden gewissermaßen an den Pranger gestellt, eher in den Frauen- als in den Männergestalten. Das bedeutet: im deutschen Fernsehen herrscht Klassenkampf, wenn er auch mit sehr milden Mitteln ausgefochten wird.  Der Moderator aller Moderatoren, Herr Jauch,  tritt  nicht nur in der Fußballberichterstattung auf (wir haben ja derzeit  Weltmeisterschaft), von der er erklärtermaßen nichts versteht, er zieht sich dabei auch so bescheiden an, dass man ihn kaum wahrnimmt. Damit wird er zum wahren Vorbild aller Hartz-IV-Empfänger, ganz gleich, ob diese etwas von Fußball verstehen oder nicht! Jeder darf sich genau so wichtig fühlen wie Herr Jauch, in aller Bescheidenheit.

Frankfurt, 11. Juni

Vorgestern besuchte ich gute Freunde, und der Hausherr musste sich alle Stunde neu ankleiden, dermassen schwitzte er. Wir sassen im Garten, im Schatten!

Ich schwitze auch, aber es trocknet doch wieder, und ich zieh mich trotz der Hitze meist nur einmal am Tag frisch an. Die Vorstellung, dass Schweiss schlecht riecht, wundert mich immer. Wenn er es tut, wenn - ja, deutet das nicht auf eine Erkrankung hin?

Parfüm hilft selbstverständlich auch, ich besitze noch eine ganz besondere Sprühflasche aus Bordeaux mit einem "handgemachten" Duftwasser, es riecht nach vielerlei und zusätzlich nach Brennessel. Ist kein "lieblicher", aber ein erhebender Geruch, MICH erhebt er, und letztlich dient mein Parfüm doch vor allem der eigenen Nase .... In Bordeaux, gleich neben "Hermès" fand ich diesen Laden, der, wie die hübsche Verkäuferin sagte, von zwei "Nasen" versorgt wird. "Sind Sie die Nase?" fragte ich den jungen Mann an der Kasse. Der lächelte: "Wär ich gern! Aber unsere 'Nasen' sitzen in Paris." Sie kreieren von jeder Grundzusammensetzung ihr eigenes Duftwasser, und die zwei Sorten heben sich spürbar voneinander ab, ohne eigentlich anders zu sein. Mein Fläschchen nennt sich "Fleur de Liane". So gibt es zweimal "Fleur de Liane", die Kundin kann zwischen ihnen wählen. Köstlicher Luxus.

Ach, die Hitze, man gerät ins Träumen! Ich träume mich für einen Augenblick von Frankfurt zurück an die Place Gambetta in Bordeaux, wo man gern verweilt und wo dennoch die Welt nach allen Richtungen hin offen steht ...

Frankfurt, den 7. Juni

Nach einer Woche im Odenwald, nach einem Feldenkrais-Kurs bei Roger Russel - unter seiner Anleitung verfolgten wir den Zusammenhang zwischen Bewegung und Nervensystem - bin ich nun wieder ganz zuhause angekommen. Zum Frühstück las ich in der Gewerkschaftszeitung (über den Schriftstellerverband VS Hessen bin ich auch in der Gewerkschaft ver.di), dass die Bundesländer anfangen, die Freiwilligen Feuerwehren der Polizei zu unterstellen! In Niedersachsen ist das schon seit 2005 Gesetz. Dort kam es laut ver.di vor, dass Feuerwehrler von der Polizei gerufen wurden, um eine Wohnung zu öffnen, ohne dass man ihnen sagte, dass gewaltbereite Kriminelle in der Wohnung waren. Die Polizisten selbst hatten sich mit Schutzwesten gesichert!

Bei Unfällen werden bislang die Kompetenzen klar geteilt: die Polizei kümmert sich um die Absperrung, die Feuerwehrleute um verletzte und eingeschlossene Menschen. Bisher haben beide verschiedene Leitzentralen. Die sollen zusammengelegt werden, um Geld zu sparen (das ist - angeblich - der Zweck des Ganzen). Sagt ein Feuerwehrler: "Als Mitarbeiter an der 112 muss man eine Ausbildung zum Rettungsassistenten absolviert haben, um entscheiden zu können, ob es ausreicht, wenn ein Krankentransport geschickt wird, oder ob ein Notarzt angefordert werden muss. Ich wüsste dagen nicht, was zu tun wäre, wenn ein Verbrechen gemeldet würde."

Es geht um Vertrauen, ein Vertrauen, das die Feuerwehr bisher genießt. Zum Beispiel darauf, dass sie Patientendaten nicht weitergibt.

Na ja, worüber rege ich mich da wieder auf. Geht es mich an? Ja, ja, ja. Ich las dieser Tage das Büchlein von Pierre Bertaux über "Hölderlin und die Französische Revolution". Bertaux zeigt darin, wie stark die politische Verfolgung zu Hölderlins Zeiten wirkte, die Zensur, die alles verbot, was kritisch auch nur aussah! In Zürich, das las ich gestern in einem andern Buch, wurde schlicht und einfach verboten, in der Zeitung etwas zu schreiben, was in Zürich geschehen war. Man durfte nur Nachrichten über das Ausland veröffentlichen. Bertaux vermutet sogar, dass die Angst vor Denunzianten und Gefängnis den Philosophen Hegel angeregt habe, kryptisch zu schreiben, nämlich so, dass es nicht jeder verstehe. Und er weist diesen Wunsch nach Verschwiegenheit auch ganz deutlich in Texten von Hölderlin nach, dieses politisch denkenden Hölderlin.

Ich werde darauf zurückkommen.