Tagebuch Winter 2015/16

Frankfurt, 30. März

Der Begriff "Leibgedächtnis" und seine Verwendung reicht noch viel weiter, bis weit ins Medizinische hinein. Ins Psychische, ins Psychopathologische sogar. Die Sammlung Prinzhorn in Heidelberg erzählt viele Geschichten darüber. (Warum habe ich in Heidelberg gar nicht daran gedacht, sie mir anzugucken? Na, wahrscheinlich, weil keine Zeit dafür blieb. Muss ich nachholen.) Am Spannendsten empfinde ich den Begriff "Zwischenleiblichkeit". Ist als Wort ein Monstrum, klingt nicht gut, besteht fast nur aus Vor- und Nachsilben, und beschreiben lässt es sich kaum. Michelangelos Deckengemälde in der sixtinischen Kapelle zeigt das noch am anschaulichsten, wenn er Gott bei der Schöpfung Adams diesen nicht berühren lässt, sondern einen Lichtbogen zwischen Gottes und Adams Finger setzt. Das ist die eigentliche Schöpfung, das Lebendig-machen, das Einmalige-werden-lassen.

Ich hörte von "synaptischem Lernen", also eine Anregung jener unzähligen Kleinteile im Gehirn, die wir Synapsen nennen. Die Amerikaner haben bei ihren Forschungen den Merksatz entwickelt: "Neurons that fire together wire together", was so viel bedeutet wie, dass Aktivität die Synapsen wachsen und zunehmen lässt, und zwar je mehr, desto umfangreicher. Die sind dann auch gleich mit einander verbunden. Oder: wenn nebeneinander liegende Neuronen beide angeregt werden, stellen sie zuueinander eine besondere Verbindung her, gute Nachbarschaft gewissermaßen. Ist ja schon immer meine Behauptung, dass die Beziehung zwischen Nachbarn eine ganz besondere sei, mit keiner andern Beziehung zu vergleichen. Höhepunkte des Gehirnwachstums finden in früher Kindheit statt (darum bleiben bei der Geburt noch die Fontanellen offen, damit das Gehirn wachsen kann); es entstehen unerhörte Potentiale; doch wenn sie nicht angeregt werden, verkümmern sie. Der Säugling entwickelt vernetzte Strukturen bei visuellen, emotionalen, berührenden Erfahrungen (u.a.), er lernt, alle Wahrnehmungen miteinander zu verknüpfen. Raumwahrnehmungen GIBT ES NICHT ohne Bewegung! Als Feldenkraislehrer weiß man das wohl schon, doch es noch einmal in diesem akademischen Zusammenhang zu hören, tut gut. Stillesitzen taugt nicht!!! Stillstehen auch nicht. Wie oft bedaure ich die kleinen Erstgeborenen, die auf einem Fußbrett am Kinderwagen des Zweitgeborenen stehen, damit die eilige Mutte rascher vorwärts kommt! In einem Alter, wo das Kind nichts Notwendigeres zu tun hätte als zu laufen, wird es stillgestellt.

Noch so ein schöner Satz aus meinem Notizbuch: "Das Gehirn ist ein durch verkörpterte Erfahrung geformtes und ständig umgeformtes Organ."

Und seit "Darm mit Charme" weiß man ja, dass die Hälfte aller Neuronen im Darm sitzen.....

 

 

 

 

 

 

 

Frankfurt, 28. März, Ostermontag

Die Sommerzeit wurde schon eingerichtet, Ostern ist fast vorbei - ich sollte auch zum Sommertagebuch übergehen.

Doch habe ich noch so viel nachzuholen. Seit Wochen habe ich gekränkelt; mein 8-wöchiger Feldenkraiskurs hob die Stimmung und gab mir Kraft; doch fehlte die Zeit und die Muße zum Schreiben. Draußen ist es immer noch kalt. Überall ein unentschiedenes Hin und Her.

Vom 11. bis 13. März erlebte ich in Heidelberg ein Seminar namens "Leibgedächtnis" mit, das mein Feldenkraiskollege Roger Russel zusammen mit dem berühmten Professor Thomas Fuchs organisiert hatte. Roger hat oft neue Ideen, auf jeden Fall eine solide Neugier, und die Frage zwischen Körper und Bewusstsein, oder wie die Alten sagten: zwischen Körper und Seele, ist in der Feldenkrais-Methode ganz speziell angesprochen. Mosche selbst hat sie nicht beantwortet, spürte wohl auch das Bedürfnis nicht, da er als Nachkomme mehrerer Rabbiner-Generationen ein sicheres Gefühl für den Zusammenhang mitbekommen hatte.

Thomas Fuchs schrieb über das Thema "Leib und Lebenswelt" ein ganzes Buch (2008), das leider vergriffen ist. Nach meiner Heimkehr suchte ich es im Internet - es wurde ein einziges Exemplar angeboten, irgendwo in Ostdeutschland; aber es gelang, eine Woche später traf das Buch bei mir ein. Das Thema erklärt sich nicht so einfach. Thomas Fuchs führt mit wenigen Sätzen ein und stellt dann seine Thease auf: "Der menschliche Leib stellt einerseits das natürliche oder "Ursubjet" dar, andererseits ist er immer schon auf Intersubjektivität hin angelegt, so dass der Mensch qua Leib ein natürliches und zugleich soziales Subjet ist." Ein natürliches und ZUGLEICH soziales Subjekt! Woran merkt man das?

Oder besser: wie weist man es nach, denn MERKEN kann man das sehr gut, wenn man will. So ging ich vor ein paar Wochen in der Stadt an einer Gruppe sehr junger, arabisch aussehender Männer vorbei, ich war sonst weit und breit allein, und ich steckte bewusst alle meine Antennen heraus, um die Stimmung der jungen Leute zu erfassen. Und siehe, ich bemerkte Wärme und gar keine Spur von Aggressivität! Ich schämte mich vor mir selber, dass ich eine solche wie selbstverständlich unterstellt hatte. Aber bin ich in Dortmund nicht so aufgewachsen?

Nun fragt vielleicht jemand: wie machst du das, "Antennen rausstrecken"? Man sieht das nicht von außen, denke ich mir; es ist eine starke innere Konzentration auf die Vibrations, die mir aus der Gruppe entgegenstrahlen. Hätte jeder solche Antennen? Ich weiß nicht, mehr oder weniger schon, denke ich. Die Orientalen vielleicht mehr. Dafür ist ihnen das Bild ihrerer Individualität oft weniger deutlich.

Ein Professor Plessner hat die Unterscheidung zwischen "Leib" und "Körper" so definiert: "Körper hat man, Leib ist man." Die beiden Worte bezeichnen also nicht genau dasselbe. Prof. Fuchs geht auf die "Erscheinungsformen der Leiblichkeit" ein. "Im geschickten Agieren, im gewohnten Umgang mit Werkzeugen, in der Orientierung im Raum, sei es beim Blicken, Hören, Tasten, Gehen, Radfahren, Sprechen oder Schreiben - immer ist der Leib das sebstverständliche Medium unserer Existenz." Philosophen und Dichter haben sich damit befasst, ohne es doch vollstänig in Worten zu erfassen. "Mein Leib ist also nicht der Körper, den ich besehe, berühre oder ampfinde, sondern er ist vielmehr mein Vermögen zu sehen, zu berühren und zu empfinden."  Oder denken wir an die Zwischenleiblichkeit zwischen Säugling und Mutter: sie regiert etwas bis zum 9. Lebensmonat; ab dann wird der Säugling fähig, sich "zusammen mit einer Bezugsperson auf dieselben Objekte zu richten", d.h. "die Perspektive des andern als solche zu erfassen". Aus der Zwischenleiblichkeit entsteht eine Dreiergruppe.

Wer ist Thomas Fuchs? Geboren 1958, studierte er Medizin, Philosophie und Geschichte, er promovierte in Medizingeschichte und Philosophie; 1998 habilitierte er sich in Psychiatrie und lehrt seit 2004 in Heidelberg in den Hauptarbeitsgebieten "phänomenologische Anthropologie, Psychopathologie und Psychotherapie, Theorie der Neurowissenschaften, medizinische Ethik". Er ist dabei ein begabter Redner, frei von Pathos oder sowas.

 

Frankfurt, 19. März

Nächsten Dienstag geht mein Feldenkraiskurs zuende. Acht Wochen lang habe ich Lektionen ausgesucht oder mir ausgedacht, die zu der Gruppe passen, in denen jeder und jede Einzelne sein/ihr ganz eigenes  Wissen entwickeln kann. Das Bewusstsein schärfen. "Wenn ich weiß, was ich tue, dann kann ich tun, was ich will", pflegte Moshe Feldenkrais zu sagen, der sich nicht festlegte, sondern den Moment erfasste. Den Moment der Begegnung, die Chance eines Erkennens.

Ich lerne selbst dabei auch immer weiter. Das scheint eine Eigenschaft zu sein, die nicht jedem zufällt; meine Mutter wunderte sich mal darüber. Sie war Lehrerin, und offenbar schien ihr das Lernen auf die Schule beschränkt, mit Noten bewertet, und davon will man irgendwann nichts mehr hören. Ich wunderte mich nur über ihre Verwunderung; geredet haben wir nicht darüber.

Zur Feldenkraismethode nehmen hauptsächlich Leute Zuflucht, die Schmerzen haben und denen die Schulmedizin nur bedingt helfen kann. Ob sie dann dabei bleiben, hängt von ihrer Neugier ab: wollen sie sich auf diese Weise - "Bewusstheit durch Bewegung" - selber kennenlernen? Was verändert sich an mir, in mir, wenn ich diese oder jene, meist ungewohnte Bewegung bewusst ausführe? Wollen sie sich überhaupt auf Ungewohntes einlassen? Machen Veränderungen ihnen Angst? Wer will schon freiwillig was verändern? Was ist das überhaupt, das sich verändert?

Wenn es Antworten auf solche Fragen gibt, dann stellen sie sich nur allmählich ein, manchmal unerwartet. Der Weg dahin ist das Bewusstsein, das gepflegt werden will. Ein Modewort heißt derzeit "Achtsamkeit"; mir erzählte eine Freundin empört von einem Kurs über Achtsamkeit, den eine große Firma "nur für Führungskräfte" anbiete! Als ob die gewöhnlichen Leute das nicht brauchten! Gilt "Achtsamkeit" in manchen Kreisen als Herrschaftswissen? Nun, hier ist ein Volkshochschulkurs, bei dem man sie lernen kann.

Ich habe eine türkische Freundin, die mir sehr lieb ist. Sie leidet so unter Schmerzen, dass sich ihr Alltag dadurch erheblich einschränkt. Ich würde ihr gern von meiner Methode erzählen; und dafür müsste ich ihr deutlich machen, was "Bewusstheit" bedeutet, und wie jeder irgendwas ändern kann, über das Bewusstsein, und wie das wiederum etwas in ihm oder ihr verändert. Aber sie will nichts davon wissen. Sie weiß: schon ihr Vater hatte solche Schmerzen, und sie hat sie von ihm geerbt.

Wenn ich das Beiwort "türkisch" gebrauche, so deshalb, weil sich mir in anderen Zusammenhängen die Vermutung aufgedrängt hat, dass eine türkische Erziehung zu einem Körperbild, zu einem Bild über den eigenen Körper führt, führen kann, das Veränderungen ausschließt und sich auch kaum auf "Anatomie" stützt. Und man redet nicht darüber.

Wie könnte ich sie bloß danach fragen? Darüber will ich nachdenken.

 

Frankfurt, 17. März

Jedes Jahr im März pflegte meine Patentante zu sagen: "Im März gibt es sieben schöne Sommertage." Viele Jahr stimmte das; nur in letzter Zeit wartete man manches Jahr vergeblich. Heute haben wir den ersten dieser Sommertage im März; und er fühlt sich so zauberhaft an, dass ich es erwähnen muss, obwohl ich weiß, dass ich es schon früher erwähnt hatte. Es gibt Dinge, die sind jedes Jahr dasselbe und doch immer wieder neu. Frühling eben.

In diesem unerwarteten Sonnenglast sprach mich eine junge schöne Blondine am Bahnhofsvorplatz in Sachsenhausen an. Sie wollte mich "verkehrsbefragen", nein, sie sagte natürlich, sie wolle bei mir eine Verkehrsbefragung durchführen, ob ich mir ein wenig Zeit nehmen könne. Ich gewährte ihr die Bitte. Sie wollte so ziemlich alles wissen, was ich möglicherweise von morgens bis abends treibe. Das Gemeinsame an den Fragen war immer, welches Verkehrsmittel ich für den Zweck nutze, ob Bus, Bahn oder Auto. "Zu Fuß" akzeptierte sie beim vierten Mal auch. Ach ja, nach dem Auto fragte sie auch nicht direkt, sondern ob ich einen Führerschein besäße? Ob ich als Fahrer oder Mitfahrer am Verkehr teilnähme? Den einsamen Gipfel des Sprachgebrauchs ereichte sie mit der Frage: "Wie führen Sie die Tätigkeit der Arbeit aus?" Ich schüttete mich fast aus vor Lachen. Unsereins hätte ja gefragt: Wie kommen Sie zur Arbeit? Aber nein, hier mussten drei Synonyme für aktiv-Sein her, um - ja, um was zu erfahren? Ich beruhigte mich und bat sie, mir "Arbeit" in diesem Satz zu definieren. Da merkte ich, dass sie intelligent war: sie verstand meine Frage und antwortete: "Erwerbsarbeit". Da ich ja ein paarmal im Jahr für die Volkshochschule unterrichte, gehörte ich in diese Sparte (obwohl die mageren VHS-Honorare nicht einmal ausreichen, um die Fortbildungen zu bezahlen - aber ich machs ja aus Lust und Freude). Das Ganze dauerte schätzungsweise 20 Minuten; keine verlorene Zeit, fand ich, weil das Mädchen verständnisvoll und klug war. Leider dachte ich in dem Moment nicht daran, sie darauf hinzuweisen, dass nach ihrer Definition die Hausarbeit noch immer keine richtige "Arbeit" wäre. Doch mich bewegte grade dieser eigentümlich Sprachgebrauch, der alles Konkrete, Faktische umging und nur mit Umschreibungen arbeitete. Sie fragte auch, wie ich "Bildung" betreibe (also vermutlich, ob ich Bus, Bahn oder Auto gebrauche); da das nicht ganz klar aus ihrer Frage hervorging, antwortete ich: Bildung betreibe ich ständig, immer. Jetzt zum Beispiel habe ich gelernt, dass man auf diese Formulierung "Wie führen Sie die Tätigkeit der Arbeit aus" kommen kann (und ich werde angeregt, mich zu fragen, wem diese umständliche, schwammige Formulierung wozu nützt?).

Ich kam gerade von Kelkheim, dort praktiziert meine Zahnärztin; im Gespräch mit der jungen Frau vergaß ich, dass mein Oberkiefer noch halb betäubt war. In Kelkheim auf dem Bahnsteig steht ein Fahrkartenautomat. Er steht so, dass die Sonne ab mittags auf den Bildschirm scheint, so dass man darauf nichts mehr erkennen kann. (Der Automat ist übrigens auch nicht vor Regen geschützt.) Ein älterer Mann erbot sich, mir mit seinem Schatten den Bildschirm leserlich zu machen. Ich las, dass ich mich bei der Fahrt nach Frankfurt entscheiden müsse zwischen einer Strecke Kelkheim-Offenbach-Frankfurt oder der Strecke "ohne Umweg", die dann nur halb soviel kostete. Ich fragte den freundlichen Herrn, ob er sich vorstellen können, wer von Kelkheim nach Frankfurt über Offenbach fahren wolle? Seine Frau mischte sich ein: dreimal mahnte sie mich, dass ich ja "ohne Umweg" wählen könne. Aber es muss doch Leute geben, für die das eine erwartbare Alternative wäre - wer sind die? Sonst stünde es doch nicht im Automaten? Die beiden wussten es auch nicht, hatten sich die Frage offenbar noch nie gestellt.

Auf dem Hinweg traf ich beim Besteigen des (an sich) leeren Zugs drei Männer darin an, die offenbar schon vorher drin saßen, also vielleicht hin- und herfuhren. Jüngere Männer in Trainingsanzügen, aufgedunsen, mit Wunden im Gesicht, an den Händen; sie schliefen hauptsächlich. Als ich mich in ihrer Nähe niedersetzte, fragte einer, ob der Zug nach Kelkheim führe? Das war, was ich zu verstehen glaubte, es klang nicht sehr deutlich. "Nach Kelkheim", erwiderte ich. Da nickte der Mann und schlief weiter. Die drei verbreiteten aber einen solchen Gestank, dass ich bald darauf meinen Platz wechselte.

So ein Frühlingstag ist nicht ohne .....

 

Frankfurt, 7. März

Mit unvorstellbar süßen Zweiklängen sangen sie ihr Liebesduett, und die Zuhörer vergaßen im Lauschen die Zeit. Bei den vielen Arien ging es uns nicht anders.

Gestern hatte ich das Glück, hier in der Frankfurter Oper die Händel-Oper "Cesare in Egitto" zu sehen, zu hören. Ja, auch zu sehen gab es einiges, das Bühnenbild passte sich auf fast zauberhafte Weise den Rhythmen und Klängen an, es führte uns manchmal davon, manchmal lenkte es uns auch einfach ab oder trat der Musik freiwillig den Vordergrund ab: dem Klang der Musik, wohlgemerkt!

Meine Enkeltochter ist zu Besuch, und ich schlug ihr den Opern-Besuch vor, ohne zu wissen, was uns eigentlich erwartete. Die Frankfurter Oper habe einen guten Ruf, und Händel sei allemal angenehm zu hören - mit solchen trivialen Argumenten überzeugte ich sie! Nachher war sie ebenso begeistert wie ich. Das Stück handelt inhaltlich zwar von Politik, doch praktisch und konkret nur von Liebe, Eifersucht, Sehnsucht und Erfüllung. Und von Rache. Ein Ohren-Rausch, ein Hör-Schmaus. Wunderbare Sänger. Mit vierstündiger Dauer zwar anstrengend, aber das bemerkte ich an mir erst hinterher.

 

 

 

 

 

Frankfurt, 2. März

Wie gewöhnlich, passiert zu viel, um es ordentlich im Webtagebuch zu notieren. Nein, die Zeitknappheit hat nicht mit den Flüchtlingenzu tun - doch begleiten sie mich oft in meinen Gedanken. Ich höre zu, wenn andere davon berichten. Diejenigen, die für sie arbeiten, will ich ermutigen, bestärken. Wieviele Leserbriefe habe ich in Gedanken verfasst, aber nicht fertigekriegt und schon gar nicht abgeschickt.

Ich denke an meine Großmutter, die in Frankfurt geboren und aufgewachsen, erst mit siebenundzwanzig auswanderte, nach Amerika reiste, unterwegs ihren Mann fand und schließlich sich an seiner Seite im Saarland niederließ. Dort drei Kinder gebar. Glückliche Familie. Und plötzlich stirbt sie, ohne Vorankündigung, an Nierenversagen. Wo wird sie begraben? Nicht dort, wo sie starb. Nicht im Familiengrab des Ehemannes. Nein, man bringt sie in Frankfurt unter die Erde. Das war 1909. Ihr ältester Sohn, wie sein Vater in jüngen Jahren Bergassessor im Saarland, kümmerte sich noch 1952 um das Grab seiner Mutter. Nun existiert es schon lange nicht mehr.

Immer wieder sinne ich: was für eine Frau war sie? Selbstbewusst und fügsam? Praktisch und verträumt? Von Beruf war sie wahrscheinlich Lehrerin - welche Fächer unterrichtete sie? Ich hatte mal angefangen, mich zu erkundigen. Doch nichts gefunden. Wenn sie nicht an einer städtischen Schule unterichtete, dann können wir sie im Archiv nicht finden, sagte man mir.

Jetzt habe ich mir einen Sessel gekauft, in dem ich so gut sitzen wie liegen kann. Heute morgen wurde er geliefert. Großes Erlebnis; bislang saß ich immer auf asketisch-strengen Möbeln ...  Fördert so ein Sessel etwa die Bequemlichkeit? oder schafft er neue Zeit?

Was ich weiß, ist, dass mein Feldenkrais-Unterricht , derzeit immer dienstags abends, das beste ist, was ich tun kann. Ich entdecke neue Möglichkeiten, und es gelingt mir, die Entdeckungen weiter zu geben. Die Arbeit trägt mich durch eine ständige Beweglichkeit, ein Schwimmen durch stets neue Ströme. Die Zusammenhänge erklären sich gewissermaßen selbst....

 

Frankfurt, 10. Februar

Letzten Sommer fand ich in Paris eine Schrift über und mit Roland Barthes, dem Literaturkritker und Linguisten: das hundertzwanzig-seitige Heft enthält ein Porträt von, ein Gespräch mit Barthes und Ausschnitte aus seinen Werken. "Ein Leben, ein Werk" war einer der Titel, die auf dem Umschlag standen, "une vie, une oeuvre". Da drunter stand "Le centenaire d'un révolutionnaire du langage", der hundertste Geburtstag eines Sprachrevolutionärs.

Nun habe ich immer noch Schwierigkeiten, seinen Gedanken zu folgen, so gedrängt und unerwartet springen sie einem entgegen. Ich habe das Heft oft in der Hand, lese ein Stückchen; und wenn ich dann doch was verstehe, fühle ich mich wie ein Segelflugzeug, hoch, leicht und in der Stille. So stieß ich dieser Tage auf Barthes Unterscheidung zwischen einem "écrivain" (Schriftsteller) und einem "écrivant" (Schreibender). Ich erfuhr im Gespräch mit Freunden, dass diese ungewöhnliche Differenzierung seinerzeit, d.h. 1960, sehr viel Aufsehen erregt hatte. Ich bemerkte, dass wenige sich wirklich etwas darunter vorstellen konnten, und musste mir eingestehen, dass ich es auch nicht erklären konnte, obwohl ich beim Lesen zu verstehen geglaubt hatte.

Es ist ja nicht so, dass Barthes nicht ausführlich darlegte, was ihn an der Gegenüberstellung beschäftigt. Der Schriftsteller entspräche demnach dem "Priester", der "écrivant" einem Schreiber (und schon kommt das Problem der Übersetzung hinzu: un clerc, das ist einer, der die Funktion eines Schreibers ausübt, es ist oft der Subalterne, oder der Beamte, aber hier nicht. Vielleicht eher der Chronist?) "Das Wort des einen", so fährt Barthes fort, "ist ein intransitiver Vorgang, so etwas wie ein Geste; das Wort des anderen ist eine Tätigkeit."  Zu seiner Verwunderung hat der "écrivant" viel mehr Schwierigkeiten, sich Gehör zu verschaffen, als der "écrivain". Nach Barthes liegt der Grund dafür darin, dass das Wort eines "écrivain" eine Ware ist, für die sich über viele Jahrhunderte hinweg die Standards entwickelt haben, nämlich die der "Literatur". Der "écrivant" dagegen erwartet, oder es wird von ihm erwartet, dass er mit seinen Worten etwas transportiert, das Eigentliche, nämlich die Gedanken, und seine Worte werden (fast) nebensächlich. Gedanken aber sind frei, sie kosten nichts, sie bewegen sich außerhalb der Finanzkreisläufe. Die Aufgabe des "literarischen Wortes", so Barthes, bestehe nun darin, den Gedanken in eine Ware zu verwandeln. Damit kann er eingeordnet werden. Immer wieder rutschen zwar Grenzüberschreitungen in die Literatur, dann werden eben neue Kategorien entwickelt.

Ich hatte hier neulich begeistert über den Roman "Die siebte Funktion der Sprache" erzählt. Der Autor, Laurent Binet, hat Barthes mehr als jeden anderen studiert; in einem Interview erklärt er, dass sein Roman sich nach Barthes' Lehren ausrichtet. Jetzt glaube ich, ein Beispiel dafür entdeckt zu haben: die konkrete Ausarbeitung der Unterscheidung zwischen "écrivain" und "écrivant". Das Buch handelt ja von einer polizeilichen Ermittlung; in diesem Teil würde ich das Wort des écrivant wiederfinden; die ausführlich dargestellten Rededuelle - Zweikämpfe der Rhetoriker - hingegen gehörten in die Welt der Schriftsteller, der "écrivains", ins Reich der Künste. Binet hat die beiden Welten auf das Köstlichste miteinander verknüpft.

Immerhin. Doch habe ich damit immer noch nicht den Weg gefunden, um Barthes Unterscheidung in meine eigene Welt einzuführen. Oder auch auf Barthes selber anzuwenden. Schreibt er denn nicht aufs Kunstvollste in der Welt der "écrivants"? Als jemand, der die Welt zu erfassen sucht, wie sie sich ihm jetzt präsentiert, wie er sie versteht, und in ungewöhnlichen Worten? Geht es gar nicht um die Unterscheidung von Kunst oder Nicht-Kunst, erst recht nicht um die deutsche Vereinfachung zwischen E und U? Worum geht es dann?

Geht es vielleicht um Wahrheit, um dieses subtile, flüchtige Wesen, das Worte meistens scheut? Und dessen man trotzdem am nächsten mit Worten habhaft werden kann?  Auf beides kann man nicht verzichten, ohne zu verkümmern ...

 

Frankfurt, den 3. Februar

Neulich besuchte ich eine Kusine. Sie ist sechs Jahre älter als ich, und damit in der ganzen Familie die Älteste. Sie wohnt nur eine Stunde Zugfahrt von Frankfurt entfernt - und dennoch hatte ich sie viele Jahre nicht mehr gesehen. Genauer gesagt, ich bin ihr vor zwei Jahren bei einem Familientreffen zum erstenmal seit zwanzig Jahren wiederbegegnet.

Als Kinder trafen wir uns oft. Sechs Jahre Altersunterschied bedeuten während der Kindheit viel; sie war mir immer hoffnungslos voraus und ließ es mich vermutlich merken. Wir kannten uns, wie man sich in der Familie eben kannte - das Bedürfnis sich abzugrenzen war meistens größer als der Wunsch nach Nähe. Und in all den Jahren wussten wir natürlich auch immer von einander - Tratsch funktioniert unter den widrigsten Umständen.

Widrig war unser Verhältnis indessen nicht, eher fremd. Sie heiratete früh, sie blieb Hausfrau, als ihr Lebensberuf, sie führte ein gastfreies Haus. Begeistert die Erzählungen der Besucher, wenn sie bis spät nachts in der Küche gebechert hatten. Sie wunderten sich immer, warum es zuletzt in der Küche am gemütlichsten war. Vielleicht, weil meine Kusine dort ihren Mittelpunkt hatte?

Das hat sich wohl inzwischen geändert. Ich wurde in die Glasveranda gebeten; direkt vor einem Fenster hing draußen ein Futterhäuschen für Vögel und der Betrieb dort war phänomenal. Einen Specht sah ich, ein Rotkehlchen, Amseln, ich weiß nicht was noch. Meine Kusine scherzte, dass sie mehrmals am Tag das Futterhäuschen nachfüllen müsse! Wir berichteten uns von unseren Kindern und Kindeskindern; Urenkel haben wir auch schon.

Und wir sprachen von  früher. Da wurden Tanten und Onkels lebendig und vor allem unsere Großmutter. Sie starb 1942; beide erinnerten wir uns gut an sie. Die Omama. Sie hütete bis zuletzt ihre Kinder, drei Jungen, drei Mädchen, und vor allem auch uns, ihre Enkel. Enkelinnen, icih glaube, das macht einen Unterschied. Ihre ersten zwei Enkel waren Jungen gewesen; danach folgten drei Mädchen, mit vieljährigem Abstand. Meine Kusine und ich, wir wohnten in der Nähe unserer Großmutter und sahen sie oft. Mein Vater war das jüngste Kind, der Vater meiner Kusine der älteste Sohn. Er war es, der sich nach dem frühen Tod des Vaters für die Mutter und für die Geschwister verantwortlich gefühlt hatte. Es waren enge Beziehungen, und die Omama übertrug sie auf die Enkelkinder. Nirgendwo fühlte ich mich so geborgen wie spielend zu ihren Füßen.

Es lebt fast niemand mehr, der all die Onkels und Tanten persönlich gekannt hat, ihre Eigenheiten und Besonderheiten, ihre Ansprüche, die Kraft, mit der sie unsere Kindheit bevöikerten. Und so wurde unser Gespräch - nicht zum Gang durch eine Bildergalerie, nein, sondern zu einer Wanderung zwischen einer langen Reihe von Fenstern, in die wir hineinschauten und sie sahen, wie sie sich bewegten, die Menschen, die wir beide gekannt hatten und die unsere Familie gewesen waren. Weil meine Kusine sie anders erlebt hatte als ich, bekam jeder Einzelne seine Lebendigkeit, seine eigene Gestalt; sie traten für einen Moment gewissermaßen aus meiner Erinnerung heraus und wurden wieder sie selbst.

Das machte meinen Ausflug zu einem tiefen Erlebnis, und ich bin dankbar dafür.

 

 

 

 

 

 

 

 

Frankfurt, den 25. Januar 2016

Wenn ich an einem Laternenpfahl an der Straßenbahnhaltestelle den Klebezettel sehe, auf dem Merkel mit einer Anklage wege Bruch des Schengen-Vertrags bedroht wird, frage ich mich, ob vielleicht noch ein paar Juristen darauf kommen, dass der Schengen-Vertrag die gegenwärtige Lage gar nicht abdeckt? Es kommen ja nicht erst seit diesen Sommer die "illegalen" Flüchtlinge, sondern über Italien, früher auch Spanien, neuerdings Griechenland seit Jahren immer neue. Damals wurde den Ländern von Brüssel nicht geholfen. Man denke an "Mare nostrum", das Projekt, mit dem Italien kalt allein gelassen wurde. Jetzt soll die Türkei 3 Milliarden Euro bekommen, fordert schon mehr - was hätten diese Summen für Sizilien bedeutet, wenn Europa dort Flüchtlingsstädte gebaut hätte? War wohl zu lästig. Man hat die Situation in Brüssel (und Berlin) einfach ignoriert. Erst seit die Flüchtlinge noch mehr geworden sind und in Mitteleuropa landen, denkt man hier darüber nach. Und redet immer von Schengen, das für diese Situation nie gedacht war! Neue Ideen brauchen wir. Und Zeit zur Einigung. Europa hat seit Beginn sehr viel Zeit gebraucht.  Darin lag immer seine Stärke.

 

Frankfurt, den 5. Januar 2016

Abenteuer kann man verschiedene erleben - manchmal auch beim Lesen. Wenn das betreffende Buch als Krimi geschrieben wurde, so scheint das umso verständlicher. Aber diesmal war alles anders.....

Eine gute Freundin hatte mir "Die siebte Funktion der Sprache" empfohlen, einen französischen Roman, der diesen Herbst sogar einen Literaturpreis erhalten hatte. Vom Autor hatte ich noch nie gehört: Laurent Binet. 2010 hatte er den Goncourt für einen "ersten Roman" gewonnen.

Die Geschichte beginnt mit einer Platitude: "Das Leben ist kein Roman", und hätte ich nicht die Empfehlung meiner Freundin im Kopf gehabt,  wäre meine Lektüre da schon zuende gewesen. Ich las also weiter, und schon auf der zweiten Seite fesselte mich der Autor, als er die Zerstreutheit des berühmten Literaturkritikers Roland Barthes beschrieb: nicht einfach "zerstreut" war der Mann, sondern vollständig in seine Gedanken vertieft, während er durch das verkehrsreiche Paris ging. So vollständig, dass der Autor das berühmte Höhlengleichnis von Platon umkehrte: im Kopf von Roland Barthes herrschte die Wirklichkeit, alles außerhalb, der Bürgersteig, die Straße, erschien nur als Schatten. Bei der Überquerung der Rue des Écoles erfasste ihn ein Lieferwagen, er starb daran, wenn auch erst einen Monat später im Krankenhaus.

Der Krimi beginnt nun damit, dass der Autor nicht einen Autounfall, sondern einen Mord unterstellt, und zwar einen Mord mit politischem Hintergrund. Die Geschichte fängt somit am 25. Februar 1980 an, einem Zeitpunkt, wo in Frankreich noch der konservative Giscard regierte, und endet im Mai 1981 mit dem Sieg des sozialistischen Mitterrand bei den Präsidentschaftswahlen. In Wahrheit geht es im ganzen Roman um Sprache, um ihren Gebrauch, um ihre Wirkung, und alle großen Namen jener Zeit - Foucault, Derrida, Umberto Eco und viele andere - spielen mit. Linguistik, Semiologie, Phiosophie, Literatur dienen als Waffen, als Instrumente der Macht. Die Orte der Handlung beschränken sich nicht auf Paris, nein, man reist sehr viel, und zwar zwischen den Orten, an denen historisch belegte Linguistenkongresse tatsächlich stattgefunden haben, in USA etwa, in Italien.

Die fast fünfhundert Seiten habe ich mit wachsender Begeisterung gelesen. Zwar bin ich keine Linguistin und hatte stets Schwierigkeiten, ihre Wendungen und Grundsätze wirklich zu verstehen; doch findet der ermittelnde Kommissar unter den Jungprofessoren jener Epoche - Linke mit wildem Haarwuchs - einen Mann, der imstande ist, ihm alles zu erklären; sogar die Semiologie wird (fast) etwas Einfaches. Er requiriert ihn, und der junge Mann muss ihm folgen, wenn er nicht seine beruflichen Aussichten von Grund auf gefährden will. Beide sind schließlich Staatsbeamte, und der Kommissar folgt einem Auftrag von höchster Stelle. So hatte ich die Chance, zusammen mit dem Kommissar zu verstehen und in die Problematiken hinein zu wachsen.

Das klingt alles noch etwas theoretisch, und tatsächlich wird die Frage nach dem Unterschied zwischen der Gedankenwelt und der Wirklichkeit immer wieder berührt. Im Grund schon gleich am Anfang mit der Frage "Ist das Leben ein Roman oder nicht", eine Frage, die zu allerletzt noch einmal - überzeugend - aufgegriffen wird.

Als ich das Buch schließlich zuklappte, blieb die Frage wirklich offen: alles ist möglich. Das machte das Abenteuer der Lektüre so unvergleichlich.

 

 

Frankfurt, den 6. Dezember

"Bleib im Land und nähr dich redlich", so hieß ein alter deutscher Spruch, den ich in meiner Kindheit oder Jugend oft gehört haben muss, so selbstverständlich klingt er mir noch im Ohr. Es war eher eine Utopie, wenn ich es jetzt bedenke. Leute, die fremd ankommen, denen ehrliche Arbeit verweigert wird, die lügen und betrügen müssen, um zu überleben - und sei es, dass sie sich selbst belügen, sich erniedrigen - die fangen an, von der Heimat, von früher zu träumen und davon, wie redlich dort alles zuging. Höchstwahrscheinlich ging es nicht redlicher zu als überall.

Der Vorteil des Im-Land-Bleibens besteht darin, dass man die Menschen dort kennt, dass man von den vielfachen Fäden, die sie verbinden, weiß und sie nutzen oder vielleicht einen Bogen darum machen kann. Durch Vertrautheit wird vieles klar und mit den Jahren noch klarer. Die Im-Land-Gebliebenen, sofern sie nicht so erniedrigt und verstört wurden, dass sich ihr Selbstbewusstsein nie erholen konnte, die mit ihrer "Scholle" Verwachsenen, können sich im Lauf ihres Lebens organisch entwickeln. Mit ihnen wächst auch ihre Sprache, die Verständigung zwischen den Daheim-Gebliebenen läuft wie geölt. Wer dann und wann ein Wort einfügt, das die andern nicht gleich verstehen, gilt leicht für einen Dichter.

Meine beiden Großväter ließen sich als Erwachsene in einer aufstrebenden Industriestadt nieder.  Der eine gründete ein Geschäft, der andere wurde Beamter. Der jüngste Sohn des einen heiratete die jüngste Tochter des anderen - und dann kam ein Krieg, schon der zweite in ihrem Leben. Das große Reisen begann aufs Neue. Von den vier Kindern meiner Eltern ist keins in der einst aufstrebenden Industriestadt geblieben. Die Sehnsucht nach Woanders, nach einem Draußen, nach einer helleren Welt trieb uns fort. Oder ein Gefühl des Betrogenseins, der Lüge, die wie eine gewichtlose Filzdecke über allem hing, über dem Leben, das wir in großer häuslicher Enge führten ebenso wie dem, das die Stadt uns bei ihrem hässlichen Wiederaufbau vorführte. Nichts war, wie es sein sollte - aber wie sollte es denn sein? Das wussten wir eben auch nicht.

Natürlich nicht wie bei Karl May, dem Vorbild eines Reisenden aus unserer Kindheit. Von ihm verabschiedeten wir uns mit dem Erwachsenwerden, von Winnetou und dem "Llana Estacado" in der Wüste. Und doch: Blieb Kara Ben Nemsi nicht ein heimliches Vorbild? Der Mann, der Redlichkeit und Klugheit und stete Neugier auf den andern immer geschickt zu verknüpfen verstand? Einer, dem es nie an Freunden fehlte? Versuche ich allerdings, mich zu erinnern, auf welche Finanzen Kara Ben Nemsi seine Reisen stützte, dann versagt mein Gedächtnis. Geld spielte dort nie eine Rolle.

Heute mag ich Karl May nicht mehr lesen - seine Sprache erscheint mir unerträglich. Freilich komme ich mit meiner eigenen Sprache nicht so weit wie er damals, als er vor hundert oder mehr Jahren seine Erfolge feierte. Meine Sprache lebt von den vielfachen Begegnungen mit andern Sprachen, andern Sitten, mit Gedankengängen, die hier, wo ich jetzt seit weit über 20 Jahren lebe, kaum gedacht worden sind. Neulich durfte ich aus meinem Roman "Kindertreu" vor einem deutsch-luxemburgischen Publikum lesen und stellte nachher fest, dass sie alles verstanden, so wie es gedacht war, dass die Geschichten sie direkt ansprachen. Dieses Erlebenis habe ich mit einem deutschen Publikum nie. So muss ich mir eingestehen, dass mein Roman, so gut er auch geschrieben sein mag, nie die Leser finden wird, für die er geschrieben war. So bitter das klingt, es erleichtert auch. Letztlich habe ich den Roman für mich geschrieben und habe durch ihn viel Klarheit gefunden. Nun wende ich mich dem nächsten Thema zu.

Im Moment brüte ich über einem Essay zum Thema Andalusien. Er muss am 20. Dezember fertig sein, damit er im Januar in  "kulturissimo" (Luxemburg) erscheinen kann. Ich möchte darin die These von Emilio González Ferrín darstellen, einem Professor der Arabistik aus Sevilla, der die offizielle spanische Geschichtsschreibung von "arabischer Invasion" und "Reconquista" in Frage stellt. Stattdessen, so zeigt er auf, habe es in Andalusien schon seit der Antike eine Mischbevölkerung gegeben, die sich abwechselnd miteinander vertragen hat oder auch nicht; das katholische Kastilien hingegen betrieb ethnische Säuberung, besonders nach 1492, dem Jahr,  in dem die letzte mächtige Stadt Andalusiens in kastilische Hände fiel. (Das ist jetzt meine polemische Formulierung, der Professor wird nie polemisch.) Die neue Geschichtsschreibung ist elektrisierend und weist in die Zukunft: es ist möglcih miteinander auszukommen. Wenn es denn genügend Leute wollen...

Pax vobiscum, Schalom alechem, der Friede sei mit euch...

 

Frankfurt, den 24. November

Quatre-vingt. Vier-zwanzig. Das ist das französische Wort für achtzig. Ich werde heute 81. Quatre-vingt-un.

Wie kommt es, dass die nüchternen, logisch denkenden Franzosen es in ihrer Geschichte nicht geschafft haben, einfach siebzig, achtzig oder neunzig zu sagen? Dass sie stattdessen komplizierte Rechenverfahren einsetzen? Soixante-dix bedeutet sechzig-zehn, das heißt hier wird addiert: zu siebzig. Doch quatre-vingt bedeutet Multiplikation: vier mal zwanzig, nur um achtzig zu sagen. Bei neunzig wird wieder addiert: quatre-vingt-dix.

Es heißt, die "hohen Zahlen" seien wenig gebraucht worden, also siebzig, achtzig, neunzig, und darüber hinaus gings anscheinend gar nicht. Bis weit ins Mittelalter habe man die alten Zahlen benutzt, sagt die Internetauskunft.  Das Dezimalsystem brachten erst die Andalusier nach Europa, und die Franzosen wollten sich lange nicht damit anfreunden. Nur die Schweizer aus der romanischen Schweiz kennen "septante, octante, nonante". Die Belgier teilweise auch. Seltsam. Freilich gab es in manchen wallonischen Tälern bis vor einigen Jahren noch Dialekte, die mehr ans Lateinische erinnerten als ans Französische.

So spiegelt sich die Zeit auch in meinem Lebensalter. Ich freue mich, so viele Zeiten mit allen Sinnen erleben zu dürfen.

 

Frankfurt, den 15. November

In Paris: Trauer und Sinnieren über das Unbegreifliche....

Aber ich bin Frankfurt. Und hier sah ich vor kurzem einen Fernsehfilm über Luxemburg. War es auf wdr.de? Er dauerte fast anderthalb Stunden, das ist enorm viel Zeit, verglichen mit früher, wo Luxemburg von Deutschen gewöhnlich als "Operettenstaat" oder als Hort für Steuerflüchtlinge betrachtet, also verachtet und verhöhnt wurde. Es war ja so klein, da brauchte man sich nicht davor zu fürchten .... das war mein Eindruck, solange ich noch selbst in Luxemburg wohnte und mich mehr dort zuhause fühlte als in der BRD. Hier, in Deutschland,  änderte sich mein Eindruck kaum. Ich lobte und pries die Vorzüge des Großherzogtums, aber wer wollte das hören? Oder glauben?

Nun also anderthalb Stunden, und nur positiv. Ein Fernsehpromi, Jean Pütz, in Luxemburg und unter Luxemburgern aufgewachsen, führte den jungen Reporter durchs Land. Wir sahen alle Sehenswürdigkeiten, von der Erinnerung an die Ardennenschlacht bis nach Schengen, von der Luxemburgischen Schweiz bis zum ehemaligen Erzbergbau, von der Luxemburger "Trösterin der Betrübten" zur Echternacher Springprozession, wir sahen Burgen und Schlösser. Wir erfuhren auch, dass alle Luxemburger "letzeburgisch" sprechen, und zwar dadurch, das schier endlos viele Leute das Wort "Mojn" aussprachen.

Es klang, als würden diese Leute nur einsilbige Wörter kennen, ein wenig einfältig sein - dabei hatte die Redaktion wohl bloß die Absicht, die deutschen Zuschauer nicht mit einer Fremdsprache zu überfordern. Jean Pütz gab sich Mühe, auf die zahllosen Nuancen im Luxemburger Weltbild hinzuweisen. So duldete er die wiederholten "Mojn"'s im Film als einzigen Nachweis für Anderssprachigkeit vermutlich deshalb, weil jeder Sprecher das Wort auf eigene Weise  aussprach, mit einer anderen Bedeutung, und auf diese Weise eine Vielfalt zum Ausdruck brachte, die der Wirklichkeit entspricht. Aber welcher deutsche Zuschauer merkt das?

Zum Schluss wurde mir klar, dass der Film einzig und allein touristische Aspekte einbezog: die Deutschen sollen hinfahren, besichtigen, trinken, essen und Andenken kaufen.

Wovon nicht die Rede war: von der Musikszene. Kreativ, auf sehr hohem Niveau, zusätzlich mit internationalen Konzerten in der Philharmonie. Nicht von der einheimischen Theaterszene. Vielsprachig, neugierig, facettenreich. Fast jeder Luxemburger hat mal Theater gespielt. Nicht von der Szene der bildenden Künste. Möglicherweise wird künstlerisches Schaffen in Luxemburg dadurch von besonders vielen Menschen angestrebt, weil die Mehrsprachigkeit im Lande hohe Anforderungen an das Sprachvermögen des Einzelnen stellt. Ein Bild scheint man leichter, schneller malen zu können als die richtigen Worte in der richtigen Sprache zu finden. Ja, und die Universität kam überhaupt nicht aufs Tapet. Sie  hat die Dreisprachigkeit zur statutarischen Grundlage erklärt und besitzt schon dadurch ein Alleinstellungsmerkmal unter den europäischen Universitäten. (Die Uni für sich würde eine Sendung von anderthalb Stunden leicht füllen können.)

Die luxemburgische Sprache wurde bis in die achtziger Jahre offiziell als "moselfränkischer Dialekt" eingeordnet; 1984 wurde das Gesetz über die "Nationalsprachen" erlassen. Seitdem gelten in Luxemburg offiziell und gleichberechtigt Luxemburgisch, Deutsch und Französisch als Nationalsprachen. Bewusst wurde das Wort "Amtssprachen" vermieden. Literarisch werden die drei Sprachen schon seit anderthalb Jahrhunderten verwendet. Das "Letzeburgisch" hat sich etwa seit den sechziger Jahren emanzipiert, vielleicht müsste man sagen, seit dem 2. Weltkrieg: es erlaubte den Bewohnern, sich von den deutschen Besatzern zu unterscheiden. Statt Heilhitler hieß es: mojn. Das wirkt nach. Es gibt inzwischen umfangreiche Wörterbücher und an den Universitäten in den Nachbarländern hat sich das Fach "Luxemburgistik" etabliert. Es gibt großartige Romane, Gedichte. Beim 20jährigen Jubiläum des Nationalen Literaturinstituts (genauer: seines Trägervereins) wurden hinreißende Reden auf Luxemburgisch gehalten, in einem unendlich fein nuancierten Luxemburgisch, das "literarisch" zu nennen, ich mich nur deshalb scheue, weil "literarisch" auf deutsch oft bedeutet: abgehoben, affektiert. Das ist es gewiss nicht.

Ach. wie will man jemandem etwas deutlich machen, der nicht die Antennen dafür besitzt. Wie Rilke über den Apfel schrieb: "Wagt zu sagen, was ihr Apfel nennt! Diese Süße, die sich erst verdichtet, um, im Schmecken leise aufgerichtet, klar zu werden, wach und transparent, doppeldeutig, erdig, hiesig..." (Aus: "Die Sonette an Orpheus"). So ist Luxemburgisch. Jean Pütz weiß das. Der junge deutsche Reporter wusste es nicht. Und er scheint es auch nach den Dreharbeiten nicht verstanden zu haben.

Luxemburg ist neben Brüssel ein Amtssitz der Europäischen Union. Der Film zeigte EU-Gebäude in unvorteilhaftem Blickwinkel mit einem menschenleeren Platz dazwischen. Der Kommentar dazu ließ durchblicken, dass dieses Thema sozusagen ein Spaßverderber sei und darum gemieden werde. 

Luxemburg ist anders. Gleichzeitig ganz europäisch. Davon zeigte der Film wenig bis nichts. 

 

 

 

 

 

 

Frankfurt, den 14. November

Trotz der Attentate in Paris - und ihnen zum Trotz - kehre ich für einen Moment in den Frankfurter Alltag zurück. Ich möchte über eine Filmuraufführung berichten, der ich gestern in Höchst beigewohnt habe. Richtig: URaufführung! Eine Gruppe von anfangs etwa 16 Jugendlichen, die während der Dreharbeiten auf ein Dutzend Unerschütterliche zusammenschmolzen, traf sich und entwickelte im Laufe etwa eines halben Jahres das Drehbuch, das aus kleinen alltaglichen Ereignissen bestand, zusammenghalten davon, wie ein alter, an Parkinson erkrankter Mann versucht, das Fahrradfahren noch einmal zu erlernen. (Dramaturgisch gesehen, füllte er damit die Rolle eines Clowns aus.)

Der Schauspieler war Wolf Frey, in Frankfurts Jugend-Förderszene bekannt als Schülermentor bei den Johannitern. Er gehörte zu den Initiatoren des Projektes, mit dem er junge Leute anlockte und begeisterte. Ein professioneller Berater - Bahman Börger - gehörte ebenfalls dazu wie auch die jahrzehntealte "Medienwerkstatt"; sie alle unterstützt von der Bundesjugendförderung, dem Filmtheater Valentin und noch anderen Organisationen. 

Das jugendliche Filmteam umfasste den Regisseur, die Kamerafrau, die Cutter und natürlich die Darsteller. Der Spielort war der Niddapark, das Wetter mit der Hitze des vergangenen Sommers ideal.

Der Film verdankt seinen Charme vor allem der Natürlichkeit, der Lockerheit seiner Protagonisten, die es fertigbringen, auch aggressive Haltungen überzeugend darzustellen, glaubhaft, und doch zur Friedlichkeit verführend. In dem Zusammenhang war ich besonders beeindruckt von der Szene, wo ein Mädchen im Park von zwei Jungen belästigt wird, und das sehr aufdringlich. Sie protestiert: "Hört mal, ich telefoniere gerade, lasst mich in Ruhe!", doch die Jungen treibens immer ärger. Da geht sie einfach fort,dreht sich aus ihren Händen und Armen heraus, ignoriert die Rufe, telefoniert weiter. Freilich kommt dann auch der "richtige" Freund, das musste wohl sein, nehme ich an, um den Ruf des Mädchens zu festigen, damit sie nicht als "zickig" angesehen werde.

Vergleiche ich die Szene mit dem, was ich in meiner Jugend erleben konnte, und frage mich, was ich getan hätte,  so hätte ich mich wohl schon sehr bald mit Schlagen und Schreien gewehrt, oder wäre sofort weggelaufen. Das, was dieser Film zeigte, ermöglicht offenbar ein friedlicheres und viel weniger sexualisiertes - d.h. weniger agressives - Zusammenleben zwischen Jungen und Mädchen als es das zu meiner Zeit gab. Es machte mir große Freude, das  zu sehen. Der Film enthielt auch andere Szenen, die Freude bereiteten: die Natur im Park, die bunten Enten, der Biber, den ein Hippie füttert. Und auch der Clown erheiterte sein Publikum immer wieder. Die Musik hatten die Macher selbst besorgt, mit Sachkenntnis. Bewundert habe ich ferner den Schnitt: kühn und intelligent. Der Film gewann sogar beim zweiten Anschauen.

Der Film wird am 11. Dezember 2015 um 15 Uhr noch einmal im Filmtheagter Valentin (im Bolongaro-Palast) gezeigt. Empfehlenswert!

 

Frankfurt, den 13. November 2015

Verwirrung. Strudel. In einen Strudel geraten.

Warum bin ich zur Zeit kaum ehrenamtlich beschäftigt? So viele Freunde, Bekannte bringen sich ein, arbeiten für das Gemeinwesen, manche hart. Es gibt mehr Arbeit denn je. Ich aber gucke und gucke, und denke nach. Droht in Deutschland ein Bürgerkrieg? Nein, eher nicht, sage ich mir nach einigen Tagen des Umschauens. Aber ich weiß auch: ich lebe in Frankfurt, und kaum ein Ort in der Republik könnte kosmopolitischer sein als Frankfurt. Gestern las ich in einem Brief von Siegfried Kracauer aus Berlin an seinen Chefredakteur Reiffenberg in Frankfurt (Februar 1933): "Kommen Sie doch in diesen Wochen noch einmal nach Berlin...... Und es wäre gar zu wichtig, dass Sie einmal die Dinge von hier aus sähen."

Ja, das zählt auch heute noch: die Dinge von Berlin aus sehen. Oder von München. Oder von Brüssel aus. Vielleicht von Paris. (Dort ist ein Buch erschienen, auf das ich sehr neugierig bin: Überlebende Redakteure von "Charlie Hebdo" äußern sich darin unter dem Titel "Katharsis".) Gestern abend veranstaltete die Friedrich-Ebert-Stiftung hier in Frankfurt ein Gespräch über die Beziehungen zwischen Griechenland und der EU. (In der ersten Stuhlreihe saßen 4 Besucher, aber sonst war der Saal fast voll.) Das Podium bestand aus drei Männern und einer Frau - allesamt brillant und am Gemeinwohl orientiert. Am brillantesten unter den Klugen erschien mir Cristos Katsioulis, ein Grieche aus Deutschland, der in Thessaloniki Politikwissenschaften studiert hatte und gegenwärtig das Athener Büro der Friedr.-Ebert-Stiftung leitet. Er sprach so elegant, kam ganz ohne Schubladendenken aus, dass ich ihn nach Schluss der Debatte fragte, ob er genauso gut Griechisch könne wie Deutsch? "Fast," antwortete er, und ich konnte ihn nur bewundernd anschauen. Denn so ein klares und doch schwingendes Deutsch wie er sprach keiner von den andern auf dem Podium (ich nenne sie nicht die "Einsprachigen", das ist ein Vorurteil, und ich kenne sie nicht genug), und es fehlte ihnen wahrlich nicht an Ausdrucksvermögen.

Worum ging es? Die Vorgänge in Griechenland bewegten im Sommer die Titelseiten und werden derzeit durch das Thema "Flüchtlinge" verdrängt. Dabei wächst das Elend, die Wirtschaft schrumpft, die Banken können noch immer keine Kredite geben. Alle Redner stimmten darin überein, dass die große Mehrheit der Griechen (80%) nicht nur in der EU, sondern im Euro bleiben wollen. Die deutsche Regierung wird von allen als ein mehr oder weniger großes Hindernis für einen Wirtschaftsaufschwung in Griechenland gesehen. So verteidigte Katsioulos die Übernahme der rentablen Flughäfen durch Fraport damit, dass die griechische Regierung nicht die Mittel für Investitionen habe. Mit den Einkünften aus der Verpachtung könne sie hingegen die kleineren Flughäfen auf den Inseln stützen. Er pries den Umgang der Griechen mit den Flüchtlingen. Andrea Ypsilanti sprach von der Solidarität mit Griechenland, konkret vom "Griechenland-Solidaritätskomitee Rhein-Main" (sie setzte es leider als bekannt voraus, so dass ich nichts Näheres erfuhr). Katsioulos ergänzte anschaulich mit der Beschreibung der Solidaritäts-Netzwerke innerhalb von Griechenland; diesen ist es zu verdanken, dass das Leben weitergeht, dass jeder irgendwie über die Runden kommt. "Notleidende müssen nicht erst zu Ämtern gehen, sich Papiere abstempeln lassen, Demütigungen ertragen - nein, sie gehen in neutrale Gebäude und kommen mit einem normalen Einkaufsbeutel heraus ...".

Das erinnert mich an einen Abend im Frankfurter Literaturhaus, vor zwanzig Jahren, als junge Türken dort ein Buch vorstellten, in dem sie von ihrer heftigen und nicht unkriminellen Jugend Abschied nahmen. Die Moderatorin fragte: "Was ist das: Ehre? Ich kann mir darunter nichts  vorstellen." Verblüfft schwiegen die jungen Männer. Lächelten schließlich: sie konnten und wollten es ihr nicht erklären.

Weiter gehts jetzt nicht. Morgen setze ichs Erzählen fort. Ich muss unbedingt von der Fernsehsendung über Luxemburg berichten.