Tagebuch Sommer 2012

Frankfurt, 11. Oktober

Nun hat es hier zum ersten Mal in der Nacht gefroren! So schnell kommt der Winter!

Ich habe kaum Zeit, mich um das Wetter zu kümmern, denn es ist Buchmesse. Schon wieder Buchmesse, und wie jedesmal saugt sie mich auf und es geht mir gut dabei.

Doch nach dem ersten Tag kommt mir die Buchmesse sonderbar vor: Alle scheinen sich wohlzuzfühlen, ich habe schöne Bilder geknipst von Menschen, die sich in einer Hängematte in der Sonne über Mittag erholen. Aber ich kam auch zu einem Diskussionsforum, wo drei ernsthafte Männer miteinander darüber rätselten, warum ein Diktator Gedichte schreibt. Sie gingen davon aus, dass ein "Diktator" eben ein grausamer Tyrann oder so was Ähnliches ist, jedenfalls 100%ig politisch und niemals ans Dichten denkt. Sie bestätigten sich gegenseitig, dass sie nicht verstünden, dass so einer sich mit Versen beschäftigt. Über solche Weltfremdheit konnte ich nur staunend den Kopf schütteln.

Mehr als Staunen ergriff mich, als ich die Buchpreisträgerin bei ihrem ARD-Auftritt sagen hörte, sie habe sich einen Exilanten erfunden, damit sie endlich mit einem solchen reden könne, da sie zu jener Zeit, als die Juden und andere von den Nazis Vertriebene nach dem Krieg zurückkehrten, nicht die Worte gefunden habe, um sie anzusprechen. Den Gedanken finde ich ehrenhaft, es ist fast allen Deutschen so ergangen, dass sie damals die richtigen Worte nicht gefunden haben. Aber hilft es, sich einen Juden zu erfinden, damit man das nachholt?!! Wenn dann obendrein diese Romanfigur auch noch zum "Michael Kohlhaas" der Rechthaberei stilisiert wird?

Wie ich aus dem Gespräch gestern entnahm, kommt diese Idee dem (west)deutschen Bedürfnis entgegen, sich zwar schuldig zu fühlen, aber den andern, den Ex-Exilanten, doch auch für ein bisschen unverständig halten zu dürfen.

Am Abend schließlich, in einer Lesung mit einem hübschen Liebesroman, in die ich aus Versehen geraten war, ließ die Übersetzerin die Ziegen blöken. BLÖKEN! Wo doch jedes Kind weiß (früher wusste), dass nur Schafe blöken und dass die Ziegen meckern. Wer sie einmal gehört hat, vergisst den Unterschied nicht. Gestern abend aber schien der Irrtum niemanden zu stören.

Schlangenbad, den 2. Oktober

Ja, im September unternahm ich kleinere Ausflüge: so auf die Dokumenta in Kassel, oder zu einer Redaktionskonferenz nach Luxemburg, genauer gesagt nach Esch an der Alzette, und dieses Wochenende fuhr ich nach Schlangenbad, um ein wenig zu kuren, mich zu erholen, mich zu besinnen. Immer wieder neige ich dazu, mir zuviel vorzunehmen, und da stellt sich die Frage, was kann ich weglassen.

Hier habe ich nun die Badeeinrichtungen ausgekundschaftet und vor allem gemerkt, dass die Quellen zwar warm sind, aber nicht richtig heiß. Die Schulterschmerzen, die mich seit Aachen (auch so ein kleiner Ausflug, aber noch im August!) schon quälen, wollen noch immer nicht verschwinden. Meine Erfahrungen hier ermutigen mich aber, auch in Frankfurt wieder mit ein bisschen Sport zu beginnen. Das gibt Kraft. Die geht mir manchmal ab, wenn ich zu viel lese, schreibe und nachdenke - oder umgekehrt.

Hier in Schlangenbad habe ich mich neben dem Baden ganz und gar meiner Leib- und Magenzeitschrift "London Review of Books" hingeben können. Ich finde dort immer Gedanken, die sich mit dem verschränken, was grade bei mir vorgeht. In einer Annonce fand ich den Satz: ""Doing the same thing over and over again expecting different results" - Albert Einstein's definition of insanity."

Freud definierte so die Neurose.

Wenn einem manchmal eine Mutter begegnet, die ihrem Kind mit großer Empörung sagt: "Ich habe es dir doch schon hundertmal gesagt und trotzdem hast du es wieder vergessen!" möchte man wohl entgegnen: dann waren es wohl neunundneunzig Mal zu viel. Doch wäre das zwecklos, eben wegen der insanity. Oder klingt "Neurose" besser?

In Luxemburg ging es um den Fortbestand der Kulturbeilage "kulturissimo", für die ich mehrmals im Jahr einen Artikel schreibe. Die jetzigen Schriftleiter möchten aufhören, aus Gesundheitsgründen, und es muss sich eine Nachfolge finden. Es geht um viel Arbeit, und die übernimmt ja allein für die Ehre heute kaum jemand. Die Frist wurde nun um fast ein Jahr verlängert, vielleicht findet sich bis dahin jemand. Die kleine Zeitschrift, die als Kulturbeilage operiert, erlaubt Äußerungen der verschiedensten Art, und fast niemand in Deutschland lässt sowas zu. Erstens wird hierzulande streng getrennt zwischen "Literarisch" und "Politisch"; und zweitens muss man hier irgendwie einem Clan angehören. Und das, das habe ich bislang noch immer nicht geschafft.

Meine Satire "Rosalena" steht für diesen Punkt. Nein, sie heißt jetzt "Die Stopfgans". Für den Punkt 'ich schaffe es nicht, einem Clan anzugehören'. Den Text kann ich voraussichtlich im nächsten Jahr in Deutschland veröffentlichen.

Der LRB entnehme ich auch, in einer anderen Anzeige:

Im" German Historical Institute LOndon" word am 27. November dieses Jahres eine Renate Dürr aus Tübingen einen Vortrag über "Storytelling as a Principle of Knowledge Transfer in the German Jesuit Mission JOurnal 'Der Neue Weltbott'" halten. Dieses Thema interessiert mich außerordentlich. Die Worte dazu entdeckte ich vor zwanzig Jahren in Shakespeares "Hamlet", der mit dem Satz endet: 'You must live to tell my story'. Damals habe ich eine Abiturienten-Abschiedsrede darauf aufgebaut (in meinem Roman "Endersgründchen oder das Jahr der Frau"). In den letzten Tagen las ich in einem andern Buch, das der Auftrag "to tell your story" in der Bibel dem Volk Israel erteilt wird. Das war mir neu und erklärt vieles.

Ich muss googeln gehen: erstens nachgucken ob das Jesuitenblatt nicht in Wirklichkeit "Der neue Weltbote" heißt, und zweitens, wo im alten Testament sich der Auftrag 'to tell your story' befindet. In welchem Zusammenhang.

Das Buch, in dem ich diese Aussage fand, heißt "The River Jordan - The Mythology of a Dividing Line", ich fand den Hinweis darauf ebenfalls in der LRB, und das eigentliche Buch ist noch viel besser als es mir durch die Rezension erschien.

Davon später. Jetzt muss ich frühstücken gehen, bevor das Büffet abgebaut wird!

 

 

 

Frankfurt, 13. September

Hier noch ein Zitat von Judith Butler:

"Wenn wir nur das links nennen, was wir unterstützen und wertschätzen, sind wir außerstande, die irritierende Welt zu beschreiben und mit ihr zu streiten" - ein herrliches Mantra! Die Welt zu beschreiben und mit ihr zu streiten! Ja. Immerhin hat die Laudatorin auch gesagt, es wäre "fatal, die Auseinandersetzung .... zu unterbinden". Meinungsfreiheit - ja! (Das Zitat hab ich aus der taz vom 11.9.)

 

Damit kehre ich zurück zu meinem dringlicheren Thema des "Mentorenwesens" für Schulkinder.

Ich denke momentan über die Frage nach, wie man Siebenjährige (z.B.) dazu bringen kann, mit Freude zu lesen, wenn die Eltern oder die Mütter nicht oder kaum lesen können. Zu diesem Problem habe ich ein Zitat von Boualem Sansal gefunden, dem Friedenspreisträger vom letzten Jahr:

 

(Boualem Sansal beschreibt in dem autobiografischen Roman „Rue Darwin“ u. a. eine Dorfgesellschaft aus den 50er Jahren in Algerien. Wenn die Familienmutter von den Fragen ihrer Kinder bedrängt wurde und keine Antwort wusste, sagte sie:)

„’Geht zum Rabbi!’ , doch unser Rabbi wusste gar nichts und unsere Fragen blieben schließlich unbeantwortet. In Wirklichkeit wich er nur aus, denn nach seiner Überzeugung durften Kinder niemals mehr wissen als die Eltern, die Weitergabe des Wissens musste immer in eine Richtung laufen, vom Vater zum Sohn, von der Mutter zur Tochter; in der andern Richtung wäre es ein Rückschritt, eine Häresie gewesen. Nach einer Weile erwähnte er beiläufig, als hätte er gar nichts gehört, gegenüber der Mutter die richtige Antwort, und dann, o Wunder, geschah die Wissenübermittlung nach dem Gesetz und nach der Wahrheit. Und es war schön, es tat wohl, wenn Mama uns erklärte, was sie kurz vorher noch selber nicht gewusst hatte. Diese Lektionen behält man sein Leben lang.“

(Der Ausschnitt steht auf Seite 195 des französischen Originals. Übersetzung von mir. Boualem Sansal ist Algerier, schreibt kritische und zugleich poetische Romane und erhielt 2011 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels.)

 

Freilich sind die Verhältnisse hier und heute ein wenig anders. Das Problem bleibt. Und wenn der kürzlich veröffentlichte Vodafone-Bericht über Studentenzahlen aus dem "Arbeitermilieu" (heute "bildungsfern" genannt) feststellt, dass viele dieser Kinder von bildungsferner Herkunft ihr Abitur nicht übers Gymnasium, sondern über den 2. Bildungsweg oder über Fachoberschulen machen, so liegt das m.E. auch daran, dass Kinder in der Grundschule sich einfach nicht von ihrer Familie so weit entfernen können.

Hier müssten Mentoren die Eltern einbeziehen. So ähnlich wie es der Rabbi bei Boualem Sansal (s.o.) machte.

Darüber denke ich noch nach. Vielleicht finde ich in meiner Umgebung solche, die mit denken??

 

 

 

Frankfurt, 12. September

Wenn ich die Sache genauer bedenke, handelt es sich bei den Protesten gestern vor der Paulskirche auch um eine Auseinandersetzung innerhalb der jüdischen Diaspora. Vereinfacht gesprochen: Nationalismus gegen Denkfreiheit und Vernunft. Das erinnert auf eine unwirkliche Weise an Auseinandersetzungen in den zwanziger Jahren in Deutschland. Vielleicht aber geht es heute zusätzlich um den Wahlkampf in den USA: auch dort positionieren sich Nationalisten gegen Denkfreiheit und Vernunft.

Wie ich den Meldungen entnehme, ging die Preisverleihung an Judith Butler würdig und geistvoll vonstatten.

So dass ich doch auch ein bisschen stolz auf meine Stadt sein kann.....

Frankfurt, 11. September

Heute nachmittag erhält Judith Butler den Theodor W. Adorno-Preis der Stadt Frankfurt. Gern wär ich dabei gewesen, konnte aber keine Einladung ergattern. Das dafür zuständige Protokollamt der Stadt Frankfurt vertröstete mich Anfang August und war später nicht mehr zu erreichen. Ich hab noch eine Mail mit Bitte um Hilfe an eine mir bekannte Stadtverordnete geschickt - auch vergebens, keine Antwort.

Ich könnte ja, der Aktualität zuliebe, wenigstens zur Paulskirche gehen und mir die Proteste anschauen. Alle zionistischen Kräfte in Deutschland haben sich nämlich vereinigt, um die amerikanische Philosophin und Literaturwissenschaftlerin zu attackieren, ja, gegen sie zu hetzen. Es wurde ein Satz aus einer Diskussion aus dem Zusammenhang gerissen, uminterpretiert und als Grundlage für Vorwürfe wie "Israelhass" und die unglaublichsten Beschimpfungen genommen. Schon seit zwei, drei Wochen erhalte ich Emails in diesem Sinn. Hingegen vertritt Judith Butler stets den Standpunkt der Gewaltfreiheit.

Nein, ich gehe nicht zur Paulskirche.

Es geht bei den Angriffen, meine ich, auch um etwas anderes: es ist ein Kampf um die Meinungshoheit, um die Definitionsgewalt zwischen der Regierung des Staates Israel und der jüdischen Diaspora. In der Diaspora leben mehr Juden als im Staat Israel, und sie denken in anderen Zusammenhängen, sie erhalten andere Nachrichten als die Bewohner von Eretz Israel; so bilden sich dort auch unabhängige Meinungen heraus.

Zu dem Thema "Diaspora" fand ich interessante Gedanken in dem Buch von Rachel Havrelock, einer Judaistikprofessorin aus Chicago, das "River Jordan - The Mythology of a dividing line" betitelt ist und sich zunächst mit den aus der Tora (der jüdischen Bibel, in etwa dem "Alten Testament" entsprechend) bekannten Grenzziehungen beschäftigt. In einem Kapitel über die Geschichte Jakobs lese ich:

"Jacob's admission of his split self operates on a national as well as an individual level. The individual prayer doubles as Israel's confession that division is stitched into its identity; like its ancestor, the People Israel will continually traverse the space between home and diaspora. It is this in-between space that generates the identity of ancient Israel."

Ich habe gehört, dass Oberbürgermeister Feldmann bei der Verleihung dieses Preises nicht anwesend sein wird. Ob er auf diese Weise wirklich der Auseinandersetzung zwischen dem Staat Israel und der Diaspora entgehen kann? Aber vielleicht kommt er ja doch noch und vertritt seine Stadt?

 

 

Frankfurt, den 3. September

Im Fernsehen warf jemand einem Psychiater, der vor den Gefahren des Computerspielens für das kindliche Gehirn warnte, vor, er habe kein Recht über Computerspiele zu urteilen, da er in seinem Buch einige Bezeichnungen solcher Spiele falsch geschrieben oder zitiert habe. Der, der den Vorwurf erhob, war selbst ein "Entwickler" von Computerspielen (wenn ich mich recht erinnere).

Nun zeigte diese Auseinandersetzung, wie schwierig Fernsehdiskussionen zu führen sind, weil es keine Pausen geben darf. Daher gibt es keine Zeit zum Nachdenken. Der, der den Vorwurf gegen den Hirnforscher und Psychiater Manfred Spitzer erhob, leitete jede seiner Reden ein mit: "Es schmerzt mich so ungemein, Ihnen widersprechen zu müssen, denn wir stehen doch beide auf der gleichen Seite!" (Die Seite der Kinder? Die Seite der Vernunft?)

In Wahrheit war er die mephistophelischste Echtperson, die ich je auf dem Bildschirm gesehen habe: oder ein Süchtiger, der seine ganz Energie in die Verteidigung seiner Sucht steckte.

Denn die Frage lässt sich doch auch einfach handhaben: wenn ich behaupte, der Zucker sei eine Droge und mache folglich süchtig (steht momentan auf der Titelseite des "Spiegel"!), dann muss ich doch nicht vorher Konditor lernen? Wenn ich als Arzt feststelle, dass in meine Praxis regelmäßig Jugendliche kommen, die psychisch von bestimmten Computerspielen abhängig sind, nicht mehr genug schlafen, nicht mehr für die Schule lernen, schließlich in Depression verfallen, dann bin ich doch wohl Fachmann genug und muss mich nicht für die Spielregeln jedes Einzelnen dieser Spiele interessieren? Wenn Manfred Spitzer vermutete, die Hersteller von Spielen bauten absichtlich Vorgänge ein, die auf Süchtigkeit abzielten, so mag das ein eher emotional als wissenschaftlich begründeter Vorwurf sein; sein Gegner (ich scheue mich zu sagen, "Gegenspieler") müsste eigentlich wissen, wie Werbefachleute das nennen, was Spitzer meint - aber nein, er greift ihn massiv an: die verkehrten Zitate von Spielen in seinem Buch bewiesen klipp und klar, dass er von Spielen nichts verstünde und darum nicht drüber reden dürfe!! Er verurteilte die Idee, die Industrie wolle ihre Kunden absichtlich in die Sucht treiben, mit einer anscheinend aus den Tiefen seiner Seele fließenden Empörung.

Es kommt mir immer deutlicher vor, dass der Typ selber ein Spieler war und mit aller Hinterlist seine eigene Spielsucht verteidigte.

Die Einlassungen der anderen Teilnehmer verblassen dagegen in meiner Erinnerung; alle hatten sie eigene Kinder, alle verhielten sie sich so, wie es im Interesse ihrer Kinder das Beste war; manche erlaubten Fernsehen und Smartphones, manche nicht. Die wichtigste Erkenntnis: es muss sich jemand ständig um die Kinder und Jugendlichen kümmern. Sie nicht sich selbst überlassen. Das traf auf die behüteteten Sprößlinge aller Gesprächsteilnehmer ohne Zweifel zu. Aber was geschieht mit den vielen Tausend oder Millionen Kindern und Jugendlichen, um die sich niemand kümmert ("kümmern" im braven bürgerlichen Sinne)?

Diese Frage ließ das Gespräch offen.

 

 

Frankfurt, den 29. August

Am letzten Wochenende war ich vier Tage in Holland, genauer gesagt in der niederländischen Provinz Limburg, noch genauer gesprochen: 20 Kilometer hinter Aachen. Die Stadtgrenze von Aachen stimmt an manchen Stellen mit der Landesgrenze zwischen Holland und Deutschland überein. Man fährt, von Aachen herkommend, in das Dorf Vals hinein. Dort wohnen, wie ich hörte, auch viele Deutsche.

Auf den Ortsschildern standen immer zwei Namen. So hieß ein Dorf "Partij" und gleichzeitig "Partei". Ich erfuhr, dass es sich hier keineswegs um Niederländisch und Deutsch handelte, sondern um Hochniederländisch und Limburgisch. Die ortsansässigen Niederländer waren alle mehrsprachig, wohingegen, so sagte mir ein Lehrer, die Aachener Schüler gar nicht darauf erpicht seien, niederländisch zu lernen.

Ich wohnte in einem Nonnenkloster. Der weitläufige Klosterbau stammte aus den 20er Jahren und seine Ästhetik stützte sich auf sparsame Mittel. So auch die Küche. Zu essen gab es reichlich, es war auch schmackhaft, doch nahm ich in vier Tagen ein Kilo ab. Ich war oft hungrig, vielleicht, weil ich den Pudding verweigerte. Ich nehme an, es wurde mager gekocht. Es ging mir gut dabei, und den andern auch.

Ich war nicht allein, ich war Teil einer Gruppe, einer Schreibwerkstatt.

Wir brachten fast alle einen Text mit, der besprochen werden sollte. Bei meinem Text handelte es sich um eine kleine Geschichte zum "Urheberrecht", die ich für den hessischen Schriftstellerverband geschrieben hatte, der eine Sammlung zum Thema herausbringen will. Mein Text war im Verband abgelehnt worden, ich verstand nicht warum. War ich doch stolz auf meine feine Ironie, die sich gegen die Betonung von "Urheberrecht" als Anspruch auf Bezahlung wendete und die andere Seite, die des Eigenen, Unverwechselbaren, hervorheben wollte. Meine Heldin sah ich als einen weiblichen Don Quijote im Kampf gegen den Kapitalismus!

Im Schriftstellerverband hatte das keiner erkannt. Nachdem ich meine Geschichte nun im illustren Rahmen der Schreibwerkstatt vorgetragen hatte, musste ich erkennen, dass es mir hier nicht anders erging. Niemand bemerkte die Ironie. Ich will hier nicht darüber spekulieren, wie das kommt. Als ich jedenfalls meinen Standpunkt zum Schluss erläutern durfte, spürte ich bei manchen eine gewisse Verlegenheit. Ich wusste aber nun: irgendwas muss ich an meiner Geschichte ändern, wenn ich mich verständlich machen will.

Es war ein immens aufregender Tag, ich schlief sehr spät ein, war aber am andern Morgen zur vorgeschriebenen Zeit (9 Uhr) wieder im Saal. Ich wollte absolut nichts verpassen.

Wir machten Schreibübungen, und ich bestaunte nachher beim Vorlesen die überwältigende Vielfalt der Vorstellungen zum selben Thema. Ich sah auch, dass ich in diesem Springgarten von Fantasien gut mithalten konnte, das stärkte mich.

Wieder zuhause, setzte ich mich am nächsten Tag an meine Geschichte und veränderte sie. Ob sie nun klarer wird? Es hat sich in den vier Tage auch in mir etwas verändert. Ob das reicht?

Am Freitag, d.h. übermorgen, werde ich es rausfinden. Da lese ich die neue Geschichte abends am Darmstädter Hauptbahnhof in einem alten Waggon vor, der "Poseidon", meiner Literaturgruppe, (im Rahmen der "Darmstädter Literaturnacht") zur Verfügung gestellt wird. Die Lesung beginnt um 20 Uhr, wir lesen zu sieben, nacheinander, und ich werde die Letzte sein. Das ist mir recht. Die Geschichte heißt jetzt übrigens "Die Stopfgans".

 

 

Frankfurt, den 11. August

Das Wiedereinleben macht Mühe. Nach 14 Tagen Freiheit von Alltagsarbeiten fehlt mir die Zeit, die ich nun für Putzen Waschen Kochen Einkaufen Telefonieren aufwende, für den Aufrechterhalt der Kontakte mit den Freunden und Freundinnen, für die Termine, die sich schon wieder häufen, für die Pflichten, die ich übernommen habe.

Ich könnte ja bequem weiterhin in Restaurants essen; ich müsste keine Verpflichtungen eingehen; ich könnte mich auf mein körperliches und sonstiges Wohlergehen konzentrieren.

Irdendwie funktioniert das aber nicht. Nicht nur, weil mir das selbstgekochte Essen am besten schmeckt. Nicht nur, weil ich mich vielseitig verantwortlich fühle und ich auch im Strom der einschlägigen Informationen bleiben möchte. Wenn die Freundin mich bittet, vorübergehend die Moderation einer Sitzung zu übernehmen, dann mach ich das selbstverständlich. Oder wenn mich eine andere Freundin zum Kaffee einlädt, dann gehe ich hin. Und wenn mein Lieblingscafé nach einjähriger Schließung an einem neuen Ort öffnet, dann MUSS ich doch endlich mal dort vorbeischauen! (Heute Abend eine Vernissage im Café Wiesengrund.)

Der Wunsch, der dem allen zugrundeliegt, ist folgender: ich will einen Roman schreiben. Dieses gelingt (mir) nicht, indem ich mich völlig von allem absondere. Die Herausforderung besteht darin, dass ich im Fluss des Lebens stehen (oder schwimmen??) will und gleichzeitig den Zugang zu meinen intimeren Seiten, zu meiner Kreativität finden oder bewahren möchte, dass ich mich nicht ablenken lasse.

Oder nach der Ablenkung in das gerichtete Fantasieren zurückfinde.

Gestern verbrachte ich den ganzen Tag mit einem Ausflug in die "Lochmühle". So heißt ein Vergnügungspark hinter Friedberg, in den ersten Taunushängen nördlich von Frankfurt, nur wenige Kilometer von der "Saalburg" entfernt. Ein Ort am Limes.

Der "Abenteuer-Spielplatz" von der Stresemann-Allee in Sachsenhausen hatte zwei große Busse bestellt, die bis auf den letzten Platz besetzt kurz nach zehn losfuhren. Manche mussten trotzdem die S-Bahn nehmen - wir waren also weit über hundert Leute, vor allem Kinder zwischen vier und vierzehn. Ein paar Eltern fuhren auch mit; die Mutter eines meiner Lesepatenkinder hatte mich eingeladen.

Von "Jo", dem Leiter des "Abenteuerspielplatzes", hatte ich oft gehört, die Kinder erzählten gern von ihm. Gestern lernte ich ihn kennen. Ein Mann, der vor mehr als vierzig Jahren im Geiste der "Antipädagogik" angefangen hat, mit Kindern zu arbeiten, für Kinder da zu sein, dafür zu sorgen, dass sie Bewegungsfreiheit erhalten, ihnen eigene Entwicklungen zu ermöglichen. Er steht noch heute dazu. Ich mit meinem Wunsch, die Kinder zum Lesen zu bringen, befand mich gewissermaßen nicht ganz in der Einflugschneise seiner Bemühungen, so kam es mir vor. Aber vielleicht hatten wir auch nicht genug Zeit zu reden. Mit hundert Kindern (es gab noch ein halbes Dutzend Helfer und ein paar Eltern) ist man dauernd beschäftigt.

Es war gewissermaßen der letzte Ferientag. Das Wochenende dient der Vorbereitung der Schulranzen. Am Montag beginnt die Schule.

Den Großen - d.h. die mehr als zwölf, dreizehn Jahre alt waren, wurde bewusst, dass sie allmählich aus dem Spielplatzalter herauswachsen. Dass ein anderes Leben beginnt. Ich hörte eine Spur von Melancholie aus solchen Kommentaren heraus. Der Abenteuerspielplatz fährt jedes Jahr am Ende der großen Ferien zur Lochmühle, den Kindern ist der Ort vertraut, doch plötzlich hat sich ihr Blick verändert.

Der Ort beeindruckte mich. Ursprünglich war dort ein kleiner Bauernhof mit Mühle; etwas, das sich nach dem zweiten Weltkrieg nicht mehr rentierte. Der Besitzer hatte die Idee mit dem Vergnügungspark, der Mann ist jetzt über neunzig. Den Bezug zur Landwirtschaft hat er erhalten: die Vogelkäfige und Streichelgehege, die Ställe und ein kleines Landwirtschaftsmuseum mit historischen Geräten erzählen davon. Mit alten Traktoren fährt man um winzige Felder und Beete, wo dick und unübersehbar die Namen von Weizen, Roggen, Hafer, von Rotkraut und Futterrüben und vielen anderen Gemüsen und Kräutern aufgestellt sind.

Woanders erheben sich robuste und attraktive Karrussells und andere Kirmesmaschinen, diverse Trampoline. Auf dem Gelände stehen unzählige Holzhütten mit Grillplatz; hier kann man sich aufhalten, wenn es mal regnet. Ein Stückchen Wald ist auch mit einbezogen: hier erfahren die Kinder alles über die alten Römer, die vor 2000 Jahren am Limes gewohnt haben; der Limes, eine Sperrmauer gegen die angreifenden Germanen, wurde von Soldaten bewacht, die mit ihren Familien da waren, die Unterkunft, Verpflegung, Schulen und alles andere brauchten. So steht man pötzlich vor dem Alltag jener Kinder, vor 2000 Jahren! Sogar das Lateinische kommt vor, sei es mit Eigennamen wir Angela, Felix oder Max, sei es mit den Wochentagen.

Was mich beeindruckte, war die persönliche Gestaltung der ganzen Anlage mit ihrer Vielfalt von Blumen, den verschiedensten Pflanzen. Auf dem - echten! - Bach konnten die Kinder mit Flößen fahren! Mir war, als fühlte ich überall die liebevolle Hand von Menschen, denen das Anwesen am Herzen liegt. Nirgendwo die Leere, die ich an anderen "Vergnügungsparks" gespürt habe, wo schlecht bezahltes Personal das gerade Notwendige erledigt, wo es eigentlich nur um Geld geht.

Aber das ist ja nur ein Teil meines Erlebnisse. Am stärksten beschäftigen mich die Menschen, die ich in der Gruppe kennengelernt, die Sprache, in der sie sprechen, die Ziele, die sie verfolgen. Jeder Einzelne ein Individuum mit eigener Wahrnehmung, eigenen Erwartungen und Befürchtungen, eigenem Blick auf die Welt. Nicht jeder, nicht jede, findet genügend Aufmerksamkeit; und doch wirkten die Kinder im Ganzen fröhlich und zufrieden, und die Erwachsenen auch.

Verwirrend.

 

 

 

 

 

Frankfurt, 26. Juli

Vorgestern auf dem Wiener Flughafen hatte ich viel Zeit. Überdies bot das neue und ästhetisch gelungene Gebäude in den Abflughallen individuelle Schreibtische an, wo man bequem sein Notebook plaziert, komfortabel sitzt und dann mit den Augen so in den Bildschirm fallen kann, dass man die Umgebung völlig vergisst ....

So erging es mir; ich suchte gar nicht nach W-Lan, ich vertiefte mich in Giorgio Agamben, den italienischen Philosophen. Dort verfasste ich den folgenden Text:

 

ZWISCHENBILANZ

 

Vor wenigen Tagen schrieb ich hier über Agambens "Der Mensch ohne Inhalt". Ich hatte zu dem Zeitpunkt kaum die Hälfte des Buches gelesen. Inzwischen bin ich weiter gekommen, so etwa bei zwei Drittel angelangt, evt. sind es auch drei Viertel. Eine Zwischenbilanz drängt sich mir auf:

Tatsächlich braucht Giorgio Agamben über die Hälfte seines Textes, um die Frage des Kunstwerks "ohne Inhalt" zu behandeln; als er das in den Sechzigern schrieb, erwies sich das Thema als vorrangig. Die Form entschied alles, in der Form äußerte sich der Künstler, der Form verdankte er den Status der Originalität.

Wohin sich der Inhalt im Lauf der, sagen wir, sechzig Jahre zuvor verkrümelt hatte, glaubte ich beim Lesen ungefähr verstanden zu haben; wenn ich es jetzt aber in eigenen Worten wiedergeben wollte, müsste ich den Text vorher bestimmt noch zweimal lesen. So beschränke ich mich für den Moment auf einen Überblick, auf etwas Ungefähres.

Das fällt mir umso leichter, als ich persönlich etwa seit Beginn der Neunziger das Gefühl habe, dass die "moderne Kunst" uninteressant wird, nichts mehr zu sagen hat; "Konzeptkunst" fand ich anfangs zwar spannend, weil überraschend; aber inzwischen bleibt sie oft im Trivialen stecken…. Noch gestern zeigte "Arte" einen Maler, der anscheinend hoch berühmt ist: er malt freihändig farbige Quadrate oder Rechtecke mit einem dicken Pinsel, ein Viereck neben das andere gesetzt, nicht in einer Linie, nein, es sah schön aus, wohl proportioniert. Es wäre sicher ein hoch interessantes Tapetenmuster. Aber "Kunst"? Während Anfang der Achtziger das "Kunsthandwerkliche" noch schwer missachtet wurde, sind doch die Künstler, die berühmt gewordenen jedenfalls, mehr und mehr ins Dekorative gegangen. Auch Gerhard Richter bleibt mit seinen ungegenständlichen Farbkompositionen im Dekorativen.

Eine solche Behauptung hängt natürlich von der Frage ab, was denn Kunst eigentlich sei.

Agamben gelingt es im zweiten Teil seines Essays, einen Gegensatz im Kunstbegriff herauszuarbeiten, dessen Wurzeln er im Griechischen, bei Aristoteles findet. Er stellt "poeisis" und "praxis" gegenüber - dabei geht er nicht nur diversen Etymologien nach, sondern folgt auch der gesamten europäischen Philosophiegeschichte.

Schließlich stieß ich auf ein Kapitel mit dem Thema "Die ursprüngliche Struktur des Kunstwerks", und es begann mit einem Hölderlin-Zitat. Darin ging es um den Rhythmus, "wie auch jedes Kunstwerk ein einziger Rhythmus sey ….".

Agamben untersucht nun den Begriff Rhythmus, fängt gleich wieder bei Aristoteles an und kommt zu dem Schluss, dass Rhythmus eine Struktur sei, dass Struktur etwas Ganzes, so etwas wie "Gestalt" bedeute, dass aber das Wort "Struktur" in der modernen Kunstkritik ambivalent gebraucht werde. Auch diese Ambivalenz führt er auf Aristoteles zurück: Wenn Struktur zwar ein Ganzes sei, so bestehe es doch aus Elementen, und das würde "in eine endlose Suche nach einem letzten, irreduziblen Element münden". Alle Philosophen und Wissenschaftler, die sich auf Zahlen stützen, sind diesen Weg gegangen. Aristoteles warf ihnen das übrigens vor.

Er sah eine andere Möglichkeit: es müsse etwas sein, "dass überhaupt nur dann zu finden ist, wenn man sich entschließt, die Ebene des Eine-Sache-immer-weiter-in-ihre-Bestandteile-Zerlegens hinter sich" lässt.

Agamben kehrt danach zunächst in die Gegenwart zurück, genauer gesagt zum Strukturalismus.

Agamben schreibt: "In der strukturalistischen Forschung können wir .... ein Phänomen beobachten, das der Situation der modernen Physik nach der Einführung der Idee der Quantenmechanik entspricht, angesichts derer es nicht länger möglich ist, zugleich sowohl die Position des Teilchens ….. als auch seine Bewegung zu erkennen."

Und weiter: " … wenn Rhythmus und Zahl einander widersprechende Realitäten bleiben, dann kann Hölderlins Satz nicht als ein Wegweiser in die Richtung gelten, die die moderne strukturalistische Kritik eingeschlagen hat."

 

Gut, ich würde jetzt hier am liebsten das halbe Buch abschreiben – ein Unding. Vielmehr will ich es selbst erst zuende lesen, will es bedenken, vielleicht noch mal lesen und dann meine Schlussfolgerungen daraus ziehen. Aber diese Zwischenbilanz erlaubt mir, so hoffe ich, es verständnisvoller anzugehen, mehr zu behalten, besser zu verstehen.

Übrigens wurde der italienische Text von Anton Schütz übersetzt, und wie Leser & Leserin vielleicht bemerkt haben, ist sein Deutsch makellos. Das trägt sehr zum Reiz des Büchleins bei.

 

Wiener Neustadt, 24. Juli

Zurück von einem Ausflug nach Maribor. Das war eine vergnügliche Reise, auf der mir viel Neues begegnete. Ein Land, in dem ich vorher noch nie war: Slowenien. Es grenzt an Österreich, Slowakei, Ungarn, Kroatien und Italien. Die slowenische Sprache ist eine slawische, unterscheidet sich aber signifikant vom Serbokroatischen - das betont jeder Slowene auf Nachfrage sofort. Zur jugoslawischen Zeit mussten die Kinder zwar serbokroatisch lernen, doch bewahrten sie sich das Slowjenische. Bis heute besteht ein starkes Bedürfnis, sich von den Serben und von den Kroaten abzugrenzen. Zum Beispiel erzählte man mir, dass viele Slowenen in den Ferien lieber nach Griechenland ans Meer fahren als nach Kroatien, weil die Kroaten ganz unverschämte Preise forderten!

Slowenien besitzt einen 6 km langen Küstenstreifen am Mittelmeer, so erfuhr ich. Dahin können natürlich nicht alle zwei Millionen Slowenen in den Ferien fahren, da muss man ausweichen.

Im Winter gibt es Möglichkeiten zum Schifahren, auch gleich vor den Toren von Maribor. Diese Stadt hat was Anheimelndes, selbst wenn sie sich noch nicht ganz von den Nachlässigkeiten der sozialistischen Epoche erholt hat. Sie arbeitet daran. Ursprünglich hieß die Stadt "Marburg an der Drau", weil sie von Deutschen - oder ich sag lieber, von Deutschsprachigen - gegründet worden war. Es gab einen Hafen; es gibt Weinberge, es hat eine florierende Landwirtschaft rundum; Flößer trugen zum Wohlstand bei.

Dann kam die Nazizeit und der auch als "südliche Steiermark" bezeichnete Nordteil von Slowenien wurde annektiert (vielleicht auch mehr, da fehlt mir das Wissen und im Moment die Zeit, es nachzuholen), die Slowenen wurden misshandelt. 1945 folgte die Rache: die Deutschen waren nun unerwünscht, die deutsche Sprache praktisch verboten.

Dieses Jahr nun feiert Maribor sich als "Europäische Kulturhauptstadt", und ich hatte Gelegenheit, an ein paar Veranstaltungen teilzunehmen. Mehr noch: Die Leute redeten mit mir, denn die älteren Leute konnten alle noch sehr gut Deutsch. Mit den jungen Leuten musste man Englisch sprechen, was sie aber auch sehr gut beherrschten. Und wenn ein Obsthändler fast kein Deutsch konnte, so sagte er z..B. über eine Soße, die er eingemacht im Glas anbot: "Diese groß scharf, diese klein scharf!" Wenn das nicht klar ist, und lustig obendrein!

Offiziell fehlte es indes noch an solchem Entgegenkommen. Den Gipfel erreichte die slowenische Eisenbahn: Alle Ansagen auf dem Bahnsteig erfolgten nur auf Slowenisch, auch, dass der Zug Verspätung hatte, und auf der Anzeigetafel stand nur die planmäßige Ankunft des Zuges, nicht sein Ziel! Hätte ich nicht meine liebe Gastgeberin gehabt, die des Slowenischen mächtig war, ich hätte ganz schön gezittert - wo wird mein Zug einfahren? hätte ich gedacht. Und fährt er überhaupt? Er stand nämlich nicht auf dem gedruckten Fahrplan - der durchgehende Schnellzug von Zagreb nach Wien war bloß elektronisch erfasst. Übrigens heißt "Wien" auf Slowenisch "Djuna". Und Danke heißt "vhala". Auf dem ersten "a" betont. Ich gebrauchte es oft und konnte damit ein entzücktes Lächeln auf den Gesichten der Kellner auslösen.

Slowenien ist ein gastfreundliches Land und schenkt guten Wein aus.

 

 

 

Wiener Neustadt, 19. Juli

Heute Abend findet in Wiener Neustadt das Abschlusskonzert der internationalen Piano-Akademie statt, ein großer Pianistenwettbewerb. Diese Akademie, ein vierzehntägiger Sommer-Lehrgang auf hohem Niveau, begann vor einigen Jahren in einem winzigen Städtchen, in Ebenfurth; ab diesem Jahr nun übernimmt Wiener Neustadt die Ehre; die Veranstaltung verdient sicher mehr öffenltiche Aufmerksamkeit, als sie bisher erhält.

Mein Enkel ist seit vier Jahren dabei, drei oder vier, ich erinnere mich im Moment nicht genau. Und ich habe immer unter den Zuhörern gesessen, während seine Mutter die Zeit genoss, wo sie einmal uneingeschränkt ihren eigenen Neigungen folgen konnte. Auch sie ist Künstlerin.

Emil Reinert heißt mein Enkel, er ist erst 18 und will Konzertpianist werden. Er ist schon jetzt einer - ein riesiges Staunen befällt einen gewöhnlichen Menschen, wenn er hört und sieht, wie Emil jetzt spielt. Ein Virtuose, mit großer Intensität des Spiels; er reißt die Zuhörer mit. Als kleiner Junge fing er auf meinem Klavier an! Aus Spaß und Neugier natürlich; er hatte danach sehr gute Lehrer. Ich selbst spiele gar nicht, benutze es fast nicht mehr, mein Klavier. Ich würde es aber trotzdem nicht weggeben. Zu groß ist das Vergnügen, falls jemand vorbeikommt, der spielen kann. Es ist wahr, dass ich eine Zeitlang versuchte, Klavier spielen zu lernen; ich habe mich dann lieber dem Gesang zugewendet, auch dafür ist ein Klavier nützlich.

Jetzt gilt mein Hauptinteresse dem Schreiben, der Sprache.

Ich hatte hier jüngst von Heinz Schlaffer geschrieben, von seinem Buch "Geistersprache", und auch vom zweiten Buch, das ich parallel dazu lese, ist "Der Mensch ohne Inhalt" von Giorgio Agamben. Darin bin ich an einer Stelle hängen geblieben, wo es dem Autor um "Nihilismus" geht, das Kapitel ist mit "Ein sich selbst vernichtendes Nichts" überschrieben. Vermutlich verstehe ich den Titel nicht: wenn Kunst ein Nichts ist, das sich selbst vernichtet, dann liefe das doch darauf hinaus, dass Kunst gar nicht existiert. Warum schreibt er dann darüber? Vielleicht braucht man eine andere Vokabel für "Kunst"? Oder ist das sogenannte Nichts doch noch etwas anderes? Agamben schreibt: "Da das kreativ-formale Prinzip außerhalb seiner selbst keine Stütze mehr findet, verfinstert und entfernt sich die Sphäre des Göttlichen." Hier hab ich mit Kugelschreiber reingekritzelt: "Aber die Kinder!" der Autor fahr fort: "Die Erfahrung der Kunst ist der Raum, in dem der Mensch sich in der radikalsten Weise desjenigen Ereignisses bewusst wird, in welchem Hegel das wesentliche Kennzeichen des unglücklichen Bewusstseins gesehen hatte und das Nietzsche seinem tollen Menschen auf die Lippen legte: "Gott ist todt!"

Offenbar ein Männerproblem. Die Männer brauchen Gott, damit sie sich nicht gegenseitig totschlagen.

Die Kinder vielmehr, ihr aufmerksamer, ihr vertrauensvoller Blick, ihre Direktheit, ihre Offenheit, ihre Freude, ihre Traurigkeit, ihre Fähigkeit, sich trösten zu lassen. Das gibt es. Das kann jeder nachprüfen.

Dem Künstler sollte die Kindlichkeit nicht verloren gehen, denke ich.

Hier noch ein Satz von Agamben: "Unveräußerlich und dennoch sich selbst für immer fremd geworden, ersehnt und sucht die Kunst noch ihr Gesetz." "Ersehnt"!! Ich bitte Sie! Als wärs ein Mensch! "Die Kunst" ist ein abstrakter Begriff, marktfähig, zur Verständigung geeignet, gewiss, aber kein Wesen, dass sich sehnt, das sucht.

Aber Agamben hat den Text schon 1970 geschrieben, heute wäre er vielleicht zurückhaltender.

Davon abgesehen, befassen sich beide Bücher mit der Welt jenseits der Religionen, und da unsere ganze Kultur sich seit Jahrtausenden auf religiöse Vorstellungen stützte, ist das sicherlich ein Thema.

Wiener Neustadt, den 17. Juli

Was für aufregende Tage! Ich muss mich fast um nichts kümmern, bin nahezu niemandem verpflichtet und konzentriere mich völlig aufs Schriftstellerdasein. Dass ich trotzdem mit meinem Roman nicht viel weiter gekommen bin, hat mit der Geschichte selbst zu tun. Ich folge meiner Intuition, ich schreibe ja nicht als Journalistin. Auch mit dem Briefschreiben hat das nichts zu tun. Briefe richten sich immer an jemanden, den ich kenne (oder von dem ich was will), und ich stelle mich auf den Adressaten ein. Daher kommt es, dass kein Brief dem andern gleicht. (Auch meine Mails sind "Briefe".) Aufregend, wie doppelt, erscheint mir die Zeit hier, weil ich mich intensiv mit meinen Gedanken und mit Büchern auseinandersetze, im Dialog. Grade zuende gelesen habe ich "Geistersprache" von Heinz Schlaffer, das den Untertitel trägt: "Zweck und Mittel der Lyrik".

Als ich meiner Freundin, die auch Gedichte schreibt, davon erzählte, wehrte sie empört ab: "Lyrik verfolgt doch keinen Zweck!" Eben. Früher verfolgten Gedichte aber einen Zweck. Noch zu Gottscheds Zeiten (erste Hälfte 18. Jahrhundert) kannte man die Gattung "Lyrik" gar nicht, sondern unterschied nach "Elegien, das ist Klagelieder und verliebten Gedichten", "Sinngedichten, Grab- und Überschriften" (d.h. von Epigrammen), " allerley kleinen Liedern, als Madrigale, Sonetten, Rondeaux", Kirchenstücken, Scherzgedichten. Das heißt, dass die Gedichte immer einem Zweck dienten: zu Lob und Preis, um ein Fest zu schmücken, als Bitte oder Gebet.

Ich zeigte ihr das Buch, und am nächsten Tag meinte sie, dass sie es sich selber kaufen wolle.

Was ist nun so besonders an diesem Traktat? Der Autor, Heinz Schlaffer, einer der größten lebenden Literaturkritiker deutscher Sprache, zeigt sich als knochentrockener Atheist. Es gibt keine Geister, also kann man sie auch nicht mit Versen gnädig stimmen, das ist sein Standpunkt. Die ursprünglich religiöse Basis ist der Poesie verloren gegangen. Warum schreibt dann die Welt trotzdem noch Gedichte? Beantworten tut er die Frage nicht; dafür stellt er ständig neue Fragen, und die machen das Buch so spannend.

Was er nicht beachtet, ist, dass es offensichtlich ein Bedürfnis der Menschen nach Jenseitigem gibt, oder wie man das Unnennbare nennen will. Auch wenn sich herausstellt, dass die Menschen sich ihre Götter selbst erfinden, es sie also gar nicht gibt, so bleibt doch das Bedürfnis danach. Bei Schlaffer erscheint eine "Freude" am Gedicht nicht als "Nutzen". So verrät er sich. Der wahre Nutzen war für ihn eben immer Gottesdienst oder wenigstens praktischer Dienst am Menschen, und das bezeichnet er als Nutzen. Dass eine Umstellung des Atemrhythmus beim Lesen eines Gedichts auch ein "Nutzen" sein kann, das erkennt er nicht. Er fragt auch nicht, warum Opern heutzutage beliebter denn je sind? Dieser unglaubliche Aufwand einer Opernaufführung? Nun, weil die Singstimmen direkt in den Körper der ZuhörerInnen eindringen und etwas darin verändern. Besonders, wenn die Zuhörer durch den Anblick des Bühnenbildes etc. noch abgelenkt werden.

Es stimmt natürlich alles, was Schlaffer schreibt. Und weil das, was ich grad eben gesagt habe, weil das den Rahmen seines Buches sprengen würde, lässt er es ungesagt. Er bleibt beim Thema. Das Gedicht richtete sich an höhere Wesen, es war feierlich, voller Wiederholungen, auch pathetisch. Es gab vorgeschriebene Formen. All die Formen sind geblieben, auch seit ihr Zweck verschwunden ist. Und schließlich kann auch noch "Gedicht" sein, was die alten Formen sprengt. Sylvia Plath dient ihm hier als Beispiel. Die Geschichte geht weiter!

 

Hier ein Gedicht von mir:

 

Wär ich ein Gras

so wüsste ich von Wurzeln

von Fußgetrampel

ich sög Tau und Sonne ein

und wäre niemals neidisch.

 

Dieses Gedicht folgt dem Silbenmaß: 5-7-5-7-7

Immerhin. Und sinnlos oder unverständlich wie bei Sylvia Plath ist es auch nicht. Vielleicht gilt es darum weniger?

Rätsel über Rätsel.

 

Wiener Neustadt, den 15. Juli

Hier bin ich, weil mein Enkel Klavier spielt. Er nimmt an einem internationalen Piano-Seminar teil, wie schon in den vergangenen Jahren, und die Studenten geben während der zwei Wochen mehrere Konzerte.

So kann ich mich tagsüber in der Gegend umsehen, oder mich mit Freundinnen unterhalten, oder schreiben und lesen. Und am Abend besuche ich die Konzerte.

Ich vertiefe mich zur Zeit in zwei spannende Bücher, in denen es um Kunst geht. (Heute fand ich im "Standard", der gehobenen Wiener Tageszeitung, die Überschrift: "Kultur als Dünger für den Tourismus". Da bleibt einem die Spucke weg.) Das eine Buch heißt "Der Mensch ohne Inhalt", von Giorgio Agamben, schon 1970 herausgekommen, aber jetzt erst (bei Suhrkamp) auf Deutsch veröffentlicht. Den interessantesten Gedanken darin fand ich den, der zwischen Betrachter und Schöpfer unterscheidet. Wenn man sich mit der Kunst beschäftigt, dann kommt doch tatsächlich ganz was anderes heraus, je nachdem ob man sie von der einen oder anderen Seite betrachtet.

Vorige Woche hielt jemand in der Frankfurter Fachhochschule einen Vortrag, in dem er viel über die derzeitige "Kunst" klagte, die seiner Meinung nach gar keine sei. Aber als ich ihn anschließend auf Agambens Überlegungen hinwies, auf diese Unterscheidung zwischen Konsument und Künstler, da verstand er mich nicht. Für ihn ging es um das "Kunstwerk an sich", ohne Rücksicht auf den Autor. Er nannte Balzac als Vorbild, der ja ein sehr dubioser Mensch gewesen sei (z.B. war er ein Monarchist!), aber großartige Erzählungen geschrieben habe. Ich gab auf. Der Vortrag war übrigens unter dem Titel "Lob der Kulturindustrie" angekündigt, hielt sich aber nicht dran. Dem armen Redner war sogar die industrielle Kultur (Fernsehen, Kino etc.) nicht gut genug!

Das andere Buch heißt "Geistersprache", geschrieben von Heinz Schlaffer. Untertitel: "Zweck und Mittel der Lyrik". Der erfahrene Literaturkritiker beschreibt, wie alle Lyrik, vom Religiösen herkommend, allmählich seine numischen Wurzeln vergessen habe und heute fast nur noch individuell zu begreifen sei. Persönlich.

Ich habe das Buch noch nicht ausgelesen und werde darauf zurückkommen.

Nun hat es 24 Stunden geregnet, und es sieht so aus, als wolle die Sonne hervorkommen!

 

Frankfurt, den 5. Juli

Es gäbe viel zu erzählen. Fürs erste aber eine Email, die ich heute erhielt - auch das ist wichtig!

 

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Basic Banking: Europaparlament fordert Recht auf Bankkonto für

Jedermann

 

Das Europäischen Parlament hat heute den legislativen Initiativbericht

des Berichterstatters Jürgen Klute zum Zugang zu grundlegenden

Bankdienstleistungen mit einer breiten Plenumsmehrheit unterstützt. Die

Kommission muss nun innerhalb eines Jahres einen Gesetzesvorschlag

vorlegen bzw. ihre Gründe gegenüber dem Europäischen Parlament

erläutern, falls sie dem nicht folgt.

 

Die Kommission schätzt, dass ca. 30 Millionen Bürgerinnen und Bürger in

der EU kein Bankkonto haben. Darunter sind zumindest 6,4 Millionen,

denen der Zugang verweigert wird oder die nicht einmal wagen, sich bei

einer Bank nach einer Kontoeröffnung zu erkundigen. Der Aufforderung

der EU-Kommission, Möglichkeiten und Rechte für alle Bürgerinnen und

Bürger auf ein einfaches Bankkonto zu schaffen, sind bisher nur 12

Mitgliedstaaten nachgekommen. In Deutschland gibt es bisher nur einen

Verhaltenskodex der Finanzinstitute, wonach sie solche Konten anbieten

wollen.

 

Zum Abstimmungsergebnis erklärt Sven Giegold, finanz- und

wirtschaftspolitischer Sprecher der Grünen im Europaparlament:

 

"Mit seiner breiten Unterstützung hat das Europaparlament einen

wichtigen Schritt hin zu einem europäischen Recht auf den Zugang zu

Bankdienstleistungen gemacht. Eine sozialistisch anmutende Mehrheit

fordert, dass die Bewohner der EU-Mitgliedsstaaten ohne Kontoverbindung

die Möglichkeit haben müssen, ein Basis-Girokonto kostenlos oder zu

einem vertretbaren Preis eröffnen zu können. Damit können diese

Menschen endlich am Zahlungsverkehr teilnehmen und ihre alltäglichen

Geldgeschäfte ohne aufwendige Bonitäts- und Darlehensprüfungen

kostengünstiger und sicherer abwickeln. Die Eröffnung des Basis-

Girokontos darf dabei nicht an den Verkauf weiterer Produkte gekoppelt

werden. Somit werden Verbraucherschutz-Regeln an dieser wichtigen

Stelle gesichert. Auf Basis dieses breiten politischen Konsenses muss

die Kommission zügig einen Gesetzesentwurf erarbeiten, der den 30

Millionen Europäern ohne Bankverbindung einen effektiven Zugang zum

Girokonto und damit zum Europäischen Binnenmarkt ermöglicht."

 

Der abgestimmte Berichtstext zu Basic Bankink: bit.ly/KZO1gq

Der Berichtsentwurf zu Basic Banking: bit.ly/LOT56W

 

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Sven Giegold MdEP

www.sven-giegold.de

twitter: sven_Giegold // facebook: sven.giegold

 

Frankfurt, 30. Juni

Immer wieder kommt es zu technischen Fehlern, wenn ich in der Aufregung des Schreibens - ich schreib ja nicht vor und kopier es dann auf meine Webseite, nein, ich schreibe spontan direkt ins Reine - vergesse, beizeiten zu speichern. Dann ist plötzlich die Verbindung zum Internet abgebrochen, weil ich zu lange getippt habe, und wenn ich dann obendrein meinen Text, bevor ich auf "speichern" drücke, nicht separat in den Zwischenspeicher kopiert habe, dann ist er verschwunden. Für alle Zeit im digitalen Meer versunken.

So erging es mir letztes Mal, also vorgestern. Ich muss die Geschichte dann ganz neu schreiben, und dabei verändert sie sich. Seltsame Erfahrung.

Ich berichtete von meinem Wiedersehen mit Filmen, die ich vor 30 Jahren oder so mal gedreht hatte. Nicht allein, niemand macht Filme allein: es braucht Darsteller und Kameraleute und vor allem jemand, der eine Idee damit verfolgt. Die Ideen waren also meine, und ich hatte viele helfende Hände gefunden: jemand, der seine Kamera zur Verfügung stellte, jemand, an dessen Schneidetisch ich die Filme schneiden und den ich auch um Rat fragen konnte, jemand, der oder die hinter der Kamera stand, und Freunde, die Rollen vor der Kamera übernahmen. Es entstand immer Vergnügen, ja, es wurde ein Fest.

Keine großen Filme waren da angestrebt, nein, wahrhaftig nicht. Es ging insgesamt um vier Projekte, von denen zwei eine gewisse Fertigstellung erlangt haben; das dritte ist unfertig und obendrein verworren, das vierte schlicht missraten.

Mich aber bewegte es, beim Anschauen die Bilder wiederzusehen, denen ich damals eine Bedeutung beigemessen hatte. Es gab eine Zeit, da fehlte mir die Wortsprache für den Ausdruck meiner Gefühle weitgehend, aber in den Bildern fand ich sie wieder. Manchmal auch in Gedichten. Beim Anschauen kristallisierte sich die Frage heraus: Finde ich heute die Worte für das, was ich damals mitteilen wollte?

Nicht vollständig, muss ich vorläufig gestehen. Aber manches wird doch deutlicher. Ein Film handelt von vier Frauen. Anfang der achtziger betrat ich die ersten "feministischen" Positionen; was zeichnet Frauen aus, wie unterscheiden sie sich untereinander, das waren so Fragen, denen ich nachging. Was sind ihre Bedürfnisse. In diesem Film zeige ich vier ganz verschiedene Frauen, in einer sehr privaten Umgebung, mit Blumen, Spiegeln, Büchern, Bildern, Polstermöbeln, und der damals obligate Flokkatiteppich liegt auch aus. Ein schönes kleines Filmchen mit Anfang und Ende, ohne Erotik oder jedenfalls ohne explizite Erotik. Ich würde ihn mir gern zusammen mit andern angucken, auch Männern, und sie um ihre Meinung bitten. Ob mir das mal gelingen wird?

 

Frankfurt, 28. Juni

Heute wird es ein heißer Tag in Frankfurt, heiß im Sinne des Thermometers. Endlich, sagen viele. Mir hat dieses andere, etwas kühlere Wetter mit vielen Wolken, mit ein bisschen Wind und gelegentlichem Regen aber auch gut gefallen. So waren die Sommer in meiner Kindheit, wie mir scheint.

 

Frankfurt, 25. Juni

Bei der Performance in Paris wurde kein Apfel verwendet, wie ich geschrieben hatte, sondern eine Mangofrucht! Ich saß so weit weg, dass ich die Frucht selbst nicht habe sehen können. Jemand, der ganz nah dabei war, hat mich drauf hingewiesen.

Für meine Geschichte macht das keinen großen Unterschied: statt eines unterschwelligen Verweises auf Adam und Eva , wegen des Apfels, schenkt uns die Mango eine Assoziation zu Exotik und Luxus. Die leise Dramatik der Aufführung bleibt völlig erhalten, neigt sich vielleicht noch etwas mehr einem Klischee von Paris zu ("Là, tout n'est qu'ordre et beauté / luxe, calme et volupté", wie es bei Baudelaire heißt, obwohl es sich bei ihm nicht auf Paris bezieht).

 

Diese Nacht habe ich in einem Moment der Schlaflosigkeit dem Begriff der "Gerechtigkeit" nachgeforscht. Ich bin ja in einer Philosophiegruppe; wir treffen uns einmal im Monat mit einem habilitierten Philosophen, und zwischendurch auch manchmal ohne Lehrer. Kürzlich hatten wir anhand eines neu erschienen Buches unseres Präzeptors die Zusammenhänge zwischen elektronischer "Intelligenz" und der Selbstbestimmung des Individuums untersucht. Ist alles im Fluss ......

Neuerdings wollen wir uns also der "Gerechtigkeit" zuwenden. So strebt man, zum Beispiel ich als "Lesepatin", nach Gerechtigkeit, wenn man dafür sorgt, dass auch arme Kinder Bildungschancen bekommen. Gleiche Chancen für alle, diese Forderung, meinetwegen Utopie, stützt sich auf Vorstellungen von Gerechtigkeit. Alle Menschen sind als Gleiche geboren.

Diese Nacht begriff ich, dass sich das deutsche Wort Gerechtigkeit gar nicht in andere Sprachen in seiner vollen Bedeutung übersetzen lässt. Das Französische kennt die Begriffe "justice" und "équité"; das eine heißt auch "Justiz" auf Deutsch, und équitable entspricht dem deutschen Ausdruck "billig", wie etwa in '"das ist nur recht und billig" und heißt so viel wie angemessen. Wie übrigens auch das englische "fair". "Billig" wird heute kaum noch in diesem Sinn verstanden. "Gerecht" hat alles andere verdrängt! Jeder weiß doch, was "ungerecht" ist, sagte ich mir.

Doch muss ich nun einräumen, dass ein solcher Standpunkt von den eigenen kulturellen Prämissen abhängt. Ich habe mir z.B. erzählen lassen, dass es in Kambodscha den Begriff von "Schuld" überhaupt nicht gibt. Das bedeutet, die dortigen überlieferten Gesetze haben ganz andere Ausgangsgrößen als bei uns.

Letztlich muss ich mich damit abfinden, dass Gerechtigkeit, entspreche sie nun einem geltenden Gesetz oder bedürfte sie eines anderen (wie Kleist so souverän in der Erzählung von Michael KoIhlaas zeigt), eigentlich in einem religiösen Rahmen ihre Wurzeln hat. Zu dem religiösen Rahmen gehört auch immer das Verzeihen, welches in "Gerechtigkeit" nicht angelegt ist.

In den alten jüdischen Geschichten ist ein "Gerechter" ein Mensch, der Gott liebt und sich täglich bemüht, Gottes Gesetze auf die gegenwärtige Situation anzuwenden, mit dem Ziel, Frieden zu schaffen. Also fast unmöglich ......

 

 

 

Frankfurt, 22. Juni

In den letzten vier Wochen verbrachte ich jedes Wochenende an einem anderen Ort, und es dauerte mal zwei, mal drei oder vier oder fünf Tage. Umso kürzer wird die Woche; es gilt dann nur noch das Notwendigste zu tun - waschen, einkaufen, ja, auch Zeitung lesen. Die Druckorgane häufen sich ....

Was fällt mir zuerst ein, wenn ich zurückblicke?

Die Performance.

Ich war zusammen mit einer Künstlerdelegation aus Mörfelden-Walldorf in Vitrolles; die beiden Städte sind partnerschaftlich verbunden. "Jumelage" nennt sich das auf Französisch, eine Verzwilligung? Nein, besser eine Verschwisterung.

Der Empfang in Vitrolles, ein Städtchen, das zwar eine alte Geschichte hat, aber doch kaum 20 km von Marseille entfernt liegt und wirtschaftlich mit der Hafenstadt und deren Flugplatz verknüpft ist, der Empfang in Vitrolles war überwältigend herzlich. Wir lernten viele Menschen kennen, und das, was wir mitbrachten, wurde mit großer Wertschätzung aufgenommen.

Neben den zwei Malern kam auch ein Performance-Künstler aus Mörfelden-Walldorf mit, der bei der Vernissage auftrat. Er verbat sich vorher ausdrücklich jedes Foto; der Grund dafür war, dass er sich nach seinen bisherigen etwa 15 Performances in Deutschland gegen Raubfotos habe wehren müssen: die Leute stellten die Bilder ins Netz, ohne ihn zu erwähnen oder ihm gar was dafür zu zahlen!

Er war sehr aufgeregt, denn sein Auftritt in Frankreich stellte einen Höhepunkt für ihn dar. Seine Performance folge keinem roten Faden, sagte er, sie sei nicht kognitiv ausgelegt. Was tat er?

Er begann damit, den Besuchern der Vernissage Eiswürfel in die Hand zu drücken. Es war sehr voll, ich konnte nicht alles sehen. Ich hörte ihn aber: er robbte über den Fussboden und schrie und stöhnte, während er sich auf eine kleine Leinwand zu bewegte, auf der ein Konterfei von ihm zu sehen war, von einem Beamer rübergestrahlt. Es befand sich unter einer unordentlichen durchsichtigen Plastikhülle, auf die er Worte wie "Sex" geschrieben hatte. Danach erhob er sich wieder und führte die neugierigen Besucher ins Freie. Dort ließ er eine volle Mehltüte platzen, so dass sich der Mehlstaub über alles legte, und rief dabei "Kosmos".

Vermutlich hatte er in der großen Aufregung einiges vergessen, doch das machte nichts. Die Zuschauer reagierten ziemlich erregt: das sei keine Kunst! rief einer; der nächste pflichtete ihm bei, mit Kunst habe das wirklich nichts zu tun! Einige machten sich Sorgen um die Gesundheit des jungen Mannes. Das fand ich rührend.

Zwei Wochen später erlebte ich in Paris bei einer Vernissage wieder eine Performance, diesmal von Pariser Künstlern aufgeführt. Eine schöne, zartgliedrige Frau tanzte mit einem Mann gleicher Größe und Statur, sie sang dabei leise vor sich hin: "Sur le pont d'Avignon on y dance, on y dance ..... et les dames font comme ca, et les messsieurs font comme ca ...." sie betonte das "comme" als sei es das wichtigste Wort des ganzen Liedes. Sie sang mit warmem Timbre, wie ein gedankenverlorenes Kind, aber nicht eigentlich kindlich. Sie führte den Mann beim Tanzen, sie lenkte ihn, er stand plötzlich auf einem Tisch, sie bei ihm. Sie streichelte ihn, ganz zart, und sang immerfort weiter "Sur le pont d'Avignon ...." Es ging bei der Vernissage um eine Ausstellung von Erotik; doch war alles nur angedeutet. So auch bei der Performance. Die Frau spielte nun mit Äpfeln, auf leise und doch zielgerichtete Art; sie aß sie, sie spuckte Stücke aus, sie rieb mit der Hand über die offene Apfelhälfte. "Et les Messieurs font comme ca ..." Sie gab dem Mann ein paar Apfelstückchen zu essen, sie band ihn mit seidenen Bändern an einen Stuhl, sie streichelte ihn, es gab keine Obszönitäten, nur Andeutungen, mit traumwandlerischer Eleganz führte sie die Darstellung fort, zum voraussehbaren und dann doch unerwarteten Ende - die Schauspielerin verbeugte sich, der Mann befreite sich selbst und beide verschwanden.

Den Beifall fand ich verhalten; doch je länger ich über die Aufführung nachdenke, desto begeisterter bin ich davon, weil sie stimmig, fein und sehr, sehr erotisch war. Ja, diese Erotik entwickelte sich gewissermaßen erst nachträglich, in der Erinnerung.

Ein Zwischenfall gehört aber auch berichtet. Mitten in der Vorstellung in dem spärlichen Raum zwischen den Vernissagegästen trat ein magerer älterer, streng aussehender Mann auf die Schauspielerin zu. Er war vorher als höherer Kulturbeamter vorgestellt worden. Wir hörten nicht, was er ihr ins Ohr flüsterte, doch nach ihrer Reaktion hatte er sie gebeten, bitte lauter zu singen. Sie tat das, nicht ohne Ironie sang sie "Sur le pont d'Avignon on y dance, on y dance ....." usw., mit klarer Stimme, ein Lied, das in Frankreich jeder Mensch kennt und mitsingen könnte. Niemand brauchte die Worte zu verstehen - vielleicht glaubte der strenge Funktionär aber, sie würde schlüpfrige Worte in ihrem leisen Singsang unterbringen? Nach einer Minute klarem halblautem Gesang verfiel die Sängerin in ihren murmelnden Singsang zurück, der natürlich viel, viel anregender wirkte als das große Tönen.

Was mag der Funktionär sich wohl gedacht haben, als er sich öffentlich der Lächerlichkeit preisgab? "Mach dir keine Sorgen," sagte meine Begleiterin, "er hat es gar nicht gemerkt!"

Zwei Performances, eine deutsche, eine französische - ich denke noch immer drüber nach.

 

Frankfurt, den 4. Juni

Die Orchidee, die ich vor vielen Wochen schon beschrieben hatte, weil es eine alte Pflanze war, die einen neuen Blütentrieb ausgebildet hatte, sie blüht noch immer. Nur die allererste Blüte ist heute verwelkt abgefallen.

Nebenan auf dem Fenstersims wächst an meiner zweiten Orchidee schon gleichfalls ein neuer Knospenstengel heran. Mich hatte jemand gewarnt: man dürfe einen abgeblühten Blütenstengel nicht abschneiden, da sich daran die neuen Knospen bilden würden. Ich hatte ihn aber abgeschnitten. Nun war ich doppelt gespannt - und siehe, ich habe alles richtig gemacht. Nun freue ich mich auf die zweite Orchidee; welche Farbe sie wohl hat?

In allen Blumenkästen auf dem Balkon drängeln sich Ringelblumen, die auch ganz von selbst heranwachsen. Sie stehen so dicht, dass die andern Pflanzen, - etwas Petersilie, ein Salbei, ein paar kleine Geranien - Mühe haben sich zu behaupten. In ein paar Tagen werde ich alle Kalendulablüten abschneiden und zum Trocknen auf ein Blech legen. Man kann daraus einen guten Tee brühen. Dann reiße ich ein paar der Pflanzen raus, damit die andern Luft bekommen.

Der Stachelbeerstrauch hängt voller Beeren. Ich hab ihn das zweite Jahr, und letztes Jahr trug er fast nichts. Sie sind jetzt noch nicht reif genug, und wahrscheinlich werden sie auch nicht sehr dick. Muss mich mal umhören, was ich nächstes Jahr evt. für Dünger dazu gebe. Auch die Himbeeren setzen an, und von den zwei Erdbeerpflanzen, die den Frost überstanden haben, erntete ich schon 6 Stück. All diese Ernten bringen mich natürlich nicht über den Winter. Wie mein Großvater im Juli 1942 schrieb: "Gegen den Mangel an Obst und Gemüse im Frühjahr, im Mai und Juni, hilft nur Einmachen. Ob die Leute die Sachen aber so lange aufbewahren?"

Wie gut geht es uns, heute bewahren die Kühlhäuser alles für uns auf!

Von meinen Stachelbeeren werde ich schätzungsweise ein, zwei Gläser mit Marmelade füllen können, und wenn ich dann meinen Gästen die "selbstgezogene Stachelbeermarmelade" zum Frühstück anbiete, wie steh ich da! Welcher Snob macht mir das nach! Oder sollte ich "Snobbin" sagen?

Na ja, nicht so wichtig.

 

Frankfurt, 1. Juni

Der Sommer steht in voller Blüte, sogar in der auspuffgeschwängerten Luft der Mörfelder Landstraße rieche ich die Lindenblüten. Seit zwei Tagen haben sie sich geöffnet und senden ihren unvergleichlichen Duft herab. Aber auch die Düfte von Jasmin und Rosen aus den Vorgärten strömen in meine Nase, wenn ich diese den Zweigen nähere. Ich möchte meine Erinnerung auffrischen, die Jugend-Erinnerung an diese Düfte: an den Jasmin besonders mit seiner lockenden Schwere .... Rosen riechen ganz unterschiedlich, manche auch gar nicht. Neulich traf ich eine, die leicht nach Zitrone duftete.

So finde ich Freude an der Natur auch auf der Straße.

Es gibt aber einen Ort, wo die Freude in Ärger, ja Abscheu umschlägt: das ist unter den Eisenbahnbrücken, von denen ich mindestens eine nicht vermeiden kann, wenn ich in die Stadt gehen will. Unter diesen hässlichen Betonbrücken nisten Tauben. Sie bedecken mit ihrem Kot den ganzen Bürgersteig. Wenn es auf dem Fahrdamm davon weniger gibt, so vermutlich nur deswegen, weil die vielen Autos den Schmutz verwirbeln und beiseite fegen. Das bedeutet, die Luft ist voller Taubendreck, die Schuhe nehmen ihn mit, in die Kinderwägen dringt er ein .... eigentlich ein Skandal.

Vor vielleicht einem Monat begegnete mir eine Putzkolonne, die wenigstens einen Gehsteig mit Kärchergeräten säuberte - übrigens trugen die Männer dabei keine Schutzmasken. Insgesamt geschieht solche Säuberung viel zu selten, eigentlich bräuchte man sie jeden Tag. Und die Tauben sollten vertrieben werden. Aber in Frankfurts Straßen wird eben nicht jeden Tag geputzt, nicht einmal jede Woche - manchmal nach meinen Gefühl nie.

Anders in Paris, wo ich das letzte Wochenende aus Familiengründen verbrachte. Dort putzen die "grünen Männer" jeden Tag, zumindest "intra Muros", d.h. in der historischen Innenstadt. Bei dem Wetter erschien mir Paris wie ein Traum aus Schönheit von Farben und Formen. Auch an Umgangsformen zwischen den Menschen.

 

Frankfurt, 24. Mai

Gestern endete glorios ein kleines Filmfestival, das gewiss mehr Echo verdient hätte: "10 films from Urban Africa" im Hafenkino von "Hafen2" an der westlichen Grenze von Offenbach. Die meisten Leute kommen angeradelt, aber mit dem Auto ist man rascher dort. In einer gemütlichen Brache am Main sitzen die Gäste draußen, in guter Luft, denn es gibt dort praktisch keine Industrie mehr, und lassen sich bedienen von freundlichem Personal. In einer ehemaligen Hafenhalle ist das Kino eingerichtet: nüchtern, asketisch, aber nicht hässlich. So lässt sich auch der übrige Rahmen beschreiben.

An drei Tagen war ich dort und haben großartige Filme gesehen. Zum Schluss wurde ausgerechnet, welche von allen den meisten Erfolg gehabt hatten: bei den Dokus war es der kongolesische Film "Benda Bilili", der von einer Band aus Kinshasa erzählte. Bei den Spilefilmen erhielt den zweiten Platz "Dunya", der von ägyptischen Frauen erzählt - traumhaft.

Den ersten Platz erhielt zum Leidwesen des Leiters ein Hollywood-mäßiger Spielfilm ......

Ein andermal mehr!

Frankfurt, 22. Mai (II)

In der "London Review of Books" fand ich eine kurze Einführung in die Wirtschaftsgeschichte der Nachkriegszeit. Vielleicht übersetz ich sie mal, doch jetzt hab ich keine Zeit. Ich schreibs mal kurz ab, weil ich den Text so bewundernswert klar und klärend finde:

 

"Most analysts divide postwar capitalism into two periods. The first extends from the late 1940s into the 1970s. The end of the second appears to have been announced by the crisis - at first a 'financial' crisis, now often a 'debt' crisis - that broke out in 2008. The precise boundary between the postwar eras gets drawn differently depending on which feature of the terrain is emphasised. In terms of overall growth rates, it was with the recession of 1973-74 that the surge after the Second World War gave way to deceleration across the wealthy world. Intellectually, Milton Friedman's Nobel Prize of 1976 signalled the shift from Keynesianism to monetarism; thereafter orthodox economics was more concerned with low inflation than with full employment. Politically, the neoliberal term began later, perhaps with Thatcher's election in 1979. At any rate, a new kind of socioeconomic arrangement - the Marxian economists Gérard Duménil and Dominique Lévy propose the name 'neoliberalism under US hegemony' - emerged from the turmoil of the 1970s, and is now faltering." (Benjamin Kunkel in seiner Rezension von zwei neuen Büchern über den Begriff der Schulden, LRB Nr. 9 vom 10. Mai 2012)

 

 

Frankfurt, 22. Mai

Was wollen die "Piraten"? Nicht die aus Somalia, die echten, sondern nur die sogenannten, die sich in Deutschland zu einer Partei zusammenschließen? Für ältere Leute nicht selbstverständlich, was sie reden. Gestern abend ist mir eine besonders nebulöse Piratenanhängerin begegnet. Mir fiel auf, dass sie ständig zwischen den Positionen der Urheber und der Nutzer hin und her wechselte. Aber wahrscheinlich liegt gerade darin der Unterschied zwischen dem Denken der Älteren und dem der Jüngeren: diese sind selbst gleichzeitig Autoren und Nutzer. Während wir uns früher miteinander unterhielten, diskutierten, auseinandersetzten, leibhaftig gewissermaßen, reden die Jungen heute übers Netz miteinander, ohne sich auch nur zu sehen, oder allenfalls mit einem Kamerabild - sie reden nicht, sondern sie schreiben, meistens. Gedanken entstehen so. Wir schrieben NACH dem Gespräch; die Heutigen schreiben im Gespräch.

Der Hick bei den Ausführungen der jungen Frau Helferich bestand darin, dass sie zu den Urhebern, die heute, beim heutigen Urheberrecht, von ihren Einnahmen leben könnten, nur (geschätzte) 10% aller Urheber zählte. Eine irrelevante Anzahl, nach ihrer Meinung.

Es wurde nicht klar, was sie eigentlich wollte. Ihre eigenen Texte im Internet für alle Nutzer frei geben, darauf pochte sie mehrfach. Aber wer hinderte sie daran? Offenbar wünschte sie auch kostenlosen Zugriff auf urheberrechtlich geschützte Daten, was sie aber nicht sagte. Sie schwelgte in amerikanischen Namen und Worten, die höchstens 10% (geschätzt, wegen der Symmetrie) ihrer Zuhörer verstanden oder kannten, die andern nicht. Sie vermochte aber noch nicht mal das Wort "Commons", ihr Vortragsthema, zu erklären. Es seien keine "Gemeingüter", schon gar nicht eine "Allmende", versicherte sie immer wieder, es gebe eben dafür keine anderes Wort als "Commons". .

Offenbar gehört der Terminus in die internetfachsprache und harrt dort noch einer anschaulichen Eindeutschung..

Als ein empörter Zuhörer vom "Genossenschaftswesen" sprach, das wir schon seit vielen Jahrhunderten praktizierten und weiter entwickelten, war sie verwundert. Sie hatte betont, dass es keinen hierarchischen Aufbau bei den Commons gebe, sondern alle Teilnehmer gleich seien, nach dem englischen Begriff "peer to peer" (ach, was waren das für Zeiten, als wir in den Fünfzigern von "cheek to cheek" sprachen), und in einer Genossenschaft sind schließlich auch alle gleichberechtigt. Jedenfalls wurde mir nicht einmal ihre Verwunderung verständlich.

Schade.

Sie müsste wohl ein wenig Geschichte und Philosophie studieren, um ihre eigenen Gedanken zu klären. Außerdem würde es ihr nicht schaden, wenn sie einen Kurs für Sprechtechnik belegte. Wer öffentlich redet, soll auch klar artikulieren können. Das fördert die Transparenz.

 

 

 

 

 

 

 

 

Frankfurt, 22. Mai

Frankfurt, 21. Mai

Die große Frankfurter Demo gegen die rücksichtslosen Finanzhaie, gegen die gnadenlose Ausbeutung von Menschen und Umwelt, fand in der Zwischenzeit statt - neben vielen anderen Ereignissen. Ich habe nicht an der Demo teilgenommen. Bin ich zu alt? Oder feige? Oder neige ich mehr den leisen Tönen zu?

Wenn es meinem Lesepatenkind heute gelingt, in seiner Deutscharbeit eine gute Note zu bekommen, dann habe ich das meine getan. Es genügt eine Vier, doch könnte das Kind grad so gut eine Zwei schreiben. Wenn es nur seine Prüfungsangst überwindet und nüchtern vorgeht: immer wieder im Text nachgucken, dann findest du alle Antworten und die richtige Schreibweise.

Klingt simpel, nicht wahr?

Es bedeutete in unserem Fall, dass das Kind in der Schulwirklichkeit angekommen wäre, dass es effizient vorzugehen vermöchte, dass es zum erstenmal nicht bei einer Klassenarbeit in einem undurchdringlichen Nebel versänke und nur daran dächte, wie es da wieder heil heraus käme, ohne Rücksicht auf die Zensur. Immerhin hat die Schule das Kind drei Jahre lang ohne Zensuren leben lassen (zweimal im ersten Schuljahr!!!).

Den Wandel hätte das Kind - wenn er denn gelänge - nicht mir zu verdanken, sondern vor allem dem neuen Lehrer. Seit dem Ende der Osterferien hat die Klasse einen neuen, blutjungen Lehrer (die Klassenlehrerin ist krank - ein "Burnout" käme mir nicht unwahrscheinlich vor), und dieser achtet stärker auf einzelne Kinder, jedenfalls auch auf mein Lesepatenkind. Es fühlt sich ernst genommen, und auf einmal wird ihm die Schule persönlich interessant. Jener fehlende Hauch von Wirklichkeit hat sich plötzlich eingestellt.

 

Aber vielleicht sind das nur meine eigenen Fantasien, denn natürlich hätte das Kind einen Erfolg auch mir zu verdanken, indem ich geholfen habe, es auf die Schulwirklichkeit vorzubereiten, ihm Zugänge zu eröffnen, die es nun nutzen könnte .... wenn -

 

Sobald ich die Ergebnisse habe, sage ich bescheid!

 

 

 

Frankfurt, 10. Mai

Das Poesiefestival ist vorüber. Es war eine sehr eindrucksvolle Veranstaltung. Ich bin nicht nur bei der Eröffnung, sondern auch am Samstag bei dem Film über die Dichterin Antonia Pozzi, am Sonntag bei der Lesung im Badhaus von Bad Soden und natürlich am Montag in der Frankfurter Zentralbücherei dabei gewesen. Nur Dienstag abend schaffte ich den neapolitanischen Sänger und Liedermacher im Kino nicht.

Den Film über die Dichterin Antonia Pozzi hatte die Dozentin einer Filmschule gedreht, Marina Spada, die anwesend war. Sie war davon ausgegangen, dass "Poesie" im Film nicht vermittelbar sei, dass sie andere Wege finden müsse, um das Poetendasein der Pozzi darzustellen. Es bot sich zuallererst die Stadt Mailand an, in der Pozzi gelebt hatte und wo Spada lebt. Dann entdeckte sie eine Gruppe von Medizinstudenten, die selbst Gedichte schrieben. Auf diesen beiden Elementen und zusätzlich auf der "Klassenzugehörigkeit" der Pozzi baute sie ihren Film auf.

Am Montag bemühte ich mich, etwas vom Inhalt der Gedichte zum Publikum hinüber zu transportieren. Ich hatte eine Einführung für alle drei Dichterinnen (auf deutsch) vorbereitet. Dann ging ich auf die Einzelnen ein.

Die Gedichte selbst lagen auch auf Deutsch vor, und eine wunderbare Sprecherin, Frau Koschwitz, las sie so, dass sie sich wie von selbst in die Gemüter einschrieben. Vorher las die jeweilige Dichterin in ihrer Originalsprache, und nachher stellte ich jeder ein paar Fragen. Ich fragte in ihrer Sprache, ich übersetzte, und ich übersetzte die Antwort. Dieser Teil des Abends lief auf ein Surfen auf vier Sprachen hinaus - ein Abenteuer. Es gelang aber einigermaßen, und die Zuhörer gaben mir anschließend das Gefühl, als hätten sie alle drei Dichterinnen in ihrer Verschiedenheit kennenlernen können. Ein Italiener verglich meine Arbeit mit der einer Regisseurin, die aus jeder Person das Eigene herausholt. Das freute mich und gab mir das Gefühl, dass sich all die (ehrenamtliche) Arbeit gelohnt hatte.

Am nächsten Tag spürte ich erst die Müdigkeit ....

 

 

 

 

 

 

 

Frankfurt, 4. Mai

Hier nun die dritte der drei Dichterinnen vom kommenden Montag in der Stadtbücherei. Heute abend wird übrigens das europäische Poesiefestival im Goethe-Institut (Diesterwegplatz 2) eröffnet.

 

 

Jacqueline Risset

 

„Der Schlaf hat vielleicht eine Funktion, die in den Analysen der Fachleute nicht vorkommt. Demnach würde er auf den Begriff der Nicht-Zeit hindeuten, sich ihm nähern, dem Begriff der Ewigkeit, wenn man so will, eine lebende Ewigkeit, die sich als Zeit jener anderen Zeit entzieht, die jeden Gegenstand, jede Landschaft in hohem Tempo und ohne Rückkehr verschluckt und verändert.“

Die Dichterin Jacqueline Risset schrieb ein Buch über „Die Kraft des Schlafes“, dessen Leküre einen immer wacher macht! Der obige Satz entstammt diesem Buch. (Meine Übersetzung)

Jacqueline Risset wurde 1936 in Besançon geboren, und sie lehrt französische Literatur an einer römischen Universität. Der Weg von Besançon nach Rom führte selbstverständlich über Paris. Von 1966 bis 1983 leitete sie dort zusammen mit Philippe Sollers u.a. die Zeitschrift „Tel Quel“. Philippe Sollers, ein berühmter französischer Romancier, schreibt über sie: Sie ist „rieuse, très rieuse, absolument tragique, simple, immédiate, ironique, très compliquée et très cultivée.“

Berühmt ist sie für ihre Dante-Übersetzung ins Französische (bis 1990). Dazu sagte sie selbst in einem Interview, ich fasse zusammen: „In den 70ern galt Dante in Frankreich als verstaubt. Das lag aber nur an den verstaubten Übersetzungen! Dante hat seine Sprache erfunden, und sie ist bis heute modern geblieben! In Frankreich hat sich das Französische über die Jahrhunderte stark verändert – Montaigne kann man heute schwer im Original lesen – aber die italienische Sprache hat sich seit Dante kaum verändert. Nur die Reime habe ich nicht übernommen, sie würden heute wie eine Kopie wirken. Heute muss man freie Verse schreiben. Wenn man selbst Gedichte schreibt, denkt man nicht an die Sprache. Beim Übersetzen stockt man, es bedarf einer wohlwollenden Freundschaftlichkeit.“

Ich empfinde Risset als unerschöpflich und schwer zu fassen. Darum ziehe ich mich auf Zitate zurück. Urteilen Sie selbst!

 

Frankfurt, den 3. Mai 2012

Hier, wie versprochen, einige Hinweise auf die Dichterinnen, die am Wochenende und insbesondere am kommenden Montag Frankfurt mit ihrem Besuch beehren: als erste

Nadia Cavalera

Nadia Cavalera kommt aus einem fernen Italien: im Bild des Stiefels auf der Landkarte ist es der Absatz, wo ihre Heimat liegt, in Lecce wurde sie 1950 geboren. Lecce ist eine sehr schöne alte Stadt, ganz aus spanischem Barock, schwer und hochstrebend zugleich; Nadia Cavalera wurde dort geprägt. Seit über 20 Jahren lebt sie nun in Modena, im modernen Norden, von dort aus erreicht man die Welt, und sie fürchtet die Welt nicht. Ihr gelingt der Spagat von der Welt der Mächtigen hinüber zu der Welt der Arbeiter, der Zurückgelassenen, der am Rande dahin Vegetierenden, sie bedient sich der Sprache als einer starken, ja mächtigen Brücke. Sprache ist ihre Heimat geworden, es sind die Sprachen ihrer Biografie: der Dialekt rund um Lecce, das Hochitalienische, das Amerikanische, das Griechische und das Lateinische. Ihr gelingt es, dies alles in der Gegenwart zu vereinigen und zum Glänzen zu bringen. Auf gleicher Ebene.

Nadia Cavalera gründete schon 1982 in Brindisi eine Literaturzeitschrift, die bis 1988 existierte. Sie wanderte dann nach Modena aus und gründetet das „Bollettario“, ebenfalls eine Literaturzeitschrift, die bis heute floriert. Mehr noch: sie gründete einen Literaturpreis, den „Premio Alessandro Tassoni“, für Dichtung, Prosa, Drama und Essays. Tassoni repräsentierte um 1600 den Widerstand gegen die Überlieferung (er war in etwa ein Zeitgenosse des Torquato Tasso, 20 Jahre jünger), und darin hat Nadia Cavalera ein Vorbild für ihre eigene Arbeit und Haltung getroffen.

Ihre Kunst, Politik in dichterische Sprache zu gießen, hat u.a. damit zu tun, dass sie sich nicht scheut, Worte neu zu erfinden. Veränderung braucht neue Sprache!

 

Als zweite nun

 

 

Eiléan Ní Chuilleanàin

 

Diese Professorin für mittelalterliches und Renaissance-Englisch aus Dublin lässt sich in kurzen Worten nicht darstellen: sie ist Irin, und die irische Geschichte lebt in ihrem Mark; sie ist Dichterin und findet im Englischen die einfachste Sprache, um Individuen, ihre Umwelt, die Zeitspannen, die auf sie einwirken, darzustellen, zu spiegeln und zu vertiefen. Eine ganz neue Sicht aufzudecken. Ein Literaturkritiker schreibt: „Sie ist Geschichtenerzählerin ehe sie Moralistin ist und sie fordert die Leser heraus, wenn sie dem Bildhaften immer Vorrang gewährt“ (Sean O'Brien).

Wie ein Magierin lockt sie uns, ihre Leser, in die Bilder hinein, und erst wenn wir ordentlich darin verstrickt sind, merken wir, was diese Bilder für uns bedeuten. Im Sinn-Angebot speziell für mich, für den Leser, die Leserin, steckt dann der rote Faden, der mich aus dem Irrgarten wieder herausleitet und in mir ein Gefühl von Freude hinterlässt.

„The Swineherd“ heißt so ein Gedicht, und aus Kommentaren erfuhr ich, dass sie damit eine „Schweinehirtin“ meint – im Englischen muss man das nicht spezifizieren. Das Gedicht aber verändert vollständig seine Bedeutung, wenn man es als die Geschichte einer Schweinehirtin versteht – im katholischen Irland, wo die Frauenemanzipation zu Lebzeiten der Dichterin immer einen schweren Stand hatte. Wobei das Gedicht auch in einer Übersetzung mit „Der Schweinehirt“ noch einen weitreichenden Sinn entwickelt.

Frau Chuilleanain gehört zu den angesehensten Dichterinnen Irlands, auch sie hat (mit anderen) schon 1975 eine Literatur-Zeitschrift gegründet: „Cyphers“ , sie gewann mehrere Preise.

 

 

 

Frankfurt, 29. April

Vorgestern abend wurde es warm, und gestern war plötzlich der Sommer da: die Kastanien stehen nun in voller Blüte, die Fliederbüsche duften - ja, das war das Schönste: nach meinem Schnupfen, der mir den Geruchsinn stahl, konnte ich zum ersten Mal etwas riechen: Flieder.

Am Wochenende nahm ich an einem Feldenkrais-Workshop teil; das tat mir gut. Wir wandten uns der Wirbelsäule zu. Unvorstellbar, was es für eine Vielfalt von Varianten an der Wirbelsäule gibt, was und wie man Neues entdeckt. Noch habe ich es nicht geschafft, dass ich mir jeden Wirbel separat vorstellen kann. Doch bin ich diesem Ziel ein Stück näher gekommen.

Schon taucht eine neue Aufgabe auf: Ich bin gebeten worden, nächste Woche beim Europäischen Poesiefestival eine Lesung mit drei Dichterinnen zu moderieren: sie vorzustellen und ihnen anschließend Fragen zu stellen. Obwohl schon jetzt deutlich wird, dass uns nicht viel Zeit zum Gespräch bleibt. Zumal die Veranstalter partout keine Simultan-Dolmetscher beschäftigen wollen - angeblich zu teuer.

Es lohnt sich aber auf jeden Fall, die drei Frauen (die, das weiß ich jetzt schon, jede eine eigene Lesung wert wären) kennen zu lernen.

Ich werde noch Näheres über sie erzählen! Hier schon mal das Datum: am 7. Mai, um 19 Uhr 30, in der Zentralbücherei, Hasengasse, Frankfurt.

Frankfurt, 20. April

Heißt es "Verknüpfung mit etwas" oder geht auch "Verknüpfung an etwas"? Etwas an die Umwelt verknüpfen, das las ich eben in einer Mitteilung des Börsenvereins und stockte - war aber zu bequem, mir den Duden herüber zu holen, um mich bestätigen zu lassen. Der Börsenverein teilte mit, dass er für eine Kleist-Biografie einen Preis vergeben habe, deren Autor eine besondere "Verknüpfung an das historische Umfeld" gelungen sei.

Im Wort "verknüpfen" stecken doch schon zwei Subjekte (oder mehr), und selbstverständlich kann dann der ganze Komplex auch an etwas Drittes ANknüpfen, aber es besteht ein Unterschied zwischen "an-" und "ver-", den, vermute ich boshafterweise, die junge Pressereferentin übersehen hat ...

Es ist immer noch kalt, auch wenn die Sonne scheint und das Thermometer auf meinem Balkon 10 ° C anzeigt. Als ich beim Obstwaschen das Wasser in der Küche lange laufen ließ, wurde es so eisig kalt wie ein Gebirgswasser! und das in einem geheizten Hochhaus!

Aber die Zeit schreitet voran. Am vergangenen Wochenende kam ich nicht dazu, meine taz zu lesen, weil mich eine Grippe mit Geierkrallen gepackt hatte. Erst vor zwei Tagen blickte ich hinein, weil in Leserbriefen - durchweg begeistert - darauf hingewiesen worden war: die Wochenend-taz vom 14. April war dem Thema "'Gutes Leben" gewidmet.

Schon die SPD nervt mich mit ihrem "guten Lohn", "gute Arbeit", "gute Gesundheit" (nein?), ach, ich weiß nicht, was noch für Trivialitäten mit "gut". Wenn es z.B. hieße: besseren Lohn für schlechtere Arbeit, dann fänd ich das unterstützenswert. Aber was bedeutet "gut"??

Ein "Tagelohn" hieß doch auch, dass man davon leben und die Kinder ernähren konnte, oder nicht? (Der "Tageolohn'" erlaubte keine Planung.) Selbst Galeerensträflinge mussten ernährt werden, oder? Wieso erlauben Staat, Justiz und Polizei, dass jemand seine Arbeitszeit für einen Arbeitgeber zur Verfügung stellt und trotzdem der Staat, das Finanzministerium etc. für den Unterhalt dieser Person aufkommen muss??? Während der Arbeitgeber seine Gewinne einstreicht?

Nun also sogar die taz. Ich hab nicht alle 28 Berichte über das persönliche "gute Leben" gelesen - es war sowas von langweilig. Geschrieben haben aber auch nicht die gewöhnlichen Journalisten, sondern "Genossen", also Teilhaber der Zeitung (ich bin auch Genossin - hätte ich was anderes geschrieben, wenn mich jemand gefragt hätte?), und die sind halt brave Leute. Kann man ihnen nicht vorwerfen. Ein taz-Genosse ist per se ein braver Mann.

Nun aber rasch zum Friseur!

Was für ein lockeres Leben ....

 

 

Frankfurt, 18. April

Noch immer hält mich die Grippe in ihren Fängen, nun schon den fünften Tag. Die Schwäche nimmt zu, alle zwei Stunden spätestens musste ich mich gestern schlafen legen. Der Kopf füllte sich den Tag über mehr und mehr mit Watte, ich konnte nicht mehr denken. Jetzt am frühen Morgen lebe ich auf und sammle die Bilder, die Gedanken. Am kommenden Sonntag muss und will ich unser Buch vorstellen, die Anthologie von Muepu Muamba, und dafür sammle ich mich. Eher sage ich alle anderen Verabredungen ab, als dass ich einen Rückfall riskiere.

Diese Woche habe ich ziemlich viele Verabredungen. Die der letzten zwei Tage habe ich schon ausfallen lassen, und heute werde ich damit wohl fortfahren. Schade, dass ich die Freunde verpasse.... Ich kann nur hoffen, dass sie mich nicht vergessen.

Solange ich liege und schlafe, brauche ich nicht zu husten und meine Nase bleibt trocken. Aber jetzt, kaum dass ich zehn Minuten auf bin, läuft sie wieder wie ein munterer Quell ... Und der Druck auf dem Kopf wächst ...

Ich denke an Muepus Werke. Was ist es, was war es, dass mich anrührte, meine Bewunderung weckte? Es waren seine Worte. Gewiss. Doch in Wahrheit: Sein Geist.

Es schimmert ein Netz durch seine Sätze:

Ein goldenes Netz? Des Lebens

Adern-Netz? Pulsierend

Vom Miteinander, hält es

Liebe und Zorn im Gleichgewicht,

Im Abstand von allen Gemeinheiten.

So schrieb ich vor ein paar Wochen und es gilt noch immer. Das Gleichgewicht, die Balance, die Liebe überwinden die Krankheit. Und der Schlaf.

 

 

 

Frankfurt, 16. April

Husten, Schnupfen, eine Art von Grippe befällt mich - als ich gestern in der U-Bahn saß, hörte ich viele Leute husten, in ähnlichen Tönen wie mich selbst seit drei Tagen. Heute bin ich im Bett liegen geblieben und trinke unentwegt Tee: grünen Tee, Eisenkraut-Tee, Salbei-Tee bislang. Heute nachmittag muss ich wieder raus, ich hoffe doch, dass sich mein Zustand allmählich bessert. Ich betrachte meine schöne handgemachte Teekanne: seit vielen Jahren schon dient sie mir in ihrem unvergleichlichen Blau, in ihrer wie selbstverständlich eleganten Form. Ich habe sie einst aus Zfat mitgebracht, das ist eine Stadt im Norden von Israel, bei Buber heißt sie noch "Safed". Die Keramikerin hieß Lilmod, und das bedeutet in der hebräischen Sprache "Lernen".

Bei Martin Buber wird "lernen" im Sinne von "beten" gebraucht; er beschreibt die frommen Juden aus dem Safed des 19. Jahrhunderts als Menschen, die bei ihren religiösen Verrichtungen immer die Schriften zitieren, lesend oder auswendig, das spielte keine Rolle. Jedesmal wurde der Text wieder ganz neu betrachtet, als hätte der Rezitierende ihn noch nie vorher gehört. Das war zumindest der Anspruch der "Frommen", wie Buber sie beschreibt.

In meiner Teekanne sehe ich ein eine solche Einmaligkeit: als hätte die Keramikerin nie zuvor eine andere Teekanne geformt, als sei es ihr in diesem Moment nur um sie gegangen.

Es ist dies ja auch ein Weg in die Kunst: im Moment des Gestaltens vollständig und uneingeschränkt bei der Sache - und bei Gott zu sein. Dann und nur dann lässt sich anschließend sagen: und es ist gut so.

 

 

 

 

Frankfurt, 8. April (2)

Mein Osterspaziergang führte mich zur Baustelle der Europäischen Zentralbank. Sie soll 2014 bezugsfertig sein. Sehr eindrucksvoll, der Bau, und so riesig, dass man - ich - nicht recht sagen kann, was davon zu halten sei. Die alte Großmarkthalle, unter Denkmalschutz stehend, bleibt äußerlich größtenteils erhalten, doch frage ich mich, ob man sie neben dem ungeheuren Turm überhaupt noch wahrnehmen wird. Im Zentrum steht ein Glasturm, nein, zwei Türme, die durch terrassenartige Flächen in manchen Stockwerken miteinander verbunden werden. Der Turm steht auf einer ziemlich großen Grundfläche - es ließe sich wahrscheinlich durch Internet präzisieren - ich schätze mindestens zweihundert Quadratmeter, und er befindet sich hinter der alten Großmarkthalle. Diese wird in der Mitte durch ein gläsernes Zwischenstück unterbrochen, das wird von der Straße her der Haupteingang. Der Turm hat die 100 Meter an Höhe schon überschritten.

Auf der östlichen Seite der Baustelle schraubt man stählerne Teile der Mainbrücke zusammen, die den Autoverkehr aus dem großen Anwesen hinaus gleich auf das linke Mainufer schaffen soll, zur Autobahn-Ostumgehung, und so die Hanauer Landstraße entlastet.

Die Sonne schien, und ich hatte meinen Fotoapparat dabei, ein digitale Taschenkamera, bald wohl zehn Jahre alt. Irgendwie hat sie schlecht funktioniert. Ich fand nachher nur die Hälfte oder noch weniger von den Bildern, die ich zu knipsen geglaubt hatte, darin wieder. Schade, das Licht, die Wolken schienen mir aus jedem Foto einen alten holländischen Stich zu machen, so schön! Ich hatte das entstehende Gebäude schon aus größter Entfernung aufgenommen und mich ihm allmählich genähert. Mehrere Aufnahmen hatten schließlich den Turm in seinem heutigen Zustand aus nächster Nähe zum Gegenstand. Aber davon nichts im Speicher. Schade.

Es war ein schöner und interessanter Spaziergang. Wie die Leute um die Baustelle herumgingen und die Fotos, Pläne und andere Erklärungen am Bauzaun studierten. Ich war nicht die einzige, die sich die EZB zum Ziel ihres Osterspaziergangs gemacht hatte.

Ich hatte meinen Schrittzähler angesteckt. Und so darf ich heute mit Stolz auf 9020 Schritte zurückschauen! Das kommt selten vor. Hat aber gut getan.

Frankfurt, 8. April 2012

Es war vor langer Zeit einmal ein bucklichtes Mädchen, das vierte unter seinen Geschwistern, das wie die anderen sieben von klein auf tüchtig lernen musste: nicht nur Schreiben und Rechnen, sondern auch Sprachen, Musik und Kunst,  Geschichte, Geografie, Literatur, Philosophie, und weil es ein Mädchen war, lernte es zudem Stickenund Nähen und Knüpfen. Des Lernens war kein Ende, nie.

Die acht Kinder waren die Nachkommen des Herzogs von Braunschweig, sie lebten im 18. Jahrhundert. Morgens und abends beim Anziehen und beim Auskleiden lernten sie auch Etikette und Kleidervorschriften.

Das bucklige Mädchen hieß Anna Amalia; als es siebzehn war, wollte ein auswärtiger Herzog, etwa gleichen Alters, eine Tochter des Braunschweigers heiraten, und zwar ziemlich dringend. Der Freier kränkelte, und sein Hof befürchtete, er könne rasch sterben. Wenn  dann kein Nachfolger geboren wäre, würden alle Höflinge ihre Arbeitsstelle verlieren! Der Braunschweiger schlug seine Tochter Anna Amalia vor, und diese hatte nichts dagegen; denn ihr Alltag zuhause bewegte sich zwischen ungeliebten Erziehern. Sie versprach sich mehr Freiheit von einer solchen Ehe.

Sie hatte Glück. Kaum ein Jahr nach der Hochzeit gebar sie einen Knaben, ein Jahr später noch einen - da war ihr Mann schon gestorben.

Sie beantragte beim Kaiser eine vorzeitige Mündigkeit und übernahm die "Obervormundschaft"  und damit die Regentschaft über das Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach.

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Was sitz ich auf Ostersonntag 2012 und tröste mich an der Geschichte des bucklichten Mädchens? Oder nicht "trösten", ich bedarf keines Trostes, nur eines momentanen Rückhalts, einer Vergewisserung. Sie betrifft das Lernen.

Etwa zur gleichen Zeit, ein paar Jahre jünger, wuchs in Wien ein junges Mädchen heran, das schön, gesund und fröhlich war, das xte Kind von vierzehn, und dieses Kind lernte nichts als Schreiben, Lesen, vielleicht Rechnen; dazu Tanzen und Hofetikette .... mit vierzehn Jahren wurde dieses Kind schon verheiratet. Was hätte aus ihm werden können, wenn es eine braunschweigische Erziehung genossen hätte? Die Weltgeschichte wäre anders verlaufen! Ich meine natürlich Marie-Antoinette, die letzte Königin des "Ancien Régime" in Frankfreich.