Tagebuch Winter 2008/09

Frankfurt, den 31.3.

Jetzt noch rasch einen knappen Bericht von gestern abend: im "Haus am Dom", einem katholischen Kulturzentrum, trat ein Israeli auf, der fünf Jahre  lang israelischer Bostschafter beim Vatikan gewesen war. Er sprach über das Verhältnis zwischen Israel und dem Vatikan. Was kann ich von einem solchen Vortrag erwarten? fragte ich mich auf meinem Weg dorthin, und meine Antwort war: Wie erhält man den Frieden, obwohl die Standpunkte unvereinbar sind?

Und dies war, was ich hörte: Seit zweitausend Jahren werden die Juden verfolgt, und ganz besonders durch Rom - Rom hat sie ins Exil geschickt - und durch die Christen. Der Redner unterschied nicht zwischen "Rom" und "Christen" und "Katholiken". Seit dem zweiten vatikanischen Konzil hat sich nun die Einstellung der Kirche geändert, und das ist gut so. Der Papst, die katholische Kirche haben das Judentum als "den älteren Bruder" anerkannt. Jetzt fehlt noch, dass im Bildungssystem mehr über Juden (und andere Religionen) gesagt wird, um das allgemeine Wissen über den Andern zu stärken.

Als auch im anschließenden Gespräch die Unterschied zwischen Religionsgemeinschaften und den staatlichen Funktionen vollständig ausgeblendet wurde, bin ich gegangen. Israel ist ein säkularer Staat, Deutschland auch. Der Redner tat, als würde Israel nur von Rabbinern regiert.

Ich war nicht die einzige, die im Zorn ging.

Frankfurt, 28. März

Es ist immer noch kühl, aber heute nacht wird die Uhr für die Sommerzeit vorgestellt (wird uns eine Stunde gestohlen). So werde ich dieses Wintertagebuch mit dem heutigen Datum abschließen.

Als ich gestern im Gallus an Vorgärten vorbeiging, entdeckte ich Veilchen in den Wiesen! Die Forsythien waren dort auch schon aufgeblüht, was sonst fast nirgendwo der Fall ist. Vom Zug aus sah ich, dass die Bäume immer noch schwarz und kahl wirkten - nur eine Trauerweide hatte sich einen feinen, hellgrünen Schleier übergeworfen ....

Ich besuchte gestern das "Dreigenerationenhaus" im Gallus, es gab dort einen Geburtstag zu feiern und eine Gemäldeausstellung zu bewundern. Eine Freundin von mir arbeitet dort - "nicht fest angestellt, nur in Projekten, es ist ein ständiger Kampf". Sie sagte auch, wie sie sich in diesem Hause so wohlfühle, wie gern sie hier arbeite. Das Haus bietet Beratung in allen Lebensfragen und ein Mittagessen zu 3.- € an. Meine Freundin leitet dort Gruppen: etwa ein "Erzählcafé" oder "autobiografisches Schreiben" für ältere Migrantinnen. Frankfurter wissen, dass im Gallus-Viertel viele Menschen mit Migrationshintergrund wohnen. Auch gestern kamen zu dem Geburtstagsfest des Mannes meiner Freundin viele Menschen aus aller Herren Länder. Viele Kinder. Alle Kinder waren jedermanns Kinder. Und an der einen Längsseite des Saales zeigte man die Bilder der Köchin, an der anderen die des Geburtstagskindes. Eine spannende Gegenüberstellung zwischen den Polen "Abstrakt" und "Symbolisch". Am Kopf des Saales saß eine Frau mit Kopftuch, die "Modeberatung" anbot. Sie zeichnete Gewänder auf, wie sie der Ratsuchenden besonders gut stehen würden. Ich bin über zweieinhalb Stunden geblieben. Jetzt bedaure ich, dass ich nicht den Mut aufgebracht habe, auch mich während dieser Zeit "beraten" zu lassen.

Mut? Wieso Mut? Weil die Modevorstellungen einer Verschleierten nicht den meinen entsprechen, das weiss ich von vornherein, und genau das ist das Vorurteil, das ich nicht zu überwinden vermocht habe. Ich spürte nur ein Unbehagen und wollte mich ihm nicht stellen.

Frankfurt, 26. März

Meine Tante Hildegard pflegte zu sagen: "Jeder März hat sieben schöne Sommertage." Mein ganzes Leben lang habe ich den Satz bestätigt gefunden. Nur dieses Jahr nicht. Wir hatten bisher einen einzigen dieser schönen Tage. Und nun bleiben gar keine sechs Märztage mehr übrig, um die Weisheit meiner Tante zu bestätigen. Welch ein trauriger Frühling! Die Bäume ragen schwarz oder grau in die Luft, die Knospen sind wie festgefroren.

Vorgestern hat unser Bundespräsident eine Rede gehalten. Selbst die taz beric htete wohlwollend, denn Herr Köhler forderte Anstand und Rücksicht von Wirtschaft und Finanzen. Wer möchte ihm da widersprechen.

Aber ich habe einen Teil seiner Rede am Fernsehen gehört. Da kam ein Satz, der mich mit entsetzter Lustigkeit erfüllte, ein Satz, den der Bundespräsident offenbar abgelesen hat - nicht einmal frei erfunden! Der Satz, mit Pathos gesprochen, lautete: "Da stockt das Blut in den Adern des Finanzwesens!" Beim letzten Wort stockte auch mir das Blut. Des Finanzwesens! Wessen Blut wohl in diesen "Adern" fliesst??

Danach hörte ich nicht mehr lange zu. Ich dachte: Hätte der Herr Bundespräsident diese Rede vor dreiviertel Jahren gehalten, hätten man ihn für irre erklärt. Als jemand, der nicht weiss, was er sagt, der nichts von Wirtschaft versteht, der seine Kompetenzen überschreitet. Ja, wenn er letztes  Jahr so geredet hätte, dann hätte er Mut bewiesen ...

Frankfurt, 24. März

Letzten Sommer erzählte ich an dieser Stelle, am 2. August, über Klaus Wiegerlings Buch "Leib und Körper". Ich habe damals in Wiener Neustadt und auch später zuhause versucht, eine Art Rezension über das Buch zu schreiben, ich habe ungefähr viermal neu angesetzt und doch ist nichts dabei herausgekommen, was veröffentlichbar gewesen wäre. Das lag an meinem Ansatz: ich wollte als Feldenkrais-Lehrerin darüber sprechen. Das Körperbild der Feldenkrais-Methode war jedoch in dem Buch nicht vorgesehen, und es gelang mir auch nicht, es einzuführen, sei es nur als Gegenüberstellung. Wiegerling und sein Ko- Autor betrachteten das Körperlich-Leiblich nur von außen, nicht als etwas, das man erlebt und als Erlebtes schildert.

Inzwischen habe ich mit der Heidelberger Feldenkrais-Fortbildung begonnen, wo die philosophische Seite der Methode mit in Betracht werden soll. Dabei werden eine Reihe Bücher herangezogen, unter anderm eines des amerikanischen Psychoanalyktikers Daniel Stern, in dem er die Entwicklung des Säuglings untersucht: in bezug auf Bewegung, Erleben und kognitive Entwicklung.

Nun begegnete mir die Besprechung eines anderen Buches von Daniel Stern, und ohne mein oben beschriebenes Vorwissen hätte ich mich nicht dafür interessiert. Es heißt "Der Gegenwartsmoment" und der Rezensent ist Carl Ginsburg, einer der wenigen  Feldenkrais-Lehrer, die eine regelrechte wissenschaftliche Ausbildung vorweisen können (Ginsburg war früher Chemieprofessor). Aber vielleicht habe ich das Heft auch nur aufgehoben, weil ich Ginsburg noch lesen wollte. Es liegt schon seit einem Jahr im Stapel!

Ginsburg schreibt: "Vor einigen Jahren habe ich die These aufgestellt, dass Moshé Feldenkrais' Werk die Grenzen überschreitet zwischen der Erkundung menschlichen Erlebens als Erleben und der Erkundung menschlichen Handelns durch objektive Beobachtungsmethoden. ..." (Ginsburgs Englisch wurde von Uta Ruge übersetzt).

Wobei sich die Feldenkrais-Methode bekanntlich mit der Bewegung beschäftigt, mit den Bewegungsmöglichkeiten des Körpers, und dem Bewußtsein, das man für sie entwickeln - "lernen" - kann.

Durch Ginsburgs Sätze entstand in mir auf einmal die Hoffnung, ich könnte nun doch auf Wiegerlings Buch eingehen, nämlich indem ich von der klar gezogenen Grenze zwischen "Erlebtem" und der "Messung des Erlebten" ausgehe.

Ich wollte damit nur mitteilen, dass ich wieder Mut gefasst habe.

 

 

Frankfurt, 22. März

Es war meine eigene Gefasstheit, an der es mangelte. Ich hätte sie vielleicht nicht aufrecht erhalten können, darum ging ich nicht mit zum Leichenschmaus. Und ich bin ja nur eine entfernte Verwandte. Aber ich werde Marlies nicht vergessen.

*  *  *

Gestern abend ging ich auf Muepus Wunsch zu einem Konzert von Afrikanern. Im Saalbau Gallus trat unter anderm eine Sängerin aus Burkino Faso auf. Diese bedauerte, dass die Tonanlage nicht für Musik eingerichtet war. Dennoch sang sie auch "a capella" nur mit Mikro! Die übrigen Lieder zu einer vorbereiteten Musikbegleitung aus dem Lautsprecher.

Vorher aber trat noch eine angebliche Theatergruppe auf. Sie spielte bestimmt eine Viertelstunde, es war das Schlechteste Theater, das ich je gesehen habe. Die Regisseurin, eine Weisse wie die Mehrheit der sieben Mitspieler, meinte es furchtbar gut. Peace and Love, abwechselnd auf deutsch und englisch, so geht die Zeit hin.

Dann redete noch endlos eine andere Weisse, die sich selbst außerordentlich dafür lobte, dass sie was Gutes tat. Die alle Anwesenden aufrief, ihr darin zu folgen.

Warum meinen diese Leute aus der "Entwicklungshilfe" immer, dass sie rein gar keine Ansprüche an geistige, ästhetische Qualität zu stellen brauchen??

 

 

 

 

 

Frankfurt, 20. März

Es war in letzter Zeit die vierte Beerdigung, der ich beiwohnte. Doch keine hat mich so traurig gemacht wie diese.

An einem sonnigen Vorfrühlingstag auf einem Waldfriedhof. Eine junge Frau in männlicher Uniform trug pietätvoll die Urne dem langen Trauerzug voran. Die Trauerfeier in der Kapelle entsprach allen Ansprüchen, die man üblicherweise hat: nicht Redekunst zählte und nicht die Genauigkeit bei der Darstellung der Verdienste. Die Trauer war so gross, dass man gar nicht hinhören mochte.

Die Verstorbene ist - war - eine entfernte Verwandte von mir, darum wohnte ich der Feier bei. Doch die Trauer, die wie ein bleiernes Gewicht auf mir lastete, die ich auch heute noch spüre, hatte ihren Grund in der Person dieser Frau: einer schönen und arbeitsamen Person, die mehr, als irgendjemand sich vorstellen kann, für Mann, Kinder, Enkel und andere Mitglieder der Familie, ja, auch für das Gemeinwesen tat, die auf eine glänzende Laufbahn als Rechtsanwältin zurückblicken konnte, die für ihre Partei, die CDU, mehr als nur Lippendienste vollbrachte. Sie ist siebzig geworden - und viel zu früh gestorben. Sie hinterläßt eine Lücke groß wie ein Krater. Ihre unerbittlich voranschreitende Krankheit schien uns auf ihren Tod vorbereitet zu haben. Jetzt aber sieht alles anders aus. Bis zuletzt war die Familie um sie herum, auch im Krankenhaus sass Tag und Nacht jemand neben ihrem Bett. Nun aber, bei der Beerdigung am 18. März, standen die vier Enkelkinder, die jungen Neffen und Nichten vor ihrem Grab, sahen hoffnungsvoll und unschuldig dem Geschehen zu: wie die winzige Urne versenkt wurde ins kleine Urnengrab, wie die Trauergäste Blumen, Blütenblätter und einige Schäufelchen Sand darüber warfen. Alle bewahrten die Fassung.

Vielleicht war es die Gefaßtheit, die mich so tief erschütterte, dass ich nicht mehr mit zum Leichenschmaus gehen konnte. Ich flüchtete nach Hause in die Geborgenheit meiner Wohnung. Vielleicht aber ist es tatsächlich TRAUER. Ich trauere um eine Frau, die Vorbild war und die zugleich, in ihrem unermüdlichen Fleiss, gewisse Sensibilitäten (solche wie sie Künstler ähnlich sehen?) nie zugelassen hat. Ich trauere um Marlies Vowinckel.

Frankfurt, 17. März

Auf einmal wird mir bewußt: meine veröffentlichten Gedichte werden mir nun gar nicht mehr gehören. Sie wandern durch andere Köpfe - dann und wann vielleicht auch Herzen -, ihre Bedeutung wird sich wandeln. Sie wecken Gefühle, die ich nicht kenne. Sie werden mit Gelegenheiten verknüpft, von denen ich nichts weiss. Sie werden ohne mich auskommen. Sie dienen mir nun nicht mehr als Geheimfach mit Spiegel, das ich manchmal aufziehe, um mich darin anzuschauen. Ich muss Abschied nehmen. Seltsamerweise.

Etwas Neues beginnt. Ob ich auch neue Gedichte schreibe? "Keine Ahnung", wie die jungen Leute heute gern sagen.  Gedichte treten gewöhnlich unerwartet auf. Gewiss ist nur: ich werde weiter schreiben.



Frankfurt, den 16. März

Gestern durfte ich im Frankfurter Museum Judengasse, in der Ausstellung "Ein gewisses jüdisches Etwas", in zehn Minuten meine Leihgabe  zur Ausstellung kommentieren: die "Geschichte der deutschen Juden" von Adolf Kohut, eine prachtvolle Erstausgabe von 1889. Das war ein großer Moment für mich.

Die meisten Exponate haben einen direkten Bezug zur Shoah. Mein Beitrag bezog sich aber auch auf die vielen Jahrhunderte davor, immerhin lebten Juden seit mehr als tausend Jahren unter den Christen deutscher Sprache, und das Jiddische zeugt davon, unter anderm. Mir lag daran, die deutsche Geschichte einschließlich der jüdischen Bewohner des "Heiligen Römischen Reiches" zu betrachten und zu untersuchen, so, wie der Verfasser des Geschichtsbuches es tut und dadurch dem Leser zu einem anderen Blick verhilft.

Auf diesen "anderen" Blick kam es mir an. Ich versuchte, diese Überlegung in meinen zehn Minuten plausibel zu machen, und mir schien, es ist mehr oder weniger gelungen. Ich konzentrierte mich auf Luther und Reuchlin, die beide um 1500 gelebt und die beide einen intensiven Kontakt zu ihren jüdischen Zeitgenossen hatten. Zu einer Zeit, da Vertreter der katholischen Kirche, in diesem Fall die Dominikaner aus Köln, sich bemühten, alle jüdischen Bücher zu verbrennen. Luthers anfängliche Sympathie verwandelte sich in Hass - warum? Darauf gibt Kohuts "Geschichte der deutschen Juden" eine gewisse Antwort. Reuchlin aber blieb sowohl seinem Christentum wie auch seinen jüdischen Freunden treu. Davon weiss fast niemand.

Vielleicht schaut jetzt der eine oder die andere Zuhörerin genauer nach. Dann hätte ich etwas bewegt.

Frankfurt, den 13. März

Seit drei Tagen Schnupfen, da hilft am ersten Schlafen, und das Schreiben kommt zu kurz.

Auf meine Überlegungen zum "Lesen" schrieb mir eine Bekannte, die selbst eine wunderbare Lehrerin ist: bei den meisten Arbeitsheften zum Deutschunterricht, die von Verlagen angeboten würden, finde sie den Titel "Lesen und Verstehen". Die Zweiteilung sei damit vorgegeben. Ich antwortete ihr, damit würde mein Eindruck nur bestätigt, dass man in Deutschland den kleinen Kindern vermittle, sie könnten lesen, auch wenn sie nur Abrakadabra verstünden.

Damit wird "Lesen" eigentlich entwertet, und was "verstehen" heißt, erfahren manche Kinder nie. Ich persönlich glaube, dass man ein Wissen braucht, um überhaupt zum Verstehen zu gelangen. Es geht also ums Lernen. Für mich ist der Schlüsselbegriff "lernen".

Anscheinend, dieser Gedanke kommt mir jetzt, hat die deutsche Schule nicht das Lernen, sondern das "Verstehen" zum Ziel, ja zu einer Art Fetisch erhoben. Nun bemühen sich die meisten Schüler und ehemaligen Schüler darum, das Verstanden-haben zu simulieren, damit sie nicht ausgeschlossen werden. Wer am besten simulieren kann, hat gewonnen. Glauben sie, und diese Überzeugung hält kaum bis zum Realschulabschluss, noch seltener bis zum Abitur. Aber niemand bietet eine Alternative.

Auch das Fragen ist offenbar keine. Ein anderer Bekannter, auch er ein Lehrer, bestätigte, was mir schon Uwe Schick vor zwölf Jahren verriet: Wer fragt, zeigt Schwäche. Also fragt man nicht. Nach meiner eigenen, indirekten Erfahrung scheinen auch die Lehrer das Fragen nicht zu schätzen, weil es sie aufhält.

Wie traurig all das. Wo das Lernen doch zu den schönsten Erfahrungen des Lebens gehört: Glück im "Aha!"

 

 

Frankfurt, den 8. März

Was bedeutet das Wort „lesen“? Seit ich  hier und da ein bisschen Nachilfe gebe, begegnen mir Schüler, die allen Ernstes glauben, sie könnten „lesen“, wenn sie die einem Buchstaben zugeordneten Laute kennen, auch ohne den Sinn eines Wortes zu verstehen. Sie unterscheiden klar zwischen „lesen“ und „verstehen“.
Ich schlussfolgerte: sie werden von Lehrern unterrichtet, die ihnen die Überzeugung vermitteln, dass das ordnungsgemäße Aussprechen von Lauten  „Lesen“ heiße und dass „Verstehen“ unwichtig sei.
Ich fragte nun mehrmals bei Lehrern nach der Definition von „lesen“ und wie sie damit umgehen in der Klasse. Ich erfuhr, dass Kinder mit sehr unterschiedlichem Vorwissen in die Schulen kämen, und dass man nicht bei jedem Einzelnen ein etwaiges Manko im Elternhaus ausgleichen könne, dafür sei „bei 30 Schülern in der Klasse“ einfach keine Zeit. Einer meinte wegwerfend, dass ja erst dieses „Pisa“ überhaupt die Frage nach einem „Textverständnis“ aufgeworfen habe.
Wie erleichtert war ich, dass im DUDEN das „Lesen“ immer noch definiert wird als „etwas Geschriebenes, einen Text, mit den Augen und dem Verstand erfassen“.  UND dem Verstand! Aber vielleicht hinkt der Duden schon hinter der Wirklichkeit her? Vorsichtshalber schaute ich auch in französischen und einem englischen Wörterbuch nach: dasselbe. Lesen bedeutet auch dort Verstehen.
Ich stellte fest, dass kein deutscher Lehrer systematisch nach jedem einzelnen Kind schaut. Das sei nicht machbar, das werde es doch wohl nirgendwo geben, hörte ich. In Deutschland, zumindest im ehemaligen Westdeutschland, scheint es demnach immer noch Konsens zu sein, dass der Einzelne unwichtig ist.
Mir ist, als blickte ich in einen Abgrund, in ein finsteres und doch wohlbekanntes Loch, von dem ich glaubte, es sei längst ausgefüllt worden, eingeebnet, verschwunden.

Frankfurt, 4. März

Die Mittagssonne scheint, und anstatt vor dem Computer zu hocken, sollte ich Wäsche auf dem Balkon aufhängen und dann hinaus an die Luft gehen. Ich müßte in der Stadt noch einmal nach einem Ersatz-Akku für mein Minidisc-Gerät suchen. Er läßt sich nicht mehr laden, ist ja auch schon an die zehn Jahre alt. Nun steh ich da mit meiner ganzen Sammlung von Minidiscs, mit Radiosendungen von vier Jahren, mit Interviews und Aufnahmen von historischen Gesprächen aus der Familie. Ohne dieses Geräte habe ich keinen Zugang mehr dazu. Überall zucken die kundigen Herren nur mit den Achseln, wenn ich nachfrage.

Mein Gerät trägt die Marke Sony. Wer aber glaubt, es gäbe einen Kundendienst von Sony, der irrt sich. Im Internet steht sogar klipp und klar: "Kein Eintrag". Sony als Firma ist nicht zu erreichen. Der Laden bzw. das Warenhaus, in dem ich es kaufte, hat den Besitzer gewechselt. Dennoch muss ich dort vor allem nachfragen, es ist meine letzte Hoffnung auf einen neuen Akku. Wenn ich wirklich keinen finde, kann ich vielleicht bei Radio x meine ganzen Minidiscs auf CDs überspielen, oder mir ein Gerät leihen, damit ich das zuhause tun kann. Das wird Tage dauern!

Was für ein Ärger mit diesen ewig wechselnden Technologien!

Zum Archivieren genügt es nicht mehr, einfach alles nur aufzuheben. Am sichersten sind vorläufig noch die Akten mit Papier. Es sei denn, jemand baut wie in Köln eine U-Bahn und das ganze Archiv stürzt ab. Dann sind auch die Papiere weg.

Frankfurt, 1. März

Er hat schon geantwortet! Auf dem Friedhof einer "Chiesa San Abbondio" bei Lugano befindet sich das Grab des Dichters Hugo Ball, der eigentlich aus Pirmasens stammt und hatte flüchten müssen ...

Nun liegt es wieder bei mir, ob ich nachschaue, was für ein Heiliger dieser Abbondio war, und warum Hugo Ball hat flüchten müssen. Mehr als den Namen kenn ich nicht, ich würde ihn bei den Dadaisten verorten. Wenn ich sowas spontan nicht weiß, so hängt das mit meiner dreißigjährigen Abwesenheit aus der Bundesrepublik zusammen. Ich habe nicht mitgekriegt, wofür die Heranwachsenden sich jeweils begeisterten.

Oder was sie lernten.

Dieses entsetzliche "Hallo" zum Beispiel. Man gebraucht es anstelle von "Guten Tag". Wenn mir jemand "Hallo" sagt, antworte ich grundsätzlich mit "Guten Tag". Ein "Hallo" setze ich nur ein, wenn niemand da ist, wenn ich rufe: "Hallo, ist da jemand?" oder am Telefon. Es ist so unpersönlich, dieses "Hallo", es ist unkommunikativ, es teilt nichts anderes mit als "ich bin da", vielleicht noch, unbewußt: "Tu mir nichts!". Es atmet Gleichgültigkeit gegenüber dem Andern. Dieser Tage entdeckte ich in  einem Schulbuch sogar, dass in einem Brief, in dem der Empfänger geduzt wird, die Anrede "Hallo" stehen soll! (Ich vermute und hoffe, dass sich dieses "Hallo" auf Duzbeziehungen beschränkt und nicht in Amts- oder Geschäfts-Briefen gebraucht werden soll.)

Wenn man hierzulande ganz offiziell unterscheidet zwischen "Lesen-können" und "Verstehen", so muss das ebenfalls mit Gleichgültigkeit zu tun haben. Wie wäre es sonst möglich, dass irgend ein Lehrer seinem kleinen Schüler bescheinigt, er könne lesen, wenn dieser nicht versteht, was er liest??? Es kann doch nur daran liegen, dass der Lehrer, die Lehrerin nie mit dem kleinen Menschen sprechen! Sich gar nicht dafür interessieren, was in seinem Kopf vorgeht!

Frankfurt, 28. Februar

Eric Giebel hat ein Gedicht mit dem Titel "unterwegs nach san abbondio" geschrieben, es steht in der neuen Poseidon-Anthologie, die wir letzten Mittwoch in Darmstadt vorstellten. Der Name "Abbondio" weckte lang verschüttete Erinnerungen bei mir, Bilder aus meinen Italienreisen in den 60er Jahren. Damals studierte mein Mann in Frankreich Italienisch, und es gehörte auch "Landeskunde" dazu. Wir wollten sie durch eigene Anschauung ergänzen. So lernte ich Italien kennen: die Tarquinier, die Umbrier, die Toskaner. Den "Ramazzotti alla mosca". Wo war San Abbondio?

Mein Nachdenken führt mich zu "Don Abbondio", einer literarischen Figur aus Italien, und schon vertiefe ich mich in jene berühmte nachmittelalterliche Liebesgeschichte, in den Roman der "Promessi Sposi"  ("Die Verlobten"), geschrieben im 19. Jahrhundert von Alessandro Manzoni. Es waren solche Geschichten, wo um Gerechtigkeit gegen eine willkürliche Obrigkeit gekämpft wurde, um Liebe und um einen ehrlichen Umgang miteinander, die mich in jungen Jahren am meisten fesselten. Eine Art von Märchen für Erwachsene. Don Abbondio ist der feige Dorfpfarrer, dem es vor allem um sein Leben und an zweiter Stelle um seine Bequemlichkeit geht. Einer, der sich von Angst leiten lässt. Ganz anders als jener Mönch, der  später den Verlobten doch noch zum Sakrament der Ehe verhilft, weil er nur Gott fürchtet, niemanden sonst.

Vielleicht hat Eric Giebel aber was anderes im Sinn, wenn er  am Schluss seines Gedichtes von einer Blüte schreibt: "sie verströmt den bitteren geruch / von flucht und leben im exil / sie duftet süß."

Ich muß ihn danach fragen.

 

Frankfurt, 25. Februar

Hab meine Gedichte abgesendet, letzte Korrekturen. (Oder bekomme ich noch mal einen allerletzten Fahnenabzug?) In drei Wochen soll ich das Buch in der Hand haben. Der Gedanke lässt mich erbeben: was gebe ich preis mit meinen Gedichten? Was wage ich? Der Gedanke, dass dies kaum jemanden interessiert, tröstet mich natürlich auch nicht. Nur die Vorstellung, dass ich heute Abend in Darmstadt ein paar der Gedichte öffentlich vortragen werde. In Prinz Georgs Schlösschen, ab 19 Uhr. Ich werde dort nicht allein sein, sondern als Mitglied der Autorengruppe Poseidon, und wir stellen uns gleich mit einer Anthologie vor. Sie trägt den Titel "Zug um Zug". Ha!

Auf der Webseite von Andreas L. Seyerlein lese ich von hungernden Kindern und von Elendsquartieren und von Ausbeutung. Er fügt den Seufzer an: "Wie davon erzählen? Und wem?" Ich möchte antworten: Zeugnis ablegen. Darauf kommt es an. Der Rest ist eine je einmalige Mischung von Technik und Engagement, genau wie bei jedem anderen Darsteller auch.

Auch ich befasse mich ja mit Afrika, mit der Wut der Afrikaner über das Unrecht, das ihnen angetan wird. Eben entdecke ich in einem Stapel ein Buch über "Die Rekolonisierung Afrikas". Ich hatte reingeschaut und es dann beiseite gelegt. Wie kommt es, dass die Afrikaner sich nicht dagegen zu wehren verstehen? Eine Vermutung, die mich, je länger ich sie habe, immer weniger loslässt, ist die: es fehlt an Rechtssystemen, die Gerechtigkeit ermöglichen UND die durchgesetzt werden. Es fehlt der Sinn dafür. Ganz weitgehend fehlt der Sinn dafür, dass auch bei uns hier die Sicherheit in der Stadt, auf der Straße, auf den Bürgersteigen nicht selbstverständlich ist, nicht nur auf Polizeieinsätzen beruht, sondern auch auf einem Konsens in den Köpfen. (Wenn es um Steuern geht, bröselt der Konsens auch bei uns.)

Heute morgen um viertel nach sieben weckte mich das Geräusch von Betonbohrern im Haus. Man kann in diesem Plattenbau-Hochhaus nie wissen, wo gebohrt wird, auf welchem Stockwerk, und um viertel nach sieben erreiche ich die Hausverwaltung eh nicht. Ich war machtlos!

Frankfurt, 21. Februar

Ein grauer, stiller Samstag.  Ich war noch nicht auf dem Markt. Darum nur kurz einen kleinen Überblick über mein ganz persönliches Marionettentheater (Zitat aus meinem Gedicht "Geschichten": "Geschichten erzähl ich / die auf dem Boden / meines Schädels spielen / mit schwarzem Samt ausgeschlagenes Marionettentheater ...")

Die Geschichten von der EVOLUTION: mit diesem Terminus bezeichnet man bekanntlich die Veränderung des Erbgutes von Lebewesen über Jahrmillionen hinweg. Es ist ein Fremdwort, und ich hörte einen katholischen Professor der Theologie sagen (zitiert aus der Erinnerung): "Evolution bedeutet Entwicklung, und was anderes will denn Gott, als dass wir uns zu ihm hin entwickeln?". Das nenn ich Schindluder mit der Sprache treiben. Damit verwirrt man Kinderköpfe so, dass sie auch im Erwachsenenalter nicht unterscheiden können zwischen der Genetik - Vererbung von Eltern zu Kindern - und der wissenschaftlichen Lehre von der Entstehung des Lebens auf der Erde - und nur dort - in 280 Millionen Jahren!

Las in der Zeitung, dass so und soviel Prozent aller Studenten "gegen die Evolution" sind!!!

Dr. Hiltrud Schröter weist auf ihren weblog hin, und dort beschreibt sie klar und deutlich, warum der Islam nach ihrer Meinung eine politische Religion ist, die nicht dem Grundgesetz entspricht und sich daher auch nicht auf die im Grundgesetzt verankerte "Religionsfreiheit" berufen kann.

Es entspricht dem Eindruck, den ich bei der Diskussion von letzter Woche gewann, als der Islamvertreter sagte: "Wir sitzen im selben Boot" und der katholische Vertreter nickte. Die Katholiken sind nämlich auch eine politische Religion, wenn sie ehrlich sind. Immer geht es um Macht über die Köpfe.

Gestern abend besuchte ich eine andere Baustelle: im Café Wiesengrund wurde ein Film über die "Novemberrevolution" gezeigt, die deutsche Revolution von 1918, als die Monarchie abgeschafft wurde. Der Film enthielt so viele Einzelheiten, diese wiederum so knapp und unübersichtlich, dass man kaum etwas davon behalten konnte, was man nicht schon wußte. In der folgenden Diskussison stellte sich heraus, dass vor allem der Konflikt zwischen "Mehrheits-SPD" und den "Linken" hängen geblieben war, weil jeder diesen Konflikt von heute her kannte. Und natürlich waren sie alle links, "die SPD" steht für Verrat und sonst nichts. Alle schwärmten von der "Revolution", alle machten auf mich den Eindruck, dass sie von tatsächlicher Machtausübung im Alltag und im Frieden nichts wußten oder wissen wollten. Die reine Lehre, der reine Tor .....

 

 

 


Frankfurt, der 19. Februar

Nach der Akupunktur suchte ich Ruhe. Im Filmmuseum wurde ein Film "Die große Stille" gezeigt, er handelte von Kartäusermönchen. Vielleicht schenkt mir der Film die Ruhe, die mir manchmal fehlt? dachte ich. Auf dem Weg dahin konnte ich noch einkehren, fand ein fast stilles Café und fertigte ein Schriftstück an, das ich S. versprochen hatte. Dadurch  breitete sich in mir ein Gefühl der Zufriedenheit aus: ich habe was geschafft.

Umso freier setzte ich mich ins Kino, das restlos voll wurde.  Der Film dauerte 169 Minuten, was ich vorher nicht bedacht hatte. Man sitzt doch ziemlich eng im Kino. Ich hielt aber durch. Das rechne ich mir umso höher an, als mir der Film mehr und mehr missfiel: er spielte vor allem mit Bildern. Mit "schönen" Bildern, mit einer Ästhetik, wie sie vielleicht die Impressionisten anstrebten. Oft hatten die Bilder gar keinen anderen Sinn, als nur "schön" zu sein.

So zum Beipiel in der Schneiderwerkstatt. Die Kartäusermönche tragen ein weißes, wollenes Gewand von beträchtlicher Eleganz. Es ist praktisch, aber nicht einfach mit seinen zahlreichen Falten, mit der angeschnittenen Kapuze, mit Taschen und anderen Bestandteilen. Ein Mönch schickte sich an, ein neues Gewand zu schneidern. Der Filmautor ließ ihn die Schere ansetzen und ein Stückchen schneiden, ritsch-ratsch, doch dann ließ er die Kamera schon wieder abschweifen auf irgend ein Licht- und Schattenspiel mit hübschen Proportionen. Eine Achtung vor der Arbeit des Mönchs gab der Filmautor nicht zu erkennen. Genauso ging es beim kurzen Besuch in der Küche oder im Garten. Kein Interesse an der Arbeit. Der Filmer konzentrierte sich aufs Beten - ein Teil der Mönche tut tatsächlich nur das. Und Lesen. Das entspricht den Ordensregeln von den Kartäusern, die nicht nur schweigen, sondern "die besonderes Gewicht auf die Bedeutung der Bücher als 'ewige Geistesnahrung' legten und empfahlen Gottes Wort 'mit den Händen' zu 'predigen' (d.h. zu schreiben), ...", so las ich heute morgen im Internet.

Ja, was lesen sie denn? Und was geht in ihren Köpfen vor? Das erfuhren wir nicht in diesem Film, der ausschließlich an der Oberfläche blieb, bei dem, was man SIEHT. Wenn die Mönche sich einmal die Woche unterhalten durften, so änderte das nichts an dem Eindruck von Oberflächlichkeit: man hörte sie über die Kollegen aus der Karthause von Pavia spotten ("... die haben noch eine Trappe!" Hahaha!)

Ich blieb nicht zur Diskussion, mein Ärger ließ es nicht zu. Ich mußte erst darüber nachdenken: was will dieser Film? Treibt er Propaganda im Sinne der Piusbruderschaft? Lateinische Messe und auch sonst nix zum Denken und Verstehen? Treibt er Schabernack mit Christen, die sich mit der Behauptung des Papstes, das Christentum könne Vernunft und Glauben vereinigen, anfreunden möchten, ohne selber zu denken?

Die große Mehrheit der Besucher blieb sitzen, um den Regisseur anzuhören. Ich merkte, dass vor allem der Interviewer redete, alle Klischees auspackte vom Lärm, unter denen der moderne Mensch leidet etc., so dass der Regisseur nur "ja" oder "nein" zu sagen brauchte. Nein, da ging ich lieber nachhause. In dem Bewußtsein, dass ich in Ruhe ein vernünftiges Schriftstück hatte verfassen können, was mir vielleicht zuhause nicht so gelungen wäre.

Die Enttäuschung blieb. Aber auch die Erinnerung an das von innen strahlende Gesicht des afrikanischen Novizen. Das hatte sonst keiner von den Porträtierten.

 

Frankfurt, den 18. Februar

Mein Bericht über die Diskussion zum Religionsunterricht in öffentlichen Schulen steht seit Sonntag auch unter www.spd-sachsenhausen.de, aber einen Kommentar dazu gibt es noch nicht. Es werden wohl nicht so viele Leute im Gästebuch der Sachsenhäuser SPD gucken gehen.

Ich leide unter rheuma-artigen Schmerzen, das reduziert die Fantasierlust. Heute fühl ich mich etwas besser, vielleicht durch meinen Feldenkrais-Kurs von gestern abend?

Ich mache einen achtwöchigen Kurs, jeden Dienstag eine Stunde, gestern war der dritte Abend. Einen Fokus, den ich anbiete, ist das Atmen, genauer gesagt, die Atembewegung. Diese verändert sich ja ständig, je nach Anstrengung, je nach Gemütszustand. Sie kann freilich auch gewohnheitsmäßig eingeschränkt sein. Die Aufmerksamkeit auf diese Veränderlichkeit zu lenken, ist mein Ziel. Nicht das Atmen selbst steht im Mittelpunkt, sondern die Bewegung. Wenn ich diese oder jene Körperbewegung mache, kann sich dadurch auch die Atembewegung verändern. Wenn ich mir das bewußt mache, bekomme ich einen größeren Aktionsradius.

Ein glückserfüllter Satz, gestern, nach der Stunde: "Wenn ich das fühle, so fühle ich das." Von jemandem, der sich üblicherweise nicht auf seine Gefühle verlassen will. So konnte ich froh nachhause gehen, und heute morgen fühle ich mich leichter, viel leichter als gestern.

 





Frankfurt, 14. Februar

Dem gestrigen Bericht habe ich einen Satz hinzugefügt: es ging um den Vergleich zwischen tanzen lernen und die Religion kennenlernen, was angeblich nur im "Bekennenden Religionsunterricht" geht.
Der Religionsunterricht für Kinder unterstellt IMMER eine Zugehörigkeit, und zwar eine lebenslange. Würde aber jemand unterbrochen tanzen, dann würde er für verrückt erklärt und psychiatrisch behandelt.

Das Beispiel diente mir als Hinweis auf etwas, das ich schon öfter erlebt habe in letzter Zeit: die Manipulationsversuche katholischer Theologen. Sie vergleichen Unvergleichbares, wie hier, oder sie verdrehen den Sinn der Wörter.

Grad heute lag ein Zettel über "Evolution?" in meinem Briefkasten, eine Propagandaschrift in wahrhaft Goebbels'scher Art. Da wird behauptet: "Evolution" und biblische Schöpfungsgeschichte seien zwei "Modelle", zwei "Erklärungsmodelle für die Entstehung des Lebens". Beide Modelle seien "nur Hypothesen (d.h. Glaubensaussagen).."
Weiter braucht man schon gar nicht mehr zu lesen.

Im Deutschen hat das Wort "glauben" zwei verschiedene Bedeutungen: 1. jemandem glauben, 2. an etwas oder an jemanden glauben. Im ersten Fall hat man genug Vertrauen in die sprechende Person, um nicht selbst noch einmal nachzuprüfen, was sie sagt. Im zweiten Fall glaubt man an etwas, das sich nicht nachprüfen und nicht beweisen läßt, zum Beispiel an Gott. Diese beiden Bedeutungen werden gleichgesetzt, bzw. die erste Bedeutung der zweiten, und schon spricht man von "Beweisen"!

Es geht um die Macht über die Köpfe. Die Köpfe sollen das "Denken" anderen überlassen, nämlich denen, die Macht haben wollen .... Ein Rückfall in vordemokratische Zeiten?

 

 

 

Frankfurt, 13. Februar

Religionsunterricht? Aber welcher?

Zwei Katholiken, ein Protestant, ein Muslim, ein Menschenrechtler und ein Atheist trafen sich gestern abend auf Einladung des SPD-Arbeitskreises „Migration & Integration“ in Frankfurt in der Fischerfeldstraße, um  über die Frage zu diskutieren, ob es islamischen Religionsunterricht in staatlichen hessischen Schulen geben solle. Die neue  hessische Kultusministerin hat eine gewisse Offenheit für diese Frage signalisiert.

Grundsätzlich fanden alle, dass es eine Sache der Gerechtigkeit wäre, da ja fast alle andern Religionsgemeinschaften das Recht hätten, „bekennenden“ Religionsunterricht (im Gegensatz  zum neutralen Religionskunde- und Ethik-Unterricht) in öffentlichen Schulen abzuhalten. Der Vertreter der Humanistischen Union (und später auch ein SPD-Mitglied aus dem Publikum) wollten den entsprechenden Artikel 7 des Grundgesetzes als nicht mehr zeitgemäß am liebsten abschaffen, aber sie waren hoffnungslos in der Minderheit. Der katholische Theologe beschwerte sich später sogar, die „Atheisten“ hätten die eigentliche Diskussion überlagert! (Tatsächlich hatten diejenigen, die Staat und Religion wirklich trennen wollten, die geringste Redezeit, jedoch den meisten Beifall.)

Die eigentliche Opposition zu der religiösen Mehrheit am Podium kam jedoch von „Säkularen Muslimen“ im Publikum, die zwar als Muslime geboren wurden (im Islam gilt das Kind muslimischer Eltern von Geburt an als „muslimisch“, es gibt keine Taufe), aber als Erwachsene selbst über ihre Zugehörigkeit und über ihr Leben entscheiden wollen.  Heiner Bielefeldt vom „Institut für Menschenrechte“ riet ihnen, sich zu organisieren und als eigener Verein Mitspracherecht zu fordern. Denn die Muslime in Deutschland müssen sich selbst organisieren, damit der Staat mit ihnen in Beziehung treten kann.

Eine solche Selbstorganisation ist der Verein „Islamische Religionsgemeinschaft Hessen“,  die auf dem Podium von Herr Kaymakci in makellosem Deutsch vertreten wurde. Sie bietet einen grundgesetzgemäßen, deutschsprachigen, von den Landesbehörden überwachten Religionsunterricht an.  Bisher ist noch nicht gewiß, ob diese Gemeinschaft für den evt. geplanten Runden Tisch zugelassen wird. Sie vertritt nämlich so verschiedene Gruppierungen wie Sunniten, Schiiten, Wahabiten und Aleviten. Niemand kann sich bei dieser Vielfalt einen einheitlichen Religionsunterricht vorstellen. Turuk Yüksel fragte: „Darf man in einem solchen Unterricht nicht nur Israel, sondern auch die Hamas kritisieren?“ Und er fragte: „Halten Sie eine Reform des Islam für möglich?“ Keine Antworten erhielt er auf diese Fragen, denn sie wurden als nicht zum Thema gehörig ignoriert. Alle wußten, dass eine Diskussion darüber den heftigsten Streit ausgelöst hätte.

Herr Kaymakci sagte auch, und meinte damit alle Theologen am Tisch: „Wir sitzen in einem Boot!“ Da widersprach ihm keiner. Besonders der katholische Theologe spielte ähnlich wie Kaymakci mit den Worten, wenn er z.B. behauptete: Religion könne man nur in Bekennendem Unterricht kennenlernen (nicht in „Religionskunde“), so wie man Tanzen auch nur durch Tanzen lernen könne! Welch ein Vergleich! Wird denn jemand, zumal Kinder, die Beziehung zur “bekennnenden Religion” nach dem Unterricht ebenso leicht beenden wie er einen Tanz beendet??

Auf dem Podium sass keine einzige Frau. Nur der Moderator erwähnte kurz, es habe wegen dieses Mankos Beschwerden gegeben. Das Thema der Frauenrechte wurde nicht berührt. Erst nach Ende der Diskussion sah ich einen jungen blonden Mann sich drei jungen Kopftuchfrauen nähern mit der schüchternen Frage, wie es denn mit der Beziehung zwischen Mann und Frau im Islam stünde? „Das steht im Koran!“ antwortete eine von ihnen selbstbewußt.

Da haben wir den Salat.


Frankfurt, 6. Februar

A. Mabanckou, ein Schriftsteller aus Kongo-Brazzaville, schreibt in seinem Blog:
    „... Man muss vom afrikanischen Subjekt ausgehen, dieses muss man definieren. Jedoch  hängt die Möglichkeit für alle Voraussetzungen zu einer Definition des afrikanischen Subjekts von der Art und Weise ab, wie die den afrikanischen Gesellschaften eigene Welt definiert wird. Die gestellten Fragen müssen im Zusammenhang mit der Frage „Wer bin ich?“ stehen, die der Afrikaner selbst sich stellt, sie dürfen nicht aus der jahrhundertealten Logik des „...du bist...“ gesehen werden, die der Westen für das afrikanische Denken zugrundegelegt hat. Paradoxerweise haben jedoch die afrikanischen Intellektuellen seit dem 19. Jahrhundert den „Neger“ im Bezug zum Westen definiert...“ (Übersetzung aus dem Frz. von B.H.)

 

Das noch als Ergänzung zu meiner Darstellung vom 24. Januar!

Frankfurt, den 3. Februar

Ist der Ausdruck "opportunistisch" verletzend? Ich meine damit die Menschen, die eine günstige Gelegenheit ergreifen, weil sie ihnen zusagt, weil sie ihnen nützt. Andererseit darf ich bei jedem Parteimitglied unterstellen, dass es am Gemeinwohl interessiert ist, warum wäre es sonst in der Partei. Das kostet ja was. Nein, es geht um Macht, einerseits, um Identifikation andererseits. Da muss natürlich jeder sehen, wo er bleibt. Unter welche Fahne er oder sie sich stellt. Ich denke allerdings auch, dass nicht jeder Einzelne eine voll ausgearbeitete politische Theorie mit sich herumträgt. Das kann man von keinem verlangen.

Ich muß mich wohl für das Wort entschuldigen. Was sage ich aber stattdessen? Wer Erfolg hat, versammelt viele Bewunderer um sich. Wer keinen Erfolg hat, bleibt rasch ganz allein. Sag ich: die Bewunderer des Erfolgs? Nun gibt es im Moment keine Erfolgsmenschen in der SPD, und man begnügt sich volens nolens mit jenen, die gegen die Erfolglosen waren.  Oder mit jenen, die sich jetzt gegen die Erfolglosen äußern.

Ja, da liegt der Hund begraben. Viele von jenen, die begeistert zu Ypsilanti standen, als sie Aussicht auf Erfolg hatte, reden jetzt gegen sie, da sie zurückgetreten ist und mit vielfältigem Hass verfolgt wird. Fast so, als habe sie Aussatz. Kein gutes Wort! Das gefällt mir nicht. Jeder redete nur von sich selber in dieser Versammlung. Doch beleidigen will ich natürlich niemanden.

 

Frankfurt, 2. Februar

Am Samstag, den 31. Januar, also vorgestern, fand die Jahreshauptversammlung der Mitglieder des SPD-Ortsvereins F-Sachsenhausen statt.

Ich bin hingegangen, auch wenn ich keine Ämter mehr übernehmen will. Nur verstehen möchte ich. Was geschieht in der SPD?

Ämter hat die Partei viele zu vergeben: allein unser Ortsverein wählte 27 Delegierte für den bevorstehenden "Unterbezirks-Parteitag". Es stehen für diesen Sommer Europawahlen und im Herbst Bundestagswahlen an. Da müssen Kandidaten nominiert, Programme beschlossen werden. Es gab noch viele andere Ämter.

Ganz viel wurde über die verlorene Landtagswahl geredet, viel zu lange, zu konfus und kontrovers. Für mich entstand aber doch ein Stimmungsbild. Vor allem fand ich auch hier wieder die strikten "Antikommunisten", d.h. eifernde und eifrige Gemüter, deren oberstes Kriterium das des überlieferten "Antikommunismus" ist. Er steht hier für eine  grundsätzliche Feindseligkeit gegen die Partei "Die Linke". Jedes sonstige politische Ziel wird dieser Feindseligkeit untergeordnet. Nicht durch Argumente, sondern durch die Selbstverständlichkeit des Wissens um Wahrheit. Diese Gläubigen bilden keine Mehrheit (nimmt man den Zahlenunterschied der Wähler zwischen 2008 und 2009 so kommt man auf 17% von 40, also gut zwei Fünftel), aber nach der Niederlage haben sie Rederecht, und alle Opportunisten schließen sich ihnen an. Jene die das Parteiprogramm vertreten - bessere Bildung, erneuerbare Energien, Abwahl von Koch, Abschaffung der Studiengebühren u.a. - haben verloren, sollen am besten ihr Posten verlassen, dahin ging der Trend.

Die Anführer riefen zur "Einigkeit" auf. Einigkeit sei oberstes Erfordernis. Natürlich soll das die Meinungsfreiheit nicht einschränken, und so redete einer pathetisch über soziale Gerechtigkeit, eine andere über die systemischen Vorteile eines Personal-Austausches  - neue Gesichter ergäben eine neue Politik - wieder jemand über die Notwendigkeit der "Netzwerke" - diese gelten als rechts, wirtschaftsfreundlich und antikommunistisch -, und schließlich einigten sich alle auf einen Antrag, wonach einer schon halb nominierten Bundestagskandidatin aus einem anderen Frankfurter Ortsverein die Nominierung wieder entzogen werden soll, weil sie durch eine unüberlegte Bemerkung eine falsche Gesinnung zu erkennen gegeben habe. (Uli Nissen hatte sich einen öffentlich irgendwie bäuerlichen Fluch gegen die "Verräter" erlaubt, die eine rot-grüne Regierung in Hessen verhindert hatten.)

Die SPD hats wirklich schwer. Andere Parteien setzen mehr auf Gefolgschaftstreue als auf Meinungsfreiheit und Demokratie. In der SPD will jeder mitreden. So dass schließlich diejenigen oben stehen, die jedem nach dem Mund reden und selbst nur die Macht im Auge haben.

 

 

Frankfurt, 26. Januar

Hier noch der Name des kongolesischen Fotografen: Sammy Baloji.

Heimgekehrt vom Gesangswochenende, singe ich immer noch. Erstaunlich, wieviel mir in den letzten zwei Wochenenden deutlich, klar und einleuchtend geworden ist. Ich weiß sehr wohl, dass dies nicht in wenigen Tagen zu erreichen gewesen wäre - die bewußte Wahrnehmung von Zwerchfell, Beckenboden und Gaumen, das Gefühl für die passende Körperhaltung - ich arbeite seit Jahren darauf hin, aber nun war es auf einmal da, greifbar, wenn ich so sagen darf, und das auch erst am letzten Tag. Erkenntnise, die auch wieder verloren gehen können, das weiß ich wohl, und ich müßte jetzt jeden Tag singen. Wie es in einem Lied von Mozart heißt: "... und sing mit fröhlichem Gemüt mein Morgen- und mein Abendlied". So als sei das für Mozart selbstverständlich gewesen, ein Morgen- und ein Abendlied zu singen. Zu SINGEN, bitteschön, nicht zu hören. Selbst zu singen! Selber! Das ändert alles.

Übrigens wiesen unsere Lehrer auch wieder darauf hin, dass niemand sich selbst in der gleichen Weise hört wie alle andern einen hören. Wer also Gesang studieren, für Andere singen will, braucht unbedingt einen professionellen Hörer und Berater - eben einen Gesangslehrer. Meine Lehrer der letzten zwei Wochen waren Francesca White und Stephen Grant aus Melbourne, Australien. Wunderbare Menschen!

Kassel, den 24.1.

Das zweite Wochenende schon beschäftige ich mich hier mit "Feldenkrais und Stimme". Die eigene Stimme reicht tief ins Unterbewußtsein, und so wird es in mancher Hinsicht schwierig zu erzählen, was geschieht.  Viel bewegt sich, aber bis zu den passenden Worten ist es ein weiter Weg.

Da fällt es mir leichter, von Frankfurt zu berichten, vom Beginn des afrikanischen Filmfestivals "Africa Alive". Vor zwei Tagen wurde im Filmmuseum eine Foto-Ausstellung eröffnet. Sie beschäftigt mich bis heute mit ihrem Geheimnis. Was erzählen diese Bilder? Ein junger Fotograf aus Kongo hat Industrieruinen in Katanga fotografiert. Backsteingebäude rotten vor sich hin, werden von Grün umwuchert, die rostenden Gleise und Eisenstützen verschwinden unter Pflanzen. In der Provinz Katanga lagert ein großer Teil der begehrten kongolesischen Bodenschätze. Davon sieht man allerdings nichts auf den Fotos. Der Fotograf hat jeweils zwei oder drei seiner Aufnahmen nebeneinandergesetzt und dann Archiv-Fotos von Menschen hineinkopiert: größtenteils schwarze Männer, manche nackt, manche elend und unterernährt, manche in Arbeitskleidung, manche in festlicher Uniform - je nach der Situation, in der sich zur Zeit des Kolonialismus die Arbeiter befanden. Der Betrachter erfährt nichts über die Orte und die Menschen auf diesen Bildern, auch nichts über die Epochen oder Entwicklungen während der 80 Jahre der kolonialistischen Herrschaft oder bis heute. Die Bilder sind sich selbst überlassen. In den vergangenen Nächten hab ich sie mir vor die Augen geholt, habe mich gefragt: was will der Fotograf uns erzählen? Er zeigt uns eine gespenstische Landschaft, die einstmals in Menschenhand war und nun wieder unter die Kontrolle der Natur gefallen ist.

Eine Landschaft mit Geistern. Die Namen der einkopierten Menschen kennt vielleicht keiner mehr, wir erfahren jedenfalls nicht, warum sie fotografiert und ihre Bilder archiviert wurden. Der Fotograf aber könnte sie als seine "Vorväter" begreifen, er läßt sie in der Gespensterlandschaft auferstehen. Als Stellvertreter für die Geister seiner Vorfahren, dieser ewig geschundenen, gedemütigten Menschen, läßt er die Fotografierten die alten Orte besuchen. Was finden die Geister dort? Was suchen sie? Gibt es dort für sie Ruhe, gibt es Erlösung, gibt es Frieden und Gerechtigkeit?

Zur Ausstellung gehört auch ein Film, eine Videoschleife in schwarz-weiß: sie zeigt einen schwarzen Tänzer zwischen den Ruinen, zwischen Mauern und Gleisen. Er biegt sich zu einer Musik (an die ich mich nur ungenau erinnere),er schwingt seinen jungen schlanken Körper in gewaltigen Bögen, er springt, er ist gegenwärtig, sehr, sehr gegenwärtig. Er vermittelt ein mächtiges Körpergefühl. Seine Bewegungen beweisen dem Zuschauer, dass Afrika lebt, dass Afrikaner  sich auf ihrem Boden befinden, dass sie bei sich selbst zu sein verstehen, dass sie sich eine Ganzheit bewahrt haben. Vielleicht vermag dieser Tänzer den Vorfahren ihre Ruhe zurückzugeben? Wie kann ich als Europäerin das wissen?

Zumindest kann ich es denken. Tanzend seine Seele aus Bildern neu zusammensetzen. Das vermag ich mir vorzustellen, und es tröstet mich.

Danach beginne ich zu singen.

Frankfurt, den 19. Januar

Narzissmus

Ein Tag nach den hessischen Landtagswahlen - Hessen hat verloren. Die SPD hat verloren. Und warum? Hatte sie nicht das beste Programm, d.h. das Programm, von dem die meisten Menschen und auch spätere Generationen noch Vorteile hatten? Gehabt hätten? Stattdessen werden jetzt die Reichen regieren, die jenigen, die in die eigene Tasche wirtschaften, die ihre Kinder auf Privatschulen schicken, die Lärm und Schmutz dorthin lenken, wo die Armen wohnen.  16,5% für die FDP reichen dafür aus. Dass die CDU kaum ihre Verluste vom letzten Jahr wettgemacht hat - ein bisschen schon - fällt kaum ins Gewicht, schließlich haben auch die Grünen ordentlich zugelegt.

Warum also hat die SPD verloren? Die Weisen und die Wissenden denken noch darüber nach, rechnen hoch und herab, ich kann nur meinem Eindruck folgen. Dafür schaue ich  zuerst auf die Wahlbeteiligung: 61 %. Die 10 %, die die SPD gebraucht hätte, die sind  zuhause geblieben. Sie fühlten sich - gekränkt. Hab ich es nicht öfter gehört, wie selbstverständlich dahingesagt, d.h. der Sprechende wußte, dass "alle" so denken wie er/sie? Und was sagte er oder sie? "Die in der SPD sind sich ja nicht einig."

Ja, die sollen sich einig sein, so denkt das Volk. Die sollen sich nicht gegenseitig Knüppel zwischen die Beine werfen. "Streit" wird wahrgenommen anstelle von demokratischen Auseinandersetzungen. Rivalitäten sieht man. Und dann auch noch diese schöne, gescheite, redetüchtige Frau! Da wird den Männern richtig schwindelig. Da verlieren sie ganz den Verstand, und weil das ein unangenehmes Gefühl ist, wollen sie die Frau lieber beiseite schieben.

So ist sogar "meine" Zeitung, die taz, zu einem Macho-Blatt verkommen, wo nur der brave und treue Nachfolger jener Frau in Ehren gehalten wird, nicht aber die Wahlkämpferin selbst, diese Frau,  die die SPD letztes Jahr zum erstenmal wieder in die Regierungsfähigkeit hineingebracht hatte. Fast. Es fehlten ein paar Stimmen. Mann ließ sie allein. Die Männer im Apparat ebenso wie die Wähler und Wählerinnen ließen sie im Stich.

Ypsilanti wäre Ministerpräsidentin geworden, wenn die SPD einig gewesen wäre. War sie aber nicht. Ist sie noch nie gewesen. Das kränkt die Leute. Da gehen sie zur Strafe lieber nicht wählen.

 

Frankfurt, 14.1.

Gestern abend war ich auf einer Ausstellungseröffnung in Luxemburg: Meine Freundin, die Malerin Nathalie Zlatnik, zeigte in einer "Privatbank" ihre neuesten Werke, und sie hat wieder ganz erstaunliche Entwicklungen durchgemacht. Ich war rundum zufrieden, dass ich dem Ereignis hatte beiwohnen können.

Heute morgen wollte ich vor der Abreise noch rasch bei der Post einen Brief aufgeben, für den ich von Frankfurt aus teures Auslandporto hätte bezahlen müssen. Wieviel der Brief aber in Luxemburg kosten würde, wußte ich nicht. Also rasch zum Schalter. Ich trat in die Schalterhalle des ehrwürdigen Postgebäudes an der Aldringer Straße.  Innen ist die Halle völlig neu mit dunkelrotem, glänzenden Granit ausgestattet, sehr feierlich, mit Palmen. Ich war die einzige Kundin. Beim Hereinkommen ging ich an einem offenen Schalter vorüber, über dem "Frankierte Briefsendungen" stand, also nicht für mich. Die junge Frau dort begrüßte mich mit einem freundlichen "Guten Morgen" ("Mojn", auf luxemburgisch). Ich grüßte zurück und ging zum nächsten Schalter. Hinter einer doppelten Glaswand saß ein Mann und sagte: "Hier ist geschlossen." Ach, hatte ich nicht bemerkt. Ich ging zum nächsten. Dort schaute der Mann mich durch die Glaspaneele an und sagte: "Madame, Sie müssen ein Ticket ziehen." Auf Luxemburgisch, aber das versteh ich ja, und ich begriff auch, dass er von mir einen Zettel mit einer Nummer sehen wollte. "Wo finde ich das Ticket?"fragte ich. Ich war immer noch die einzige Kundin in der Halle. Eine junge Frau von einem der weiteren Schalter rief: "Beim Eingang!" Gut, ich war durch den Nebeneingang hereingekommen, ging also nun zum Haupteingang, drehte mich in Richtung auf die Schalter um und entdeckte tatsächlich ein eisernes, bunt bemaltes Schild, auf dem "Ticket" stand. Ich berührte es, doch ohne Ergebnis. Das Schild war auf ein elektronisches Gerät gerichtet. Dieses enthielt allerlei Teile, darunter einen bunten Bildschirm mit wurstartigen Zeichnungen darauf. Diese waren beschriftet und auf einem stand, auf Französisch: "alle Operationen außer Pakete". Darauf legte ich nun meinen Finger, und prompt spuckte das Gerät einen Zettel mit der Zahl 189 aus. Mit dem Zettel in der Hand kehrte ich an die Seite mit ihren mindestens  sechs Schaltern zurück, hinter jedem Schalter, hinter jeder Doppelglaswand saßen ein Mann oder eine Frau, alle guckten mich an. Eine Frau machte mir Zeichen: an einer Stelle gab es hoch oben eine Leuchtschrift mit einem halben Dutzend Zahlen drauf. Meine fand ich erst nicht, aber plötzlich entdeckte ich die Zahl über einem der Schalter. Erschöpft gab ich meinen Brief durch den Schlitz: "Das ist ja wie bei Kafka!" Die junge Frau war gar nicht gekränkt, sie lachte, wir lachten gemeinsam, sie wog meinen Brief und sagte: "Ein Euro." Ich zahlte und ging; ich war immer noch der einzige Kunde. Ein paar Minuten brauchte ich, um meine Verwirrung abzuschütteln.

Ich habe mindestens 45 Cent gespart, denn es war ja nun Inlandsporto.

 

 

 

 

 

Frankfurt, 11. Januar

Bethlehem ist eine eng umzingelte Stadt, und alle, die dort zuhause sind, dürfen nur unter besonderen Bedingungen oder gar nicht aus der Umzingelung raus. Ich besuchte dort im März mit einer Gruppe das Zentrum für Friedensforschung und -förderung - unter CCRR findet mans im Netz - , dort arbeiten auch deutsche Friedensdiensthelfer, sie haben uns sehr beeindruckt, aber ebenfalls der Dr. Salameh, Direktor dieses Zentrums. Was kann ich ihm  antworten??

PS: Hab auf CNN den Militär-Pressesprecher gesehen, wie er lächelnd in die Kamera sagte: "Für uns Israelis ist es doch besser, wenn Sie von unserer Seite aus berichten!"

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„Aufschrei von Noah Salameh, 7. Jänner 2009
 

Liebe Freunde in aller Welt!

Es tut mir leid, dass die meisten meiner Schriften traurig sind und vom Konflikt handeln, aber ich hoffe auch, dass ihr euch daran erinnert, dass ich die längste Zeit meines Lebens unter einer aggressiven militärischen Besatzung lebe. Als wir uns entschlossen, den Frieden zu studieren, über den Frieden zu arbeiten und Friedensaktivisten zu werden, glaubten wir, dass wir verpflichtet sind, an der Seite der unterdrückten Menschen zu stehen und gleiche Rechte für alle, gleiche Maßstäbe für alle Ereignisse und die gleichen Gesetze für alle als Werte zu vermitteln. Wenn ein israelisches Kind getötet wird, steht die ganze (moderne) Welt auf, um diese Tat zu verdammen und gegen sie zu protestieren und Entscheidungen vom Sicherheitsrat zu verlangen. Jetzt, wo hunderte palästinensische Kinder getötet werden, wird dieses von der Bush-Administration nicht gesehen, mehr noch, sie bestärkt die IDF
(Besatzungsarmee des israelischen Militärs) darin, noch mehr zu töten; und alles im Namen Gottes und des Krieges gegen Terroristenkinder. Unsere Kinder sind Terroristen und die Besetzung ist moralisch! Das sind die Werte, die ihr (als demokratische Welt) uns lehrt !!!???
 
Was zurzeit in Gaza passiert, sind Verbrechen, und die Geschichte würde uns nie vergessen, darüber zu schweigen; das Problem Gaza hat nicht gestern begonnen; seit Jahren umzingelt die israelische Besatzungsarmee Gaza mit ihren Truppen und verhindert die Versorgung mit Lebensmitteln und medizinischem Bedarf. Es ist Zeit, die wirklichen Ursachen für dieses Ereignis zu sehen und es nicht als von der Geschichte der israelischen Besatzung der Palästinenser getrennt zu sehen.
 
Die Besatzungsarmee hat sich nie, nie (!) von Gaza zurückgezogen; sie haben einige Siedler von Gaza abgesiedelt und die Siedlungen geschlossen, und haben es zu einem großen Gefängnis für zwei Millionen Menschen gemacht, die sich nicht bewegen oder ihr Leben selbst bestimmen dürfen; sie verhindern die Versorgung mit Lebensmitteln und Medizin.

Wir wollen von euch und der EU nicht Geld, wir wollen unsere Freiheit; gebt uns unsere Unabhängigkeit, zieht eure Armee ab und lasst uns unseren Staat ohne eure Hilfe bauen. Wir sind erwachsen, wir brauchen euch und eure Besatzung nicht!
 
Es ist kein heroischer Akt, mit einer F16-Rakete eine Schule anzugreifen, die mit einer UN-Flagge ausgezeichnet ist, und 45 Kinder zu töten (Information vom UN-Sprecher der UNRWA).
 
Wie viele israelische Kinder wurden durch palästinensische Raketen getötet? Von den 660 bis jetzt in Gaza getöteten Personen – und die Anzahl wird von Minute zu Minute größer – sind 215 Kinder und 89 Frauen. Heute (am 6. Januar) wurden 135 Personen getötet. Viele Familien sind zur Gänze ausgelöscht worden, israelische Panzer haben ihre Häuser niedergefahren.
 
Und ihr redet vom Krieg! Das ist kein Krieg, denn Krieg findet zwischen zwei Armeen statt. Hier handelt es sich um eine hoch entwickelte Besatzungsarmee und Zivilisten, die über keine Armee sondern über eine Widerstandsbewegung verfügen, die so gut es geht ihre Leute zu schützen versuchte.
 
Ich wiederhole noch einmal: Ihr glaubt Amnesty International nicht, ihr hört nicht auf die Berichte der UN oder UNRWA oder Btselem, ihr glaubt nur der Heiligen Israelischen Besatzungsarmee!!!???
 
Ihr wisst, welche Instruktion die israelische Armee hat: Sie lautet „Kümmert euch nicht um die öffentliche Meinung“.
 
Die israelische Armee verweigert allen internationalen Medien den Zugang nach Gaza … Warum?
 
Ich hoffe, dass ihr als Friedensaktivisten die Dinge mit menschlichen Werten messt und nicht gemäß politischen Einstellungen. Ich glaube, dass das Wichtigste in diesem Konflikt darin besteht, dass die israelische Besatzung die Palästinenser nicht als menschliche Wesen ansieht und uns daher als Sklaven behandelt, die weniger Rechte und andere Gesetze haben und anders behandelt werden können.
 
Es grüßt euch in Frieden und Versöhnung

Direktor Dr. Noah Salameh, The Centre for Conflict Resolution and Reconciliation, CCRR

P.O.Box 861, Bethlehem, Palästina

Tel.: +970-2-2767745,  Fax.: +970-2-2745475
 
(Anm.: der Übersetzerin Gerhilde Merz: Noah Salameh hat viele Jahre in israelischen Gefängnissen verbracht und dort die humanistische europäische Literatur studiert, die ihn zu seiner auf Versöhnung gerichteten Einstellung brachte – und ihm später ein Studium in USA
leicht machte.)“
 

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Pax Christi Nahostkommission, c/o Wiltrud Roesch-Metzler,  Burgauer Str. 7, D-70567 Stuttgart, Telefon 0049-(0)711-2626720
 

 


Frankfurt, den 10. Januar 2009

Eine alte Schulkameradin aus Dortmund berichtete von einer eingefrorenen Toilette, von Eisblumen am Fenster und von minus 13 Grad draußen. Bei uns hier in Frankfurt geht es glimpflicher zu: auf meinem Balkon ist das Thermometer noch nicht unter minus 5 gefallen, draußen auf der Straße kaum unter minus 7. Doch haben auch wir seit mehr als zwei Wochen kontinuierlichen Frost. Dieser Tage war mein Tankstöpsel zugefroren. Jetzt steht das Auto mit minimaler Füllung in der Garage, der Stöpsel läßt sich wieder öffnen - ich muss nun auf dem kürzesten Weg zur nächsten Tankstelle fahren, am besten mit offenem Tank!

Man braucht nur zu  telefonieren, um die verschiedensten Frostgeschichten zu hören. Einer läßt die Rolladen herunter, damit die Kälte nicht durch die Fensterscheiben ins Wohnzimmer strömt. Eine andere zieht die Vorhänge zu, aus dem gleichen Grund. Ich habe grade eine Tüte mit Plastikabfall vor einen Blumentopf gestellt, zwecks Isolierung.

Dann ziehe ich mich ins Warme zurück und lese "Lutèce" von Heinrich Heine, seine Briefe über das politische, künstlerische und soziale Leben in Frankreich. Sie berichten für deutsche Zeitungen aus den Jahren 1840 bis 1844; Frankreich war zu jener Zeit eine parlamentarische Monarchie mit dem "Bürgerkönig" Louis Philippe, der, so Heine, nicht gewählt wurde, weil er, sondern obwohl er ein Bourbone war. Es gab konkurrierende Blaublut-Linien, nicht nur innerhalb des Adels, sondern auch die Nachkommen von Napoleon standen in den Startlöchern. Der König mußte sich daher mit den Parteien gut stellen. Heine unterscheidet unter den Republikanern zwei Fraktionen: die Nationalisten, von Heine spöttisch "Messieurs" genannt, wollten mit Kanonen regieren, die echten Republikaner, Heine tituliert sie mit "citoyens", zogen die Guillotine vor. Der Streit zwischen den Fraktionen brach über der Frage nach der Befestigung von Paris aus: ist eine Befestigung nötig oder nicht? Die "Citoyens" wollten allein auf der moralischen Verteidigung bauen, sich nicht auf Wälle verlassen müssen. Sollte die Guillotine über die Kanone herrschen, oder umgekehrt? Das war die Machtfrage. Die Guillotine gewann.

Heine malte sich den undenkbaren Fall aus, dass Paris angegriffen und ausgelöscht würde. "Ich bin überzeugt, dass sich die Einwohner von Paris für den Fall, dass Paris zerstört würde, über den ganzen Erdball zerstreuen würden, genau wie früher die Juden, und dass sie noch wirksamer als diese den Samen der sozialen Veränderung verbreiten würden." (Meine Übersetzung.)

Paris wurde bis heute nicht zerstört. Worin könnte die "soziale Veränderung'" von heute bestehen? Es könnte der ganzen Welt klar werden, dass das Leben jedes einzelnen palästinensischen Kindes ebenso viel wert ist wie das aller anderen Kinder auf der Erde. Der CNN-Reporter Wedemann drückte das so aus: "Alle Militärs der Welt wollen immer nur die Granaten zeigen, wenn sie abgeschossen werden, nicht aber, wenn und wo sie ankommen." Wedemann will, wenn man ihn läßt, auch die andere Seite zeigen. Das ist Journalismus. Heine würde heute auf Wedemanns Seite stehen.

 

Frankfurt, den 4. Januar

Gestern war ich im Kino und sah eine Voranzeige für den Stauffenberg-Film. Erstaunlich schlechtes Schauspielen. Die Maske des T. Cruise erinnerte mich an eine Barbie-Puppe.  Der Film scheint nun wirklich daneben gegangen zu sein. Das dachte ich, als ich den Satz hörte: "Die Aktion Walküre ist in Betrieb!" Der Cruise drückt auf irgendeinen Knopf, ein Feldtelefon oder sowas und meldet im soldatischen Meldeton: " .... in Betrieb!" Das sollte heißen, die Ausführung des Planes zum Attentat auf Hitler hat begonnen, kann nicht mehr gestoppt werden, alle müssen auf ihrem Posten sein, damits gelingt. "In Betrieb!!" Da hat wohl einer nie über seine Computermattscheibe hinweggeguckt, kennt nichts als sein Betriebssystem, um so eine Übersetzung abzuliefern. Und keiner merkts! Ein amerikanischer Film. Ob der Film wohl auch darüber aufklärt, dass der Stauffenberg als Uralt-Adel vorhatte, in Deutschland wieder einen Ständestaat einzuführen? Wo nur die "besseren Leute" was zu sagen gehabt hätten? Von Demokratie hielt der nichts.

Das Attentat ist mißlungen. Der Krieg ging weiter. Bis zur Einführung der Demokratie. Die freilich niemals völlig gewonnen ist, für die wir uns alle immer wieder einsetzen müssen.

Frankfurt, den 3. Januar

Diese Stille draußen! Sie rührt vermutlich daher, dass die meisten Leute in meiner Umgebung noch verreist sind.

Dagegen dann die Vorstellung von Gasa: so dicht besiedelt wie Berlin, erlebt es pausenlose Luftangriffe seit acht (8) Tagen. Auch diejenigen, die nicht getötet oder verwundet werden, erleben sie, und dieses Trauma vergisst man sein Leben lang nicht mehr, wie alle wissen. Wer Genaueres erfahren will, der schaue bei Uri Avnery im Internet nach. Der alte Journalist stellt mit seinen mehr als 80 Jahren die Verhältnisse noch immer am einfachsten und klarsten dar.

In Luxemburg böllern zu Großherzogs Geburtstag am 23. Juni jedes Jahr die Kanonen 100 Schüsse (oder waren es 101?) über das Tal, in dem ich einmal wohnte. Im ersten Jahr ertrug ich es, ein Zittern erfasste meinen ganzen Körper in der Erinnerung an den Krieg. In den folgenden Jahren saß ich spätestens um fünf vor zwölf in meinem Auto und fuhr irgendwo hin, wo ich die Schüsse nicht hören konnte. Ich gehöre jedoch zu den glücklichen Personen, die nie mit Luftangriffen oder Frontgeschehen unmittelbar in Kontakt gekommen sind. Nur aus der Ferne hörten wir im April 1945 das Grummeln der Kanonen. Und doch: diese Schreckenserinnerung in allen Körperzellen.

Gegenwärtig warten Gasas Krankenhäuser vergeblich auf Diesel (zur Stromerzeugung), der von der EU bereits bezahlt wurde. Wird man den Patienten später auch eine Traumabehandlung stiften?

Jetzt ergreift mich selbst hier in der Stille ein Zittern.

Frankfurt, den 1. Januar

Vereinzelte Böllerschüsse schallen durch die dicken Fensterscheiben. Draußen herrscht Frost, ein schon sinkender Sonnenschein durchdringt den Dunst. Ansonsten ist alles still. Neujahr eben.

Meine Freundin ist schon wieder abgereist, wir verbrachten einen gemütlichen Abend gestern im Café "Wiesengrund", bei einem guten Essen, in angenehmer Gesellschaft. Wir machten uns mit einer amerikanischen Griechin bekannt, die viel zu erzählen hatte, denn sie war in Wahrheit Amerikanerin mit griechischen Eltern, die sich in Deutschland zuhause fühlt. Wir fanden gemeinsame Themen, nicht nur in unserem Entsetzen über die Bombardierung von Gasa, diesem Freiluftgefängnis, in dem anderthalb Millionen Menschen eingesperrt sind, mit Kindern, Alten, Kranken. Freilich, vor weniger als einem Jahr wurde in Nordlibanon ein "Flüchtlingslager", das heißt eine kleine Stadt mit (glaub ich) 70.000 Einwohnern, buchstäblich leergeschossen, und keiner hat wirklich darüber diskutiert. Damals schoß die legale libanesische Armee gegen aufständische Hisbollahs; heute schießt Israel gegen Hamas, wo ist der Unterschied? In beiden Fällen handelt es sich bei den Beschossenen um arme Leute, denen für ihre Lebensführung keine große Wahl offensteht. Die sich dort aufhalten, wo ihnen Unterstützung und ein bisschen Selbstbewußtsein geboten wird.

Ich weiss, ich weiss, eine solche Diskussion bringt nicht weiter. Die Griechin und ich, wir landeten in unserm Gespräch denn auch bald beim deutschen Schulsystem, das - häufig - den Kindern mit nicht-deutscher Muttersprache das Lernen schwer, die Leistungshürden fast unüberwindbar macht. Meine Freundin, die aus Luxemburg kam, wo man bekanntlich mit mindestens drei Sprachen aufwächst, meistens aber mehr, konnte uns nicht gut folgen.

So rasch gerät man in Kommunikationsprobleme! Das muss man sich immer wieder zu Bewußtsein bringen.

Unter Raketenhagel, Zischen, Pfeifen und Knallen machten meine Freundin und ich uns fünf nach zwölf auf den Heimweg und waren froh, als wir heil hier eintrafen.

 

Paris, 27. Dezember

"Und setzet ihr nicht das Leben ein, nie wird euch das Leben gewonnen sein" - wieso fällt mir diese Liedzeile von Schiller jetzt ein?

Weil ich eine Schrift über "L'errance des adolescents" lese, die Suche und die Irrtümer der Heranwachsenden? Oder weil mir ein alter Freund gestern über die "Faszientherapie" berichtete, die es ihm erlaubt, "sich zu fühlen", wenn immer er den Wunsch danach spürtl? Oder der Gedanke, der mir bei diesem Gespräch kam, nämlich dass ich ein zu "politischer" Mensch bin, um mich auf ein "mich-selbst-fühlen" zu reduzieren?

Schillers Lied "Frisch auf, Kameraden, aufs Pferd aufs Pferd" habe ich in meiner Jugend unzählige Male gesungen. Jetzt schon lange nicht mehr. Und es wirkt doch fort, wie mir bewusst wird. So wie bei anderen der Umstand fortwirkt, dass ihre Eltern oder ihre Umgebung ihnen keine Wort, keine Sprache boten, in der, in denen sie ihre körperlichen und geistigen Sehnsüchte zur Zeit der Adoleszenz hätten so ausdrücken können, dass sie sich selbst darin wiederfanden. Und so gingen sie sich verloren. Bevölkern heute halb dement die Altenheime oder hocken einsam daheim, bis sie unfähig werden, für sich selbst zu sorgen.

Ja, setz ich denn mein Leben ein? Bei meiner üblichen Vorsicht und Umsicht ist eine solche Behauptung doch vermessen, nicht wahr?

Zumindest relativ. Ich entwickle Meinungen, für die sich viele andere meines Alters nicht zuständig fühlen, ich nehme am Leben teil und versuche einzuwirken, wo ich kann.

Eben las ich den Blog von Hiltrud Schroeter und kann nur jedem empfehlen, dort selbst nachzugucken.

Soweit für heute. Auf einer azerty-Tastatur zu schreiben, ist mühsam.

Paris, 26. Dezember

Heute gelingt es nicht, auf diese Seite zu kommen, aus technischen Gründen ging nur das Datum durch.

Frankfurt, den 19. Dezember

Reisetag. Vorher aber noch den LIT-Rundbrief in den Kasten gesteckt! Mein letzter Rundbrief. Ich war gebeten worden, ihn noch einmal zu "machen". Das ist: Texte sammeln, selber schreiben, das ganze auf vier Seiten unterbringen und ordnen. Es bedeutet Arbeit: kopieren, in den Umschlag stecken, adressieren. Weil es aber keine Informationen gibt, die nicht von der Weltsicht und der Gesinnung des Mitteilenden bestimmt sind, wird meine Nachfolgerin wohl verstehen, dass sie in Zukunft  selber dafür die Verantwortung übernehmen muss. Glücklicherweise gehört sie einem Vorstand mit tüchtigen Mitgliedern an. Hauptsache, jeder darf Initiativen ergreifen, ohne allein gelassen zu werden. Gemeinsam sind wir stark, das war immer meine Maxime. So kam ich mir bei dieser letzten Nummer des LIT-Rundbriefs schon etwas einsam vor. Ich gehöre ja nicht mehr dazu.

Sobald die Tüte mit den Briefen leer war, weil ich sie alle in den Briefkasten gestopft hatte, wollte ich mich erleichtert fühlen. Tat es aber nicht. Ich machte mir Sorgen, wie es mit dem Verein weitergehen wird. Das passiert allen ehemaligen Vorsitzenden. Ich will aber nicht zu denen gehören, die sich nachträglich noch immer einmischen. 

So wende ich jetzt bewußt meine Gedanken der geplanten Reise zu. Und allen anderen Vorhaben, die durch meinen Kopf schwirren. Auf, auf, zum Kofferpacken!

Frankfurt, den 18. Dezember

Mein Herz klopft. Es klopft stärker als sonst, und mehr als angenehm ist. Ich war beim Kardiologen, der vermutet, dass ich zu hohen Bludruck habe. Tatsächlich stieg in der Praxis des Kardiologen mein Blutdruck höher als sonst. Daraus schloß ich, dass ich Angst vor der kardiologischen Praxis habe, denn schon bei meinem ersten Besuch war ich versehentlich zu einem andern Doktor gegangen und schließlich eine halbe Stunde zu spät angekommen.

Nach den verschiedensten Untersuchungen, darunter einem folterähnlichen 20-Stunden-EKG, soll ich nun ein Medikament gegen Blutdruck nehmen und selber regelmäßig den Blutdruck messen. Das gefällt mir freilich auch nicht, ich werde es aber tun, werde es ausprobieren. Vorher studiere ich im Beipackzettel ausführlich die "Nebenwirkungen" und was es sonst über das Medikament zu erzählen gibt. Auch Gainsbourg hat solche Tabletten nehmen müssen und genommen, was freilich nicht hinderte, dass er an Herzschlag gestorben ist. Mon cher Gainsbourg. Finde ich Trost bei ihm?

"Tiefdruck über dem Garten / Drückt deinen Kummer aus / Du hast meine Hand los- / Gelassen als wäre / Nichts der Sommer ist zuende / Die Blüten verlieren den Duft / Fort schafft sie einzeln / Die mörderische Zeit ".

DEPRESSION AU-DESSUS DU JARDIN.

Frankfurt, den 14. Dezember

"Aus Bildern zusammensetzen", das ist der vorläufige Titel meines Gedichtbandes, den ich nun an einen Verlag schicken werde. Wenn ich Glück habe, erscheint er nächstes Jahr.

Ein Verlag für Gedichte?? Tatsächlich, ich habe eine Verlegerin gefunden, der meine Gedichte gefallen. Das ist doch die erste Voraussetzung. Sie gefallen nicht jedem. Aber letzten August, als ich einige von ihnen beim "Fest am Fluss" in Assenheim vorgetragen habe, da fand ich aufmerksame und zustimmende Zuhörer, auch unter Männern. Das stärkte mein Autorinnen-Selbstbewußtsein. Von Männern erfahre ich im allgemeinen keine Ermutigung. Diese Männer im Publikum kannten mich nicht, und so konnten sie unbefangen zustimmen.

Seit dreißig Jahren schreibe ich Gedichte, und manche sind auch veröffentlicht worden. Fast nie hat jemand darauf reagiert.

In einer Biografie über Marguerite Duras (von Laure Adler) las ich: Duras habe erklärt, außerhalb ihres Werkes existiere sie nicht. Man finde sie nur in dem, was sie geschrieben habe.

Wenn ich die Gedichte durchlese, die ich mein Leben lang geschrieben habe, finde ich mich in einer Weise wieder wie nirgendwo sonst. Da bin ich ja, denke ich, und muss lachen.

Frankfurt, den 13. Dezember

Christine von Braun, eine deutsche Professorin für "Geschlechterforschung" , unterhielt sich gestern abend im Literaturhaus Frankfurt mit Laure Adler, einer Autorin und Politikerin aus Frankreich(sie war z.B. Beraterin von Mitterand in Kulturfragen und begleitete Ségolène Royal bei ihrem Wahlkampf um das Präsidentenamt).

Hier will ich aber nur über eine These schreiben, die ich bei der Gelegenheit von Frau von Braun gehört habe und die mich faszinierte. Frau von Braun hat zusammen mit einer Kollegin ein Buch über den Schleier geschrieben, ich glaube es heißt "Verschleierte Wirklichkeit". Was sie dem Publikum daraus verriet, war ungefähr folgender Ansatz: Im Christentum wurde - durch die Menschwerdung Jesu - die Wahrheit sichtbar. Keine der beiden andern abrahamitischen Religionen behauptet, ihre Wahrheit sei sichtbar, im Gegenteil. In etwa seit der Renaissance, meinte Frau von Braun, sei das Frauenbild der christlichen Wahrheitsvorstellung gefolgt: die Frau wurde nach und nach entblößt, also unbekleidet dargestellt, als eine Form von Wahrheit wurde das angesehen, wurde erlaubt. Dieser Entwicklung des Abendlandes sind die übrigen Ufer des Mittelmeeres nicht gefolgt. Und so geschieht es heute, dass dieser Unterschied zu einem Kampfkriterium zwischen West und Südost ("Orient") geworden ist.

Die beiden Referentinnen stellten heraus, dass ein Verschleierungsverbot in französischen Schulen und Ämtern einer Anerkennung der Säkularität des Staates entspricht, während in der Bundesrepublik das gleiche Verbot, laut Frau von Braun, die Frau Schavan zitierte, mit der christlichen Vorherrschaft im Staate begründet wurde.

Es war wirklich ein spannender Abend, wieder einmal der organisatorischen  Fantasie von Bruno Peyrefitte vom Französischen Institut zu verdanken!

Frankfurt, den 11. Dezember

Jan Assmann, der Ägyptologe, schreibt über ägyptische Religion in mehreren Bänden, der erste ist grade rausgekommen, und so hatten wir das Vergnügen, den Professor mal wieder leibhaftig zu erleben. Der erste Band widmet sich dem Totenkult der Ägypter, und Herrn Assmann ist es gelungen, die Besonderheit dieses sogenannten Totenkults (jedenfalls mir) ganz deutlich zu machen. Er hat fast zwei Stunden geredet, und natürlich musste man wirklich zuhören, um ihm folgen zu können.

Der Vortrag fand im Museum der Weltkulturen statt, und so erläuterte Herr Assmann als erstes den begrifflichen Unterschied zwischen den "Weltreligionen" und den "Weltkulturen". Mit Letzterem bezeichnet man die ganze Anzahl von verschiedenen Kulturen, die es auf der Welt gibt. Mit "Weltreligion" dagegen eine Religion, die kulturelle, nationale, ethnische Grenzen überschreitet. Eine Weltreligion erhebt einen universellen Anspruch, richtet sich an alle Menschen. Das wird möglich, weil eine solche Religion eine universelle "Wahrheit" verkündet, und weil sie sich auf Schriften gründet.

Ich kann hier nicht den ganzen Vortrag wiedergeben; die Einführung jedenfalls war Voraussetzung für die Erklärung, dass die ägyptische eben KEINE Weltreligion sei. Sie war lokal gebunden. Allerdings wurde sie in vielerlei Hinsicht zur Grundlage von Judentum und Christentum, und bleibt deswegen bedeutungsvoll. Wenn man voraussetzt, dass Kult, Theologie und Lebensführung irgendwie Gegenstand aller Religionen sind, dann gilt das auch für die ägyptische. Allerdings war dort zunächst die Lebensführung nicht Teil der Religion, sondern eher einer allgemeinen Weisheit unterworfen. Erst als das Alte Reich vollständig zusammenbrach und damit jede Ordnung und Sicherheit, fing man an, auch den Alltag der Menschen in die Religion einzubeziehen. Die Ägypter fanden den Weg des "Totengerichts":  jeder Gestorbene musste vor diesem Gericht nachweisen, dass er ein anständiges Leben geführt hatte. Und darauf bereitete man sich schon zu Lebzeiten vor....

So stand das Handeln im Vordergrund, die heilige Handlung machte die Religion vor allem aus, nicht so sehr der "Glaube", wie bei den Christen. Wer seine Untergebenen nicht mißhandelte und ausbeutete, wer keine Tiere quälte, der wurde vom Totengericht durchgelassen - es gab 42 Gebote, die alle abgefragt wurden! Durchgelassen zur Welt der Götter, wo  sich der tote Familienangehörige dann für seine lebenden Verwandten einsetzen konnte. Das heißt, durch den "Totenkult" waren alle lebenden Menschen angehalten, sich korrekt zu benehmen! Wer nämlich nicht das Totengericht für sich einzunehmen vermochte, der verschwand in der Hölle. Ja, es gab ein spezielles Monster, eine Schimäre, welche das Herz der schuldig Gefundenen einfach auffraß, dann war der weg.

Aber auch die Liebe spielte im Jenseits eine Rolle, die Liebe zwischen Vater und Sohn oder zwischen Mutter und Tochter. Diese Liebe hieß "Ka" und wurde durch eine Hieroglyphe in Gestalt von zwei ausgestreckten Armen geschrieben.

Und da fällt mir ein, dass die Pfarrerin bei Renates Aussegnung, der Trauerfeier, gesagt hat: Jesus nimmt Renate mit ausgebreiteten Armen auf.

Ein Bild aus dem alten Ägypten! Amen.

 

Frankfurt, den 10. Dezember

Nun ist es schon eine Woche seit der großen Trauerfeier auf dem Hauptfriedhof. In Gedanken fängt man an, sich einzurichten mit Renates Abwesenheit. Doch sie fehlt überall. Wie hat sie sich z.B. um das Frankfurter Litraturtelefon gekümmert! Sie vertrat den VS und die LIT im Literaturrat, und wir konnten sicher sein, dass wir gut vertreten wurden. Sie schaute nicht auf eigene Vorteile. Sie setzte sich für die Gemeinschaft ein. Und es war ihr so selbstverständlich! Am Herzen lagen ihr die "Hessischen Literaturtage", die kommendes Jahr in Frankfurt stattfinden sollen, ganz groß, zusammen mit einer sächsischen Schriftsteller-Delegation. Motto: Zwanzig Jahre gemeinsam - wie fühlt sich das an? Da sie aus Halberstadt stammte, einer Stadt, die in der DDR lag, war sie empfindlich für Ost-West-Fragen.

Ihre ganz besondere Sensibilität für bestimmte Fragen macht ihr keiner nach: neben Ost-West auch die Frauen und die Archivierung von schriftstellerischen Werken. Wohin werden ihre eigenen Unterlagen gehen?

Ich konnte letzte Woche nach der Trauerfeier nicht in Frankfurt bleiben (nicht zum Leichenschmaus gehen), weil mein lange vorbereiteter Fortbildungskurs in Feldenkrais am selben Mittwoch, schon vormittags, begann. Ich schaffte es, um halb vier im Saal in Unterflockenbach zu sein, das ist ein Tal mitten im Odenwald, aber unweit der Bergstraße. Also keine Gebirgstemperaturen, sondern eher ein bisschen milder als in Frankfurt.

Der Kurs dauerte bis Sonntag und vermittelte unerwartete, weitreichende Ausblicke. Darüber ein andermal mehr.

 

Frankfurt, den 3.Dezember

Heute um 13 Uhr findet am Hauptfriedhof Frankfurt die Trauerfeier für Renate Chotjewitz Häfner statt. Dort müssen wir endgültig Abschied nehmen.

Draußen fällt Schneeregen, die ganze Nacht rüttelte der Sturm an Fenstern und Türen.  Wahrlich eine Zeit des Abschiednehmens.

Frankfurt, den 30. November

Renate ist gestorben. Renate Chotjewitz Häfner fiel vor einer Woche um und war tot. Mitten in der Stadt. Wiederbelebungsversuche halfen nicht, so habe ich gehört. Ihr Sohn sagte mir, in ihrer Wohnung hätten so viele angefangene Projekte gelegen, dass sie noch für gut zehn Jahre zu tun gehabt hätte.

Das ist aber nur ein Aspekt dieses Ereignisses, das uns alle, die wir Renate kennen - ach, ich muss jetzt "kannten" sagen - erschütterte.

Ich kannte sie seit 1994, wir trafen uns im VS (Verband deutscher Schriftsteller), ich war relativ neu und sie schlug mich gleich als Kandidatin für den Vorstand vor. Ich wurde dadurch stellvertretende Vorsitzende, was mir zwar keinen Einfluss gab, aber doch die Möglichkeit, die Verhältnisse kennen zu lernen. (Ich kam aus dem Ausland und fühlte mich noch lange Zeit fremd.) Renate kannte die Verhältnisse, ich habe sehr viel von ihr gelernt.

Sie war damals recht streitbar und hatte sich Feinde gemacht, und ich verstand, dass alle ihre Feinde unrecht hatten - es ging diesen immer nur um Macht und nicht, wie Renate, um die Stärkung der Stellung ALLER Schriftsteller. Mit reinem Machtkampf kannte sie sich nicht gut aus. Aber sie resignierte nicht. Sie fand immer wieder neue Wege, um dem Gemeinwohl zu dienen. In den letzten Jahren war sie ein wenig milder geworden, d.h. man konnte sie nicht mehr so leicht verletzen.

Eines ihrer Themen war: Verbreitung von Kenntnissen über die Nazizeit. Sie wußte mit Bibliotheken umzugehen, ihre Idee war z.B. letztes Jahr, fünf verfolgte hessische Autoren auszugraben und in der Frankfurter Stadtbücherei vorzustellen. Das fand im Rahmen einer VS-Aktion ("Verbrannt. Vergessen??", s. Internet) statt, aber sie nützte solche Aktionen geschickt. Sie dachte immer politisch, und sie blieb persönlich.

Ein anderes Thema waren die Frauen. Sie war es, die dafür sorgte, dass die "Autorentage" im Rahmen der LIT in "Literaturtage" umgetauft wurden, weil mit "Autoren" die Frauen ausgeschlossen waren.  Sie wollte noch an dem Tag, an dem sie starb, zu einer Vereinssitzung von "Asta Nielsen e.V" in Frankfurt gehen, wo man sich um das Filmschaffen von Frauen kümmert.

Sie saß im Vorstand des hessichen Literaturrats und in dem des VS Hessen. Sie sollte die nächsten Literaturtage mit vorbereiten (2009 in Frankfurt) und freute sich sehr darauf.

Was machen wir ohne sie? Was wird aus all den Gruppierungen ohne sie?

Es bleiben ihre wunderbaren Übersetzungen der Stücke von Dario Fo und France Rame. Die klaren, sachlichen und dennoch einfühlsamen Einleitungen und Berichte darüber wie über viele andere Dinge. Wer weiterführen wollte, was sie angefangen hat, muss sich eines kundigen Mitarbeiterstabes versichern. Müsste. Wer könnte das sein?

Renate ist unersetzlich. 

Frankfurt, 26. November

Zum geordneten Tagebuch-Schreiben bedarf es doch einer gewissen Muße, und die hatte ich in den letzten Tagen nicht.

Ein Ereignis, auf das ich mich konzentrierte, war die Ausstellung "Ein gewisses jüdisches Etwas", die im Jüdischen Museum Frankfurt stattfindet. Das Museum hatte seine Besucher dazu aufgerufen, irgendeinen Gegenstand, den sie besitzen und der sie an etwas Jüdischen erinnert, dem Museum für eine Ausstellung zu leihen. Am letzen Sonntag sollte man den Gegenstand bringen, dazu ein Blatt mit den nötigen Erläuterungen.

Ich wählte die "Geschichte der deutschen Juden" von Dr. Adolph Kohut, geschrieben 1898, ein schönes Buch, das mir meine Freundin, die dänische Schriftstellerin Hanne Kaufmann geschenkt hatte. Hanne stammte aus Frankfurt, mußte 1933 flüchten.

In diesem Buch wird die deutsche Geschichte aus der jüdischen Sicht dargestellt und umfasst eine Periode von rund 900 Jahren. Einen Monat lang habe ich jeden Tag ein Stück dieses riesigen Werks gelesen, bin auch bis zum Stichtag nicht ganz zuende gekommen. Ich war überwältigt: wie anders sah dort die deutsche Geschichte aus! Nur ein Beispiel: Luther.

Wir lernten über Luther, dass er mit seiner Bibelübersetzung die moderne deutsche  Sprache begründet hat. Und mit seinem Auftritt auf dem Konzil "Hier stehe ich und kann nicht anders. Gott helfe mir! Amen" begann die Reformation. Später hat er das Zölibat für Priester aufgehoben, auch dass weiss man vielleicht noch. Einige haben sicher gehört, dass er judenfeindliche Schriften geschrieben hat, und darüber ist man heute natürlich sehr geniert. Entweder spricht man nicht drüber, oder man wendet es als Argument gegen Kirche und Religion. Fast so, als wäre es jedem von vornherein klar, warum man gegen die Juden wäre, aber gleichzeitig wisse, dass das verboten sei?

Nach der Lektüre von  Kohut aber tauchte in meinem Kopf die Frage auf: Warum eigentlich war Luther judenfeindlich? Noch nie und nirgendwo habe ich gehört, dass DIESE Frage gestellt wurde. Kohut gibt eine Antwort: weil Luther trotz seines anfangs freundschaftlichen Verhältnisses zu Juden nicht erreichen konnte, dass sich die Israeliten taufen lassen wollten. Diese Verstocktheit verzieh er ihnen nicht, doch vermutet Kohut auch eine spezifische  persönliche Enttäuschung.

Dies nur als ein Beispiel für den "anderen Blick", den ich bei Kohut gefunden habe.

 

Frankfurt, 17. November

Dies wird die Woche der Arztbesuche, teilweise routinemäßig, teilweise, weil mein Herz manchmal rebelliert. Meine Augen leiden unter grauem Star. Mit den rheumatoiden Beschwerden hab ich dagegen momentan weniger zu tun - vielleicht dank meiner gründlichen Vorbereitung der Feldenkraiskurse, die ich jeden Dienstag gebe. "Welches Bild mache ich mir von mir?" war meine Anfangsfrage, ausgehend von der Erfahrung, dass sich diese Bild ständig verändert und dass ich lerne, mit den Veränderugen umzugehen, sie vielleicht auch herbeizuführen.

Das Wichtigste dabei: die Wahrnehmung von Veränderungen.

Ich  lese zur Zeit in einem 110 Jahre alten Buch über die "Geschichte der deutschen Juden", und darin entdeckte ich die Person des Johannes Reuchlin. Ohne ihn hätte es keine Reformation gegeben. Er lebte von 1455 bis 1521. Zu einer Zeit, als die katholische Kirche, die Inquisition und vor allem die Dominikaner alle Juden vertreiben, ihre Bücher verbrennen wollten - weil sie angeblich antichristlich waren, die Bücher - in einer solchen Zeit also lernte Reuchlin, ein Jurist aus Pforzheim, Hebräisch! Er lernte es so gründlich, dass er alle Schriften lesen konnte, auch das Alte Testament in seiner Ursprache. Er war entsetzt über die Fehler der lateinischen kirchlichen Übersetzung. Über die hebräische Sprache schrieb er: "Die Sprache der Hebräer ist einfach, unverdorben, heilig, kurz und fest, in welcher Gott mit den Menschen und die Menschen mit den Engeln unmittelbar und ohne Dolmetsch von Angesicht zu Angesicht verkehren, nicht durch das Rauschen der kastalischen Quelleoder durch die typhonische Höhle oder durch den dodonischen Wald oder den delphischen Dreifuß, sondern wie ein Freund mit dem andern zu sprechen pflegt."

Ich kann nur sehr wenig hebräisch, doch selbst mir und beim modernen Hebräisch, ist die Direktheit und Einfachheit dieser Sprache aufgefallen. Ja, ich meine, dass jemand, der auch hebräisch lernt, nachher ein etwas anderes Gehirn hat. Man sieht die Dinge anders, man lernt sie so UND so zu sehen. 

Reuchlin wurde zum Haßobjekt der Dominikaner. Er blieb sein Lebtag ein treuer Katholik, aber trotzdem wird er bis heute von katholischer Seite schief angesehen. Das fand ich im Internet heraus. Seit Reuchlin, auf sein Betreiben, gab es an deutschen Universitäten Lehrstühle für Hebräisch. Damit alle Theologen die Bibel in der Urschrift lesen konnten.

Frankfurt, den 12. November

Die Männer scheinen ihre seit längerem aufgespeicherte Wut nun über Frau Ypsilanti auszugießen: da ist endlich eine schöne Frau, die sich für gleichberechtigt gehalten und richtige Politik gemacht hat. Nun, da sie machtlos scheint, wird ihr alles nur denkbare Elend der Welt, aller Schmand ins Gesicht geschmissen. "Ypsilanti zieht die Bundes-SPD runter", les ich gerade - als ob diese nicht selbst alles dafür täte!

Freilich waren der Frau Ypsilanti die Hände durch fehlende stabile Mehrheiten gebunden. Sie wollte eine Minderheiten-Regierung wagen - und damit ist sie gescheitert. Aber Minderheiten-Regierungen halten selten und gewöhnlich nicht lange. Sie ist auch gescheitert, weil ihr die Bundes-SPD die Unterstützung versagte. Diese alten Männer, denen vor allem am Hahnenkampf mit dem abtrünnigen LINKEN gelegen ist und die kaum was anderes im Kopf zu haben scheinen (außer ihren eigenen Positionen).

Ypsilanti und ihre Mannschaft hatte nicht nur ein hervorragendes Programm, es gelang ihnen sogar aus der Minderheitenposition im Hessischen Landtag heraus, schon einige Punkte davon umzusetzen. Obwohl sie noch nicht mal auf der Regierungsbank saßen.

Sie und ihre Mannschaft stehen noch einmal zur Wahl und sie sollten, wenn alle Hahnenkämpfe vorbei wären und alle männliche Erregung mal in einen Ruhezustand gelangte - nur für ein Weilchen!! - und der Verstand wieder die Oberhand bekäme, sollte sie und ihre Mannschaft eine noch größere Mehrheit gewinnen als im letzten Januar. Hessen besteht aus vielen Millionen Menschen und nicht nur aus zwei oder drei Unternehmen des Großkapitals.

 

Frankfurt, den 10. November

Auf der Online-Seite der Neuen Zürcher Zeitung fand ich heute einen spannenden Artikel über "das Würfelspiel der Gene", also darüber, wie die Individualität eines jeden Menschen entsteht. Der Biochemiker Gottfried Schatz, ein emeritierter Professor, schreibt sehr anschaulich über den Unterschied zwischen den X- und Y-Chromosomen. Y-Chromosomen gibt es bekanntlich nur bei Männern, der betagte Professor schließt daraus auf einen fundamentalen Unterschied zwischen Männern und Frauen (deren sonstige Chromosomen sich nicht unterscheiden), der heute zu Unrecht tabuisiert würde. Wie gross sein Zorn darüber angewachsen ist, zeigt sich in einem Satz, der sinngemäß besagt: instinktiv suchten sich Frauen intelligente Männer, und deswegen hätten intelligente Männer so viele Kinder!

Man könnte versucht sein, daraus zu lesen, dass nur Männer wirklich intelligent seien. Dem widerspricht allerdings, was er im übrigen Artikel sagt. Aber intelligente Männer mit vielen Kindern sind mir leider nicht begegnet, jedenfalls nicht viele.

Mir fällt Schopenhauer ein - keine Kinder. Mir fällt Rousseau ein: alle Kinder im Waisenhaus gestorben. Oder misst der Professor die Intelligenz eines Mannes daran, dass er sich eine große Kinderschar erlaubt? Das wohl nicht, denn auch geistig arme Männer können bekanntlich viele Kinder zeugen, tun das auch.

Seltsam, mit dieser Bemerkung, aus der ein Ressentiment atmet, senkt der Professor ein klein wenig den Aussagewert seines Aufsatzes. Oder spricht aus dieser Feststellung wiederum nur mein eigenes Ressentiment?

Ach, wie schwierig ist es doch, den Kindern die Welt zu erklären!

 

Frankfurt, den 8. November

Es geschieht so viel in diesen Tagen: das Staunen darüber, dass hinreichend viele US-Amerikaner den Sprung gewagt und Obama gewählt haben. Auch über die Perfektion, mit der dieser Politiker sich selbst darstellen kann, eine Perfektion, die bei Frau und Kindern ebenso herüberleuchtet. Ich habe mir auf dem Computer seine "Siegesrede" angehört, die erste Rede nach der Bekanntgabe von seinem Wahlsieg; sie war so vollkommen, dass sie in jedes Rhetoriklehrbuch aufgenommen werden kann, und Obama hielt sie vollkommen frei. Er stand allein auf einem riesigen Podium in einem Park - und jeder, jeder denkt doch voller Angst an Heckenschützen. Erst gegen Ende konnte ich die großen Glasscheiben erkennen, die das Podium begrenzten. Leise Erleichterung.

Die Hessen-SPD wollte auch einen Sprung wagen: hin zu einer deutlichen sozialen Politik. Man hat das abgewürgt - wer ist "man"? Sind die Verräter bestochen worden? Das fällt einem natürlich zuerst ein. Oder stand die Berliner Zentrale der Apparatschiks dahinter? Diejenigen, die schon vor der Wahl die hessische Kandidatin gezwungen hatten, sich von der Partei "Die Linken" (in Hessen) unter allen Umständen zu distanzieren? Weil die in Berlin, diese Gockelhähne, sich vor allem an Lafontaine rächen wollen (und dieser an jenen)? Ja, dass die Kandidatin eine Frau war, hübsch, intelligent, gewandt, eine gute Rednerin, und obendrein eine eigene Politik vertrat - das hat vielen Männern Gänsehäute übergeworfen, das habe ich schon lange rausgehört. Ganz normale  Genossen, die aber über diese Frau - Andrea Ypsilanti ist ihr Name - verbal immer stolperten.

Apropos Ypsilanti: das hessische Grünenoberhaupt, Tarek Al Wasir, erzählte neulich in der taz, wie die hessische Hetzpartei, die CDU, ein Wahlplakat mit folgendem Wortlaut ausgehängt hatte: "Ypsilanti - Al Wasir - die Kommunisten: besser CDU wählen!" oder so ähnlich. Al Wazir fühlte sich durch die Instrumentalisierung seines Namens beleidigt. "Meine Mutter ist eine geborene Knirsch", erzählte er, "Ypsilantis Mädchenname ist Dill. Mit den Namen Knirsch, Dill, die Kommunisten wäre das Plakat nie zustandekommen!"

CDU, die Rassistenvertreter. Ob sie im Januar doch gewinnen? Denn am 18. Januar soll in Hessen noch mal gewählt werden.

Oder ob die Hessen jetzt doch den Sprung wagen?

 

Frankfurt, 5. November

Es wäre schön, wenn ich jeden Tag ein Gedicht schreiben würde. Das Gedichtschreiben setzt eine gewisse Stimmung voraus, eine Ruhe, eine Offenheit, eine Besinnung auf das, worauf es in diesem Moment ankommt, und die habe ich nicht oft. Am liebsten schreibe ich Gedichte mit der Hand. An der Maschine, an der Tastatur fehlt es mir an Unmittelbarkeit. Jede Taste - eine Hürde.

Ich will ein Manuskript mit Gedichten zusammenstellen, vielleicht gelingt mir ja doch mal eine Veröffentlichung.

Natürlich muß ich an einem Gedicht, wenn es einmal niedergeschrieben ist, noch arbeiten - aber auch das ist ein Vergnügen, tut wohl, weil es eine Klärung, Vereinfachung, Verdichtung bedeutet, es bringt näher zum Eigentlichen, zu dem, was sich der Sprache verweigern will ...

Dabei fällt mir ein: gestern las ich in der Zeitschrift "Mittelweg 36" etwas über militärisches Denken, das mich aufschreckte, grad weil es mir schon bekannt war, ohne dass ich es hätte sagen können. Etwa, dass das Denken von Kleist durch und durch militärisch war, dass man bei Kleist mehr über Militär erfährt als in einer Miliitär-Schule. Oder wie Wittgenstein und Heidegger das Militärische kommentieren, frei nach Jünger .... Die Artillerie-Methode der "Feuerwalze" bei Heidegger zum "Sein und Nichtsein" stilisiert, und bei Wittgenstein wirds die Sprachgrenze, die Grenze des Aussprechbaren. Oder so ähnlich. Jedenfalls kehrt das Militärische heimlich in den Alltag zurück, das war die These im "Mittelweg". Wirklich, er lohnt die Lektüre!

Frankfurt, 3. November

Am Freitag, den 31. Oktober, erschien in "d'Letzeburger Land", einer Luxemburger Wochenzeitung, folgender Leserbrief:

 

"Ins Blaue zielen statt ins Schwarze

Das Schreiben über die Frankfurter Buchmesse in ihrer Vielfalt von Perspektiven stellt immer wieder eine Herausforderung dar, und der Schreiber muss wählen, muss sich dies und das herauspicken. Claude Reiles (LL 43 vom 24.10.08) hat das elegant bewältigt – nur einen schwergewichtigen Punkt hat er völlig ausgelassen: den Luxemburger Stand. Ich durchsuchte die Zeitung: hatte sich jemand anders mit diesem Thema befasst? Tatsächlich. Rewenig. Und so las ich, zum erstenmal seit Jahren, wieder Rewenig. Es hat sich aber nichts geändert: da werden Leute verspottet, die sich nicht wehren können, und Schlußfolgerungen gezogen, die ins Blaue zielen statt ins Schwarze.
Rewenig war nicht in Frankfurt. Er interessiert sich auch nicht für den Gemeinschaftsstand der Luxemburger Verleger. Er kommentiert nur einen Zeitungs-Artikel über ein Ereignis, das an diesem Stand  stattfand, nämlich eine öffentliche Rundtisch-Diskussion mit dem Thema „Lesen in Luxemburg: Bücher als Mittel zur Integration“. Beteiligt daran waren die Autorin Linda Graf, der Autor Nico Helminger, die CNL-Direktorin Germaine Goetzinger und der Buchhändler J.-P. Ternes. Die Diskussion leitete die tageblatt-Redakteurin Heike Bucher. Sie berichtete anschließend im tageblatt darüber. „Integration“ wurde bei der Diskussion nicht definiert. Die Runde einigte sich letztlich darauf, dass luxemburgische Autoren mehr Leser brauchen, und das nicht nur unter den Migranten (dem sprichwörtlichen Portugiesen). Warum befasste sich niemand sonst mit dem Ereignis, überließ alles der Moderatorin, der es möglicherweise jetzt leid tut, dass sie sich auf diesen Auftritt überhaupt eingelassen hat?
Der luxemburgische Gemeinschaftsstand bemühte sich mit dieser Veranstaltung um Lebendigkeit, um Teilhabe am Zeitgemäßen. Worum es aber eigentlich geht, um die Identität – wer bin ich, mit wem will ich kommunizieren, mit welchen Mitteln erreiche ich das und wer bestimmt darüber mit welchen Argumenten? – also um die Darstellung des Großherzogtums auf dem Weltmarkt der Bücher, um Transparenz, all diese Fragen kamen nicht zur Sprache. Als ich fragte, warum nicht alle luxemburgischen Verleger hier ausstellten, erhielt ich zur Antwort: „Jeder ist eingeladen mitzuarbeiten.“ Daraus darf man folgern, dass es Streit gibt. Wer bemüht sich, den Streit zu schlichten?
In Luxemburg leben und schreiben grossartige Autoren und Journalisten. Sie repräsentieren die verschiedensten Weltsichten. Doch als ich nach dem Zweck der Bemühungen auf dem Buchmessenstand fragte, hörte ich: wir wollen zeigen, dass es Luxemburg auf der Landkarte gibt.
Ich wünschte mir die volle Vielfalt der Perspektiven am Luxemburger Stand UND echte Streitgespräche! Natürlich mit Respekt vor dem Andern im eigenen Lande.

                                                                                Barbara Höhfeld"

Frankfurt, 2. November 2008

Im "Haus am Dom", dem katholischen Kulturzentrum in Frankfurt, fand gestern etwas statt, das als "Dialog zwischen den Kulturen" beschrieben wurde. Unter dem Titel "Der Ursprung allen Daseins ist Bewegung" wurde von 15 bis 21 Uhr über Ibn 'Arabi geredet. So hieß ein islamischer Mystiker, der von 1165 bis 1240 lebte. Geboren in Andalusien, wanderte er nach Nordafrika aus, wanderte weiter nach Osten, pilgerte nach Mekka, lebte eine zeitlang in Anatolien und blieb schließlich in Damaskus, wo er auch starb. Er hat, so wird angenommen, an die achthundert Bücher geschrieben, doch blieben nur etwa 350 davon bis heute erhalten. Seine Weisheit, seine Lehre hatte eine so gewaltige Auswirkung, dass "nach ihm nichts mehr war wie vorher", mit den Worten von Frau Dr. Giese, die sich ausführlich mit ihm befasst hat.

Der grosse Saal war fast voll. Wer kam zu der Veranstaltung? der größere Teil des Publikums waren Muslime: Türken, Pakistani und andere. Ein Teil der Deutschen, die kamen, waren entweder "Esoteriker", die sich vom Wort "Mystik" angezogen fühlten (wie die Wespen von zuckrigen Kaffestückchen). Einige wenige dürften auch Kirchenleute gewesen sein, die sich wirklich für die Dialogfrage interessierten. Zwei der drei Vorträge fanden auf Türkisch statt, mit Konsekutiv-Dolmetscher (sehr guter Mann). Im ersten Vortrag wurde das Leben des Weisen beschrieben, der in nahezu allen Wissensgebieten zuhause war und der als Berater von Mächtigen fungierte, im zweiten Vortrag durften wir der Predigt einer echten Sufimeisterin lauschen. Im dritten Vortrag beschrieb Anna Giese den Begriff des "Zwischenreichs", das Ibn 'Arabi als eine "Schöpfung'' ansieht, die die sinnliche Welt mit der imaginierten Welt verbindet, aber weder die eine noch die andere ist. Mit Hilfe der Kategorie Traum konnte sie annähernd deutlich machen, wovon die Rede war. Das Traumerlebnis ist ein wirkliches, und doch ist es nicht wirklich.

Der schönste Satz, den ich hörte, lautete: "Die Frage des Wassers ist die nach dem Behälter."

Ich selbst war vor allem gekommen, weil ich für meine Feldenkrais-Arbeit neue Ideen über "Bewegung" erhoffte. Darin wurde ich allerdings enttäuscht. Als ich am Abend nachfragte, was all das Gehörte mit "Bewegung" zu tun habe, gestand der Studienleiter: er habe den Titel schon im Mai festlegen müssen, als er noch nicht mal wusste, welche Referenten kämen!

Richtig enttäuscht war ich dennoch nicht: Ibn Arabi kennengelernt zu haben, wenn auch nur wie mit einem Blick durch den Türspalt, erlebte ich als einen Gewinn. Im Orient gilt er bis heute als Autorität, im Abendland war er praktisch unbekannt. Auch erfuhr ich: das deutsche Wort "Toleranz" wird ins Türkische mit einem Wort übersetzt, das soviel wie "liebevolle Zuwendung" bedeutet!

Da muss der Dolmetscher aber balancieren!!

 

 

Frankfurt, 30. Oktober

Über Sprache lässt sich viel sagen. Die Afrikaner gebrauchen z.B. gern das Wort "Eliten". Damit sind meistens die jüngeren Leute aus Afrika gemeint, die auswärts studiert haben und nun zuhause mitregieren oder irgendwo bestimmen und es zu etwas bringen wollen. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob dieses Wort nicht inzwischen aus der Mode gekommen ist. Es wär mir recht, denn wie verträgt sich denn dieser Ausdruck mit der Demokratie?

Elire, auslesen, auswählen, auserwählen, setzt allemal eine Instanz voraus, die noch über der "Elite" steht: das sind meines Wissens entweder die traditionellen Führungsstrukturen oder sonstwie zur Macht Gekommene. Putschisten etc. Gewiss, äußerlich besteht der Nachweis im akademischen Grad - die Bezeichnung "Elite" hat aber fliessende Grenzen. Auf jeden Fall sind demokratische Hürden darin kaum vorgesehen. Oder sie werden mit anderen als demokratischen Mitteln überwunden.

Ein afrikanischer Freund möchte "Korruption" als "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" anerkannt haben, damit die Täter von überall her angeklagt werden können. Sie haben ihr Volk bestohlen, das ist die Idee, die dahinter steht. Dafür müssen sie bestraft werden.

In Afrika hat auch die "Korruption" fliessende Grenzen. Tatsächlich könnte eine allgemein anerkannte Definition eine Hilfe sein, doch wer soll sie anerkennen? Das Volk, das gar nichts anderes kennt als do ut des? Oder die "Eliten", die sich ihrer Anhänger durch Vergünstigungen vergewissern müssen? Vielleicht die UNO, deren General im Kongo schon einen Monat nach seiner Ernennung den Rücktritt erklärt?

Was bedeuten alle diese Termini den Afrikanern? Eine weisse belgische Schriftstellerin kann ungeniert schreiben, dass die Kongolesen "schon in der Kolonialzeit für ihre Antriebslosigkeit bekannt waren" (In "Lettre International" Nr. 82, Oktober 2008). Wer bestimmt, was der psychiatrische Begriff "Antriebslosigkeit" bedeutet und wann er angebracht ist?

Wobei man das Wort möglicherweise auch dem Übersetzer anlasten muss, der vielleicht flämisch kann, aber nichts vom Kongo  und von Psychiatrie und von Rassismus versteht. 

Irgendjemand muss doch verantwortlich sein???

 

 

 

Frankfurt, den 27. Oktober

Wer Fäkaliensprache in den Mund nimmt, kann leicht mit Fäkalien verwechselt werden. Aber 's ist ja in Wirklichkeit eine Klassenfrage: wer nicht weiss, wann und wo Fäkaliensprache erlaubt und erwünscht ist und wo nicht, der gehört nicht dazu. Zur besseren Gesellschaft.

Wenn eine Frau sich öffentlich der Fäkaliensprache bedient, zeigt sie, wo sie wirklich herkommt. So einfach geht das in diesem Milieu. Da mag sie noch so sehr Interesse für Literatur im Fernsehen haben wecken und befriedigen wollen, das gilt nun nicht mehr. Nun wird auf ihr herumgetrampelt, dass Staub und Federn durch die Luft wirbeln - ganz vornehm und ohne Fäkaliensprache. Da zeigt sich erst, wieviel Gemeinheit ohne diese selbige überhaupt möglich ist: grenzenlos.

Es zeigt sich aber, wie mir scheint, auch was anders: dass die besagte Literaturredakteurin in sprachlichen Fragen irgendwie eindimensional geblieben ist. Ich hatte sie mir einmal angeguckt und dann wegen gefühlter Flachheit nie wieder. Nun erklärt sie öffentlich - so hab ich gelesen - einen Mann aus der Unterhaltungsbranche für "dumm". Ja, weiss sie überhaupt, was "dumm" bedeutet? Wie kann einer "dumm" sein, der regelmäßig Millionen bewegt? (Egal ob Menschen oder Geld!) Vielleicht sind die Leute dumm, die sich bewegen lassen, oder auch nur bequem - wer will sie beschimpfen?

Wenn jemand eine Sekretärin, deren Aufmerksamkeit er/sie braucht, als "zickig" bezeichnet, wird er/sie die Sympathie der Sekretärin verscherzen und das bald schmerzhaft zu spüren bekommen. Wer was erreichen will, braucht Wohlwollen rundum. Unsere Literaturredakteurin hat wohl ihr gesammeltes Kapital an Wohlwollen zur Zeit verspielt.

Schillers Satz aus "Wallenstein" fällt mir ein: "Der Starke ist am mächtigsten allein." Solche "Stärke" - die diktatorische Alleinherrschaft - begegnet uns heute im Alltag nicht mehr, gottseidank. Man darf sogar darüber lachen. Das ist viel wirksamer als Fäkaliensprache, auch wenn es einem nicht die Alleinherrschaft schenkt.

(Aus dem Nähkästchen der Höheren Tochter geplaudert.)

 

Frankfurt, 26. Oktober

Was die Stadt Frankfurt doch immer für Feste feiert! Heute durchzieht eine Marathonpiste die ganze Innenstadt; es fahren dort keine Strassenbahnen, aber das macht einem nichts aus, weil es mit U- und S-Bahn viele Ausweichmöglichkeiten gibt. Ich war eben in der Nähe der Mainzer Strasse, da hatte jemand einen schweren Kran mit Hebebühne gemietet, vermutlich um zu filmen? Ich bin nicht hingegangen, hörte die Lautsprecher , die Ergebnisse durchsagten und auch: "Alles unter vier Stunden ist gut." Ich glaube, es kann da jeder mitmachen. Na ja, ich geh lieber zu Kieser. Seit fast vier Wochen zum erstenmal wieder, aber es funktionierte noch alles. Das heisst, ich brauchte nirgendwo Gewicht wegzunehmen.

Wegen des Friedenspreises habe ich noch mit verschiedenen Leuten gesprochen. Ich habe nichts gegen Kunst, und auch nichts gegen den Künstler Anselm Kiefer. Ich hatte etwas gegen die Begründung des Börsenvereins, die eine hanebüchene Geschichtsauffassung und mangelnde Deutschkenntnis verriet. Woraus man leicht schlussfolgern kann, dass am Inhalt etwas faul ist. Aber was? Inzwischen weiss ich, dass Kiefer als "irgendwie rechts" gilt und dass deswegen die Prominenz (vorsichtshalber?) wegblieb. Der Börsenverein ebenso wie der Laudator Spies wollten beweisen, dass Kiefer nicht "rechts" ist, doch gelang ihnen das deswegen nicht, weil sie im Floskelhaften, im Vagen blieben, weil sie glaubten, sie müssten nicht links, nicht rechts sagen, weil speziell Herr Spies zu glauben schien, dass die wolkige Sprechweise der Kunstkritiker etwas mit Wahrheit zu tun hätte. 

Überhaupt verrät die Sprache sich doch immer selbst. Ich kenne jemanden, der das möglicherweise übertriebene Bedürfnis hat, sich zu reinigen, und der deshalb abwechselnd hungert, Einläufe macht und meditiert. Nun hat er Ausschlag gekriegt. Sein "Naturopath", ein Mann, der ihn behandelt und berät, tröstet ihn: das sei ein Symptom des Reinigungsprozesses. Noch glaubt er ihm. Doch wenn er sich an die Sprache hielte, müsste er misstrauisch werden: was kann das Wort "Naturopath" denn bedeuten? Dass die Natur krank macht oder krank ist? Ein "Psychopath" ist ein psychisch Kranker; ein Osteopath ist jemand, der kranke Knochen heilt (heilen will); ein Pathologe ist jemand, der Leichen aufschneidet. Aber ein "Naturopath"? Der Natur erst ein männliches Geschlecht verpassen und sie dann für krank oder zur Leiche erklären??

Na gut, ich weiss. Die Leute können kein Latein und denken sich irgendwas aus. In diesem Fall will der Mann wohl sagen: ich heile alle Krankheiten auf natürlichem Wege. Aber muss ein Gesunder ihm das noch glauben, wenn er darüber krank wird?

 

Frankfurt, den 20. Oktober

Uff, mein Messe-Artikel ist abgeschickt.  Überm Schreiben bekam ich gestern Halsschmerzen und Schnupfen. Ich war für "kulturissimo" auf der Buchmesse, hab mich besonders für das "Gastland Türkei" und für den luxemburgischen Stand interessiert und blieb die ganze Woche über gesund.

Schreiben bedeutet Stellung nehmen, und daraus entsteht die Anstrengung, der Stress. Stellung nehmen zu Kiefer und dem Friedenspreis. Bei der Pressekonferenz am Freitag hat der Vorsteher des Börsenvereins ausdrücklich betont, der Friedenspreis sei KEIN politischer Preis. Überhaupt gebe es so viele Meinungen über den Begriff "Frieden"! Ich war wie erschlagen. Der Friedenspreis nicht politisch? Aber was denn sonst? O Wunder, am Sonntag in der Paulskirche hatte Herr Honnefelder seine Meinung gewechselt, er gebrauchte mehrmals das Wort "politisch", und der Frieden war in seiner Rede auch wieder richtiger Frieden. Er kam mir vor wie ein Fuhrmann, der sein Gespann über ein Minenfeld lenken muss, mit ständigen "Hü" oder "Hott", dass er und seine Pferde es nur heil überstehen.

Und ein Minenfeld muss es bei diesem Preis wohl gegeben haben, sonst wären doch nicht alle Regierungsmitglieder (ausser dem Bundesverkehrsminister) und sonstige, auch jüdische Prominenz der Verleihung ferngeblieben?

Aber ich schreibe für Luxemburger, die interessieren sich nicht für die historischen Bauchschmerzen der Deutschen. Ich selbst habe nur einmal Kiefers "Bücher" gesehen, ich finde, sie wären ein gediegenes Grabdenkmal für das Buch. Wenn denn ein solches nötig wäre, was ich nicht meine. Ich möchte einen Preisträger sehen und hören, der die Sprache pflegt, erneuert, stärkt - die Sprache ist unersetzlich, wenn wir den Frieden erhalten wollen! Und sie wird soo misshandelt! Verhunzt, verachtet. Kiefer selbst überraschte seine Zuhörer in dem vollen Saal mit der Feststellung: "Dieser Saal ist ein leerer Raum." Er meinte damit, dass er nicht mehr als Kirche gebraucht wird. Offenbar wußte er nicht, dass hier im 19. Jahrhundert schon die erste Nationalversammlung tagte, dass die "Paulskirche'" schon 150 Jahr als eine sekulare Feierstätte benutzt wird. Oder es war ihm egal, weil er sich mehr für seine eigenen Bilder, seine Mythen interessierte. Seine Kindersehnsucht am Rheinufer: drüben Frankreich, das gelobte Land. Er ist 1945 geboren, hat also die "Trümmerlandschaften" nach dem Krieg nicht mehr miterlebt. Jetzt verlangt er, man hätte die Trümmer bewahren müssen, als Museum sozusagen. Alle Trümmer! er scheint sich nach Ruinen zu sehnen, ob "Ruine" oder "Trümmer" war ihm auf der Pressekonferenz dasselbe. Nun wohnt er in Paris.

Melancholische Grundstimmung, gegenständlich in Bildern und Skulpturen dargestellt. Und was hat das mit der Erhaltung des Friedens zu tun, ausser , dass  er sehr viel Geld damit verdient? Stopp, darf ich diese Frage stehen lassen? Ich probiere es mal, schließlich hat auch der Börsenverein ihn als allererstes einen "weltweit anerkannten Künstler" genannt, als sei das am wichtigsten für den Friedenspreis. 

Es ist alles so schwierig, man wird krank darüber.

Frankfurt, 9. Oktober

Ein sonniger Freitag, und alles freut sich aufs Wochenende.

Vor mir auf dem Tisch liegt ein Gingko-Blatt und das Foto von einem Baby: dieses zeigt meine am 17. September geborene Grossnichte Sophia.

Das Gingko-Blatt gleicht einem Miniaturfächer - und keinem andern Blatt-, der obere Rand hat einen unregelmäßig aber freundlich gezahnten Rand. Es kommt mir vor, als gehöre das Gingko-Blatt zu dem Bild, ich erhielt beide am selben Tag.

Das Kind auf dem Foto hat seine Augen geschlossen und ballt die rechte Hand zu einer  kleinen Faust vor dem Gesicht. Sein Gesichtchen hat die mattglänzende makellose Haut eines Kaiserschnitt-Kindes. Die schmalen Lippen liegen wie selbstbewußt aufeinander; darunter ein tiefes Grübchen, aus dem sich ein entschiedenes Kinn entwickelt. Sophia schläft noch, doch wird sie bald aufwachen und sie wird, so scheint mir, ihren Anteil am Leben einzufordern sich nicht scheuen.

Schlafe gut, mein Kind, und bleibe gesund!

Frankfurt, 6.Oktober

Vom 2. bis 12. Oktober finden in Frankfurt "Interkulturelle Theatertage'" mit Türken aus der Türkei statt, Buchmesse oblige. Gestern wurde ein Vortrag mit Übersetzung zum Thema "Anatolien und die Tragödie" gehalten, ich ging hin. Es war im Schauspielhaus.

Der Referent, ein älterer, aber sehr lebendig wirkender Herr, wurde als der wichtigste Theatermann aus der Türkei vorgestellt: Güngör Dilmen. Er sprach Türkisch (was ich nicht verstehe). Als seine neben ihm sitzende Übersetzerin nach einer beträchtlichen Zeit - ich schätze mal, zehn-fünfzehn Minuten - endlich zum Mikrofon griff, sprach auch sie Türkisch, sie las handschriftliche Zettel vor. Ich wagte einen Zwischenruf: "Und wann kommt Deutsch?" Die Dolmetscherin deutete in grosser Verlegenheit an: etwas später.

Und tatsächlich: der Referent, der eine ganze Weile noch weiterredete, machte endlich eine Pause. Diskret fragte die Dolmetscherin - eine feine, freundliche Dame mit einem Doktortitel - ob nun sie mit dem Deutschen an der Reihe sei, er nickte kurz. Bei der nächsten Pause des Dramatikers wusste niemand, ob sie zum Übersetzen gedacht war oder zum Text gehörte. Vorsichtig erkundigte sich die Dolmetscherin. Bei den übernächsten Pausen setzte sie intuitiv gleich ein.

Ich habe mitgeschrieben, das hält die Konzentration wach. Zu viel mehr nützte mir das Mitschreiben nicht. Rückblickend konnte ich den eigentlichen Sinn der Rede nicht erkennen. Freilich, in der ersten Hälfte sagte Prof. Dilmen annähernd, dass die Tragödie als literarische Form um 600 vor Christus in Anatolien erfunden worden sei, dass sie sich möglicherweise doch auf ägyptische Vorbilder stütze, dass jedenfalls die anatolischen Tragödien wie Medea, Kassandra, Troja usw. die abendländische Literatur bis heute befruchteten. Überhaupt sei Literatur geografisch bestimmt (davon wollte er, auf die Jetztzeit bezogen, später nichts mehr wissen). Ganz am Anfang seiner Rede hatte er einen jüngeren Autor genannt, der den Standpunkt vertrete: Von anatolischer Literatur dürfe man doch nicht reden, wenn es zweitausend Jahre lang in Anatolien keinen Autor mehr gegeben habe. Darauf ging Dilmen nicht weiter ein. Er behauptete (in der deutschen Übersetzung), dass im Griechischen zwar "Tragödie" ein Substantiv sei, im Türkischen jedoch als Verb gebraucht würde. Ich fragte, wie das gehe; begeistert von meiner Frage begab sich der Professor an die Tafel und erläuterte erst die griechische Bedeutung von "Tragödie" ("Ziegenlied", übersetzte die Dolmetscherin; heute morgen fiel mir ein, dass man auf Deutsch "Bocksgesang" sagt), und kam dann zu einem türkischen Adjektiv in der Form von "tragödienhaft". Ich vermute jetzt, dass es im türkischen Präsenz, ähnlich wie im Arabischen oder Hebräischen, manchmal keinen Unterschied zwischen Verb und Adjektiv gibt.

Herr Dilmen hat ein Drama geschrieben, das "Opfer" heisst und den Medea-Komplex behandelt. Es wurde schon vorvorgestern in einer Istanbuler Inszenierung hier aufgeführt. In dem Heft zu dieser Aufführung steht vieles auf Deutsch, aber doch wieder so, dass ich es  in keinen Zusammenhang bringen kann. So wird die "Lichtdesignerin" zitiert mit: "Was in diesem Schauspiel zur Schau stellt, ist auch eine Realität, die außer dieser Szene gespielt wird.  Wirklich gespielt, niemand sieht oder hört es aber. Vor den Zuschauer, die es gucken aber nicht sehen, erleben eigentlich die Schauspieler in diesem Schauspiel."

Tja, da hätte das türkische Kulturministerium gut daran getan zu bedenken, dass die Hälfte aller Auslandstürken in Deutschland wohnt (steht im "Spiegel") und dass viele, viele dieser Mitbürger ausgezeichnet deutsch und türkisch können. Gar nicht zu reden von den vielen guten Übersetzern hierzulande. Aber es leuchtet mir jetzt eher ein, warum Feridun Zaimoglu erklärt, er sei dankbar für das Geschenk der deutschen Sprache (auch im "Spiegel"-Sonderheft über die Türkei).


 

Frankfurt, 4. Oktober

Der Sturm hat nachgelassen, dafür regnet es recht häufig.

Auf dem vermüllten Bahnhofsvorplatz stand ein doppeltmannsgroßes Werbeschild in schwärzlichen Farben, vorgestern Nacht dachte ich, es gehörte zur vergangenen Demo. Bei Tage untersucht, erwies es sich als Reklame für ein "Humor-Museum" in Frankfurt, von dem ich bis dahin noch nichts gehört hatte. Es stellte einen Mann in schwärzlichem Ledermantel mit Krawatte dar, der Elchschaufeln auf dem Kopf trug. Natürlich fand sich daraufhin in meinem Kopf Stück für Stück der oft gelesene Satz "die größten Kritiker der Elche sind am Ende selber welche" wieder, das war so ein Witz der Frankfurter '68er. Das sollte wohl heissen, dass man das am schärfsten kritisiert, was man aus eigener Erfahrung am besten kennt. Bloss, dass mit dieser meiner Definition der letzte Rest von Witz verschwunden ist. Der beruhte vermutlich darauf, dass die Herren Revoluzzer über eigene Erfahrungen nicht gern sprachen, sie lieber verheimlichten, und der "Witz" besagte, dass man ihnen dennoch auf die Schliche gekommen war, unter der Hand. Auch das Wort "welche" deutet auf Provokation, da es bei Deutschlehrern verpönt war, wie ich mich gut erinnere. So dass "Elche" nur wegen des Reimes auf "welche" bedeutsam ist - jeder hat den Spruch behalten!

Bei diesen Gedanken weht mich auch wieder ein Hauch jener Melancholie an, den ich spüre, wenn ich über Witze nicht lachen kann. Diese Witze, die sich an der Schwäche des Mitmenschen laben - keineswegs aber über die eigene lachen. Wo das Lachen immer gegen jemanden gerichtet ist, diesen als den Schwächeren definiert und verhöhnt. Der "deutsche" Humor eben. Heutzutage höre ich auch manchmal, wie das als "Zynismus" definiert wird, mit Stolz in der Stimme.

Vor drei Tagen besuchte ich eine Filmvorführung in der Evangelischen Stadtakademie in Frankfurt. Gezeigt werden sollten zwei Filme, ein türkischer und ein deutscher, die beide von deutschen Türken handelten. Der türkische Film "kam nicht", konnte also nicht gezeigt werden. Dafür war die deutsche Regisseurin des anderen Films da, Barbara Trottnow. Er hieß "Emine aus Incesu. Bilder einer Migration", ein Dokumtarfilm von 2007. Ein schöner, ein liebevoller Film, in dem die Hauptperson Emine ihre eigenen Geschichte erzählen durfte und das sehr wirkungsvoll tat. Zusätzlich sah und hörte man noch ihren Bruder, ihre erwachsenen Kinder. Es wurde gezeigt, wie die Frau, die seit 1966 in der Bundessrepublik lebt, ihr Heimatdorf in Anatolien besuchte, wie sie mit den Daheimgebliebenen nach so vielen Jahren noch zurechtkommt. Sie wurde aber auch in Deutschland gefilmt, auf der Straße, im Supermarkt, bei der Bank, in ihrer eigenen Wohnung. Und nirgendwo, an keiner Stelle kam dort ein Deutscher vor. Kein Einziger. Der Supermarkt war menschenleer, als Emine ihren Caddy vor sich herschob. In der Schalterhalle der Bank trat nur eine Bankangestellte auf, und die war Türkin. Auf den Straßen: niemand.

Mir wurde das Herz immer schwerer beim Zugucken: Emine und ihre hier geborenen Kinder mitsamt den Enkelkindern wurden ausschliesslich als "Türken" beschrieben. Auch wenn Emine nie schreiben und lesen gelernt hat - sie spreche ein ausgezeichnetes Türkisch, habe ein Kenner der Regisseurin versichert - so sprachen die Töchter, der Sohn doch gutes Deutsch. Die Mutter hatte darauf geachtet, dass ihr Kinder eine gute Ausbildung bekamen. Anfangs, als sie als Hilfsarbeiterin hier ankam, als sie heiratete und Kinder kriegte, musste sie die kleinen Kinder wochentags zu "Pflegeeltern" geben, irgendwelche Deutsche, man weiss nicht, unter welcher Regelung. Bis zum Kindergarten blieben die Kinder dort, aber wir sahen nur Fotos von den Kindern, nicht von den Pflegeeltern.

Ich beanstandete in der nachfolgenden Diskussion, dass die deutsche Seite, das, was den Einwanderern hier begegnet war, das Verhalten, auf das sie sich nolens volens einstellen mussten, um zu überleben, dass die andere Seite einfach ausgeblendet worden war, als existiere sie nicht. Die Regisseurin verstand mich nicht, wie sie bestätigte. Sie habe einen Film über Emine gemacht, nicht über Deutsche. Und Emine selbst habe beteuert, dass sie niemals Negatives in Deutschland erlebt habe!

Ein Psychotherapeut, dem ich die Geschichte erzählte, sagte: bei einer Phobie sei es typisch, dass man den Gegenstand der Phobie völlig ausblende.

Von "den Deutschen" war nur die Rede, als über Emines Vater berichtet wurde, der sie mit 18 nach Deutschland geschickt hatte. Der Vater hatte ihr gesagt: Deutsche seien anständige Leute, die würden für die Arbeit einen gerechten Lohn zahlen, auf die könne man sich verlassen.

Woher der Vater sein Deutschlandbild hatte, wurde auch nicht gefragt. Stolz wurde angekündigt, dass der Film auf türkisch demnächst auf dem Dokukanal des ZDF laufen werde.

Ich war so aufgewühlt, dass mir die kühle Frage: was man den Türken mit diesem Film denn mitteilen wolle? nicht mehr in den Sinn kam.

Frankfurt, den 3. Oktober 2008

Nationalfeiertag. Gestern abend trat ich am Südbahnhof auf einen vermüllten Vorplatz. Es hatte dort eine Demo stattgefunden, ich weiss nicht, mit welchem Ziel. Auf dem Boden lagen keine Aufrufe oder Plakate, aus denen ich das hätte ersehen können, sondern nur Fress- und Trinkreste. Ich hatte nicht den Schwung, einen der restlichen Ordnungskräfte nach dem Zweck der Demo zu fragen. Jedenfalls fuhren deswegen die Strassenbahnen nicht. Der dadurch notwendig gewordene Fussweg tat mir wohl, Gehen ist doch das allerbeste Ausgleichsmittel.

Ausgleich brauche ich dieser Tage ständig, auch gestern abend, da ich von einer Veranstaltung kam, die als Lesung mit einer italienischen Autorin und musikalischer Begleitung angekündigt worden war. Tatsächlich war es ein Konzert mit ein paar eingestreuten Gedichten oder poetischen Texten, von denen mir lange nicht klar wurde, wer sie geschrieben hat. Die Autorin sass anfangs auf dem Podium, sagte auch ein paar Begrüßungsfloskeln auf Italienisch, verschwand dann aber, weil ihre empfindlichen Augen das Scheinwerferlicht nicht vertrugen.

Die Sängerin hingegen war eine erprobte Operndiva mit Flamenco-Touch, und wie gut sie wirklich singen konnte, das hat sie erst bei der Zugabe wirklich gezeigt, als sie nämlich das Mikrophon beiseite liess. Ihr Gesang war vom Mikrophon oft in ein Schreien verwandelt worden. Ich fragte den Pianisten nachher, warum sie nicht überhaupt ohne Mikrofon gesungen habe? Die Veranstalter hätten das so gewollt, hörte ich. Ich tröstete mich damit, dass wenigstens der Klavierspieler uneingeschränkt zu genießen gewesen war,  mit seiner großen, von Palestrina bis zum Jazz reichenden Kunst, wo Leidenschaftlichkeit sich mit äußerster Präzision paarten. Er und die Sängerin hatten neapolitanische Volksmusik vorgetragen, aber eben in höchst künstlerischer Ausführung.

Die Veranstalter. Das war unsere Freundin vom "Literaturclub der Frauen aus aller WElt", sie ist Italienierin und organisiert gern was Italienisches. Aber offenbar hatte sie das Musik-Duo vorher auch nicht gekannt, also lieber nicht viel darüber gesprochen. Allerdings sprach sie genauso wenig über die Autorin, um die es ihr eigentlich ging, Marcella Continanza, die zwar Italienerin ist, aber in Frankfurt lebt und - wie ich in dem angeblich gestern vorgestellten Buch später las - sogar die taz abonniert. Also wohl ganz gut Deutsch können muss.

Frau Continanza hat sich mit einer Dichterin des 16. Jahrhunderts beschäftigt, einer jungen Frau aus der Heimat ihrer  Kindertage, der Lucania. Diese Isabella Morra hatte sich in einen Mann verliebt, den ihre Brüder als Feind der Familie ansahen, und die ihre Schwester deshalb ermordeten. Wie der Verleger andeutete (wir trafen ihn in der Strassenbahn und konnten ihn fragen), haben Feministinnnen diese Renaissance-Dichterin wieder ausgegraben. Frau Continanza inszeniert in ihrem Buch eine traumähnliche Parallele zwischen sich selbst und der unglücklichen Renaissance-Poetin. Nach meinem ersten Eindruck  bleibt sie dabei sehr im Subjektiv-Verschwommenen stecken. Oder anders ausgedrückt: es ist viel von Empfindungen die Rede, doch spürt sie der Leser nicht. "Marcella si difende dalla malincolia leggendo una lettera di Fabrizio" lese ich. Oder anders ausgedrückt: genau wie die Isabella vor 500 Jahren die Briefe ihres Diego las. Sie schützt sich vor der Melancholie, indem sie einen Brief ihres fernen Geliebten liest. Na, wenn das hilft, ist die Geschichte wohl zuende.

Zu kopfig, könnte man auch sagen. Das Buch "Io e Isabella" erschien 2007 in Frankfurt im Zambon-Verlag.