Tagebuch Sommer 2008
Frankfurt, den 1. Oktober
Sturm, Regen, 15 Grad C. Die besonders exponierten Geranien brechen und werden von Windstössen über den Balkonboden getrieben. Ich hebe sie auf und fülle eine kleine Vase mit zwei rot strahlenden Geranien, einem Zweig blau blühenden Rosmarins und einer samenschweren Petersiliendolde. Das duftet im Zimmer.
Am Abend las ich in einem englischen Buch über "Mothering the self - about mothers and daughters", ein Forschungsbericht. Mühsam zu lesen,weil die Begriffe von Anfang an in Frage gestellt werden: was erwartet die ("Euroamerican") Welt von einer "Mutter", wie definiert sich eine "Tochter", und sind nicht alle Mütter auch Töchter? Im dritten Kapitel erfahre ich, dass von einer "good-enough-mother" erwartet wird, dass sie "good-enough-citizens" heranzieht, die sich mit Demokratie auskennen und damit umgehen können. Wohlgemerkt, sowas gilt als selbstverständlicher Anspruch an eine Mutter. Das Interessante an der Forscherin ist freilich, dass sie die Selbstverständlichkeiten in Frage stellt.
Richtet sich das Mutterbild nach den Bedürfnissen der Kinder? Wer definiert die Bedürfnisse von Kindern? Wenn das "Euroamerican" an dieser Stelle wieder auftaucht, dann wird mir schon unwohl. Immerhin bin ich mit der eisernen Regel aufgewachsen, dass Kinder den Mund halten und gehorchen sollen. Sie müssen was lernen, damit aus ihnen "was wird". Das ist gewiss nicht "amerikanisch", wenn es auch nicht überall in Europa gilt, und fördert nicht die Demokratie. (Meine Freiheiten fand ich als Kind: im Lesen, im Theaterspielen. Das war in Maßen erlaubt.)
Dann kommt noch "das Selbst", ein Begriff, den auch die Forscherin nicht eindeutig zu definieren versteht, bzw. ich hab ihre Definition bisher nicht gefunden. Sie muss ihn ja definieren, sie versteht sich als Wissenschaftlerin. Im Kern ihrer Untersuchung stehen Gespräche mit 14 US-amerikanischen Frauen zwischen 38 und 55, aus verschiedenen gesellschaftlichen Herkünften, mit einer Menge Aberglauben. "Wem schlägt Ihre Tochter nach?" ist einer dieser Fragen, deren Antworten mich gruseln machen. Wie die Kinder von den Müttern festgelegt werden!
Die Erhebungen fanden in den neunziger Jahrten statt, das Buch ist 2000 erschienen. Man könnte mich streng fragen, warum ich mich mit solchem Schwachsinn abgebe? Ich müsste antworten: leider hab ich noch nicht viel Gescheites über die Beziehungen von Töchtern und Müttern gelesen. Diese Soziologin - sie heisst Steph Lawler - stellt zumindest Fragen!
Ich habe schon mal versucht, den Ausdruck "Mothering the self" zu übersetzen und bin auf "mit mütterlicher Fürsorge das Selbst zur Entwicklung bringen" oder "das Selbst fördern" gekommen, vielleicht auch nur "das Selbst stärken", wenn man davon ausgeht - was manche tun - dass man schon mit einem "Selbst" geboren wird und es sich nicht erst im Lauf des Lebens bildet.
Ich werde noch mal auf diese Fragen zurückkommen!
Frankfurt, 30. September
Vorbei, vorüber. Am Sonntag erlebten wir den Höhepunkt, die Schlussveranstaltung mit "Türkisch - deutsch - türkischdeutsch - Hauptsache Literatur" - ein Slogan, der übrigens von Herrn Buchholz stammt. Zu Gast waren Asli Erdogan, Hamdi Koc und Hilal Sezgin; wir hatten die unvergleichliche Dolmetscherin Frau Yesiltepeli und eine Simultananlage. Safiye Can gab einen kurzen Einblick in die türkische Literatur allgemein (seit Gründung der Republik), und ich moderierte.
Das Publikum, zwischen 40 und 50 Leuten, bestand etwa zur Hälfte aus Türkischstämmigen und zur Hälfte aus ethnisch Deutschen, jedenfalls nach meiner Einschätzung. Im mindestens dreiviertelstündigen Gespräch, das ich mit den Autoren und dem Publikum führte, entstand eine grosse Nähe, es war ein Vergnügen.
Nachher fragte ich einen, der schwarzhaarig da stand und wie ein Arbeiter gekleidet war: "Hat es Ihnen gefallen?" Er reagierte etwas steif, und das was er antwortete, verstand ich erst nicht. Doch ich gab mir Mühe, und schliesslich begriff ich: er beklagte, dass sich die Türkei auf der Buchmesse mit ihrer Literatur brüste und gleichzeitig in der Türkei eine kurdische Zeitung verbiete. "O, warum haben Sie das nicht eben bei der Diskussion gesagt?" fragte ich. Er habe nicht stören wollen. Ich schüttelte den Kopf, aber Sie stören doch nicht! Wo doch die Frau Erdogan im Kulturzentrum von Diyabakir arbeitet, der Hauptstadt der Kurden in Südostanatolien. Ich winkte ihm, mit mir zu kommen, und führte ihn nach vorn zu Frau Erdogan, die noch da war und sich mit jemandem unterhielt. Ich stellte ihn vor, und sie kamen ins Gespräch, sein Gesicht hellte sich auf, zuletzt sah ich ihn lachen!
Und Frau Erdogan, die an Bandscheibenvorfall litt und sichtlich Schmerzen hatte, hellte sich in diesem Gespräch ebenfalls auf: zuletzt war ihr Gesicht völlig faltenfrei!
Frankfurt, den 27. September
Jeden Tag hätte ich was schreiben sollen.
Aber ich war ja verantwortlich. Verantwortlich für die "Hessischen Literaturtage 2008 in Offenbach", vom 24. - 28. September.
Es sind noch alle Veranstaltungen gelungen, und heute hats mir besonders gefallen: es wurde über Sprache geredet.
Muepu Muamba kam zu dem Schluss: sein Französisch sei eine Universalsprache, in der sich alle anderen Sprachen, mit denen er je zu tun gehabt habe, spiegeln oder einnisten.
Dino Burdzovic glaubt, den Kontakt in die Heimat Montenegro so eng halten zu können, dass ihm die Sprache erhalten bleibt. Allerdings räumte er ein: die Leute dort fänden schon, dass er "deutsch" schreibe, weil er sich mit Ereignissen befasst, die sich hier abspielen. Auch merkte er, dass sich nach acht Jahren die Sprache in Montenegro gewandelt hat, was er nicht mitbekam. Ranko Cetkovic stellte fest, dass er manche Gedichte NUR auf Kroatisch, andere NUR auf deutsch schreiben und keins von ihnen in die andere Sprache übersetzen kann. Auch Hermine Popa erkannte, dass ihr die Sprache ihrer Kindheit verloren geht, weil sie an deren Entwicklung nicht mehr teilhat. L. Simic verteidigte die Zweisprachigkeit, mit stärkerer Betonung des Deutschen, jedenfalls bei den Jüngeren.
Lebhaft war auch die Auseinandersetzung über die Muttersprache: gar nichts Eindeutiges fand man, aber viele Muttersprachen.
Nachher fragte mich einer: warum sagt man eigentlich "Muttesprache"? Weil das Kind sie schon im Bauch hört, antwortete ich. Ein anderer fragte: Und wenn die deutsche Mutter nur serbisch spricht, weil sie nach Serbien ausgewandert ist? Dann wird das Serbische die Muttersprache. Vielleicht mit ein paar deutschen Wendungen oder einem deutschen Tonfall ...
Frankfurt, 21. September
Gestern fuhr ich zu einer literarischen Veranstaltung nach Darmstadt, die mir folgendermaßen angekündigt worden war:
"Unter dem Titel Türkische Literatur heute: Zypressen als Wegweiser soll im Rahmen der Lesung in der Centralstation der deutsch-türkische Dialog angestoßen werden. Die Autoren lesen Passagen aus ihren Texten und denken laut - und gemeinsam - darüber nach, was sich in den letzten Jahrzehnten verändert hat .... "
Ein Wunschprogramm, ich war wirklich neugierig.
Die Veranstaltung begann mit mindestens 20 Minuten Verspätung. Die erste Stunde war herum, als das letzte "Grusswort" gesprochen war. Nun, das kennt man ja. Offenbar nicht zu vermeiden.
Dann stellte ich fest: der tatsächliche Titel der Lesung lautete: "Rassismus in der Literatursprache - Türkische Literatur heute - Zypressen als Wegweiser".
Ein schöner alter Herr begann auf Türkisch vorzulesen. Er las ziemlich lange, im Publikum sassen überwiegend Türkischkenner, er bekam Beifall. Nun las die Dolmetscherin, die großartige Frau Yesiltepeli, die deutsche Fassung, und ich bemerkte, dass es sich nicht um Literatur, sondern um einen Essay handelte, der die Moderne anklagte wegen ihrer Gefühllosigkeit. Zwei Anekdoten dienten als Beweis, die eine aus der guten alten Zeit auf dem türkischen Lande, die andere aus dem finsteren kalten New York. Es gab eine kurze Diskussion, bei der man aneinander vorbeisprach.
Dann folgte ein weiterer alter Herr, der sehr aristokratisch aussah. Ein Jurist, wie wir hörten. Er sprach über "Ausländerfeindlichkeit" und wies - schlüssig, nach seiner Meinung - nach, dass es eine solche im Osmanischen Reich nicht gegeben habe, aber in Europa. (Dass als Beispiel dafür in der deutschen Fassung nachher Bergen-Belsen und Theresienstadt genannt wurden, entsprang offenbar nur einer spontanen Eingebung von Monika Carbe, einer der zwei deutschen AutorInnen, nicht aber dem Originaltext.) Er führte diesen Vorzug auf die Religion zurück, im Koran gebe es sowas wie "Ausländerfeindlichkeit" nicht. Jemand aus dem Publikum protestierte. Als es nach der Lesung eine Diskussion geben sollte, regte Monika Carbe an, zunächst eine Pause einzulegen. Nach der Pause war der Jurist verschwunden.
Der dritte Autor: endlich ein Dichter, ein Schauspieler obendrein, und es war mir ein Vergnügen, ihm beim Sprechen zuzuschaun, auch wenn ich die Worte nicht verstand. Irgendwie sind die mir nachher aber im Deutschen nicht hängen geblieben, ich glaube mich zu erinnern, dass es auch hier um die richtige Gesinnung ging.
Plötzlich, ganz unvermittelt, war die Zeit abgelaufen. Der deutsche Schriftsteller Alexander Pfeiffer blieb auf seiner Geschichte sitzen, wie selbstverständlich. Monika Carbe hatte noch irgendwann rasch ein eigenes Gedicht vorgetragen, dessen Inhalt mir leider auch entgangen ist, da ich erst nachher merkte, um welchen Programmpunkt es sich handelte.
Die beiden ersten türkischen Autoren jedenfalls waren offenbar zu dem Fazit gekommen, dass es "Rassismus" nicht in der Türkei, sondern nur im Ausland gibt. Von den Zypressen war nicht die Rede. Von Dialog schon gar nicht.
Frankfurt, 17. September
Wie bin ich so froh, dass ich kein Fernsehen hab, und wie sehne ich mich manchmal danach.
Nur einschalten, und die Bilder schaffen ein Dasein, das abschaltet von allem, was mich bedrängt. Manchmal erzeugen sie auch nur Ärger über Flachheit und falsche Töne - auch Ärger lenkt ab. Die Bilder nehmen dich an die Hand, und du gehst mit, wie ein Kind.
Jeder Tag, den ich ohne TV verbringe, trägt mich ein Stück näher an die Wirklichkeit. An meine eigene zuerst. Wer bin ich, was tu ich, was will ich tun. Das verändert was.
Nach außen genauso. Wenn ich Menschen sehe, dann sind es welche mit echten Augen, mit Blicken, die den meinen begegnen oder ihnen ausweichen, und sie sehen mich, wenn sie mich angucken. Nicht wie diese Fernsehleute, die immer auf so seltsam leere Weise an mir vorbeischauen.
Im Aufzug halte ich jetzt immer einen winzigen Schwatz mit den Mitfahrern, und jedesmal empfind ich das als eine eigene Begegnung, unverwechselbar, nie wiederholbar. Unendlich befriedigender als diese Serien, denen ich manchmal nachtraure: der Bulle von Tölz und Dr. House.
Momentan habe ich sehr viel zu tun, es gibt jede Menge Termine. Ich brauch jetzt kein Fernsehen, besser, ich kanns jetzt nicht gebrauchen. Und tröste mich: wenn die Zeiten wieder ruhiger werden, dann kauf ich mir einen neuen Fernseher. Will ich, will ich nicht?
Frankfurt, 16. September
Letzte Nacht konnte ich nicht einschlafen. Ich stand wieder auf, kochte mir Tee und griff zur erstbesten "London Review of Books" - ich hebe sie ja lange auf, weil die Artikel meistens auch nach zwei Jahren noch frisch und als Überraschung zu lesen sind.
Ich fand eine Besprechung von "The Slave Ship: a Human History" von Markus Rediker. Das Buch ist vor einem Jahr erschienen, als man in Großbritannien "200 Jahre Abschaffung der Sklaverei" feierte. Dass spanische und portugiesische Schiffe noch weitere 60 Jahre Sklaven nach Amerika brachten, hielten sich die Briten zugute, um das "Empire" als freiheitsliebend und tugendhaft darzustellen. Das förderte den Welthandel.
Mein Buch von heute nacht befaßt sich mit den Schiffen, mit den Notwendigkeiten des Schiffbaus, wenn Sklaven transportiert werden mußten. Kapitäne besaßen auf See die absolute Gewalt über alle Insassen des Schiffs und pflegten auch Matrosen und andere Arbeiter grausam zu bestrafen. Wenn aber schwarze Sklaven geladen waren, baute man eine Barrikade quer übers Deck. Hinter der Barrikade standen Kanonen, und hier konnte sich die weiße Mannschaft im Fall eines Aufstands in Sicherheit bringen. In dem Fall hielten alle Weißen zusammen.
Benjamin Franklin wird zitiert mit dem Satz: "Der Unterschied zwischen Sklavenhandel und anderem Handel liegt darin, dass die anderen Waren nicht rebellieren."
Rediker setzt seine Überlegungen fort: wenn auf der Überfahrt die Matrosen sich in "weiße Männer" verwandelten, so wurden aus Menschen mit verschiedenen Sprachen und Religionen, die sich ohne die Sklaverei niemals kennengelernt hätten, "schwarze Afrikaner". Die "African-American Culture", so die These, entstand nicht aus Verwandtschaft oder gemeinsamer Herkunft, sondern sie entstand zuerst auf den Sklavenschiffen. Dieses neue Gemeinschaftsgefühl ermöglichte eben auch Rebellionen.
Der Artikel schließt mit dem Hinweis auf Mischbevölkerungen, die rund um die karibischen Häfen entstanden sind: kranken Seeleuten wurde die Heimreise verweigert, so wollte man an Bord Epidemien verhindern. Die Männer mußten zurückbleiben und wurden oft von schwarzen Frauen gesund gepflegt.
Frankfurt, 14. September
Ein Sonntagmorgen mit blauem Himmel. Es weht ein starker Wind und trägt abwechselnd den Klang der Sonntagsglocken und das Dröhnen von fernen Flugzeugen an mein Ohr. Ich habe gerade einen langen Artikel über die Sklaverei gelesen. Der Autor spricht über die Seele, die man den Sklaven in Amerika austreiben wollte und die sie in ihrer "Soul Music" festgehalten haben. Er berichtet von den unvorstellbaren Strafen, denen Sklaven ausgeliefert waren, wenn immer sie sich einen Hauch von Eigensinn zuschulden kommen liessen. Wenn einer flüchtete, so war ihm eine Folterbehandlung gewiß, falls man ihn wieder einfing; gelang es ihm unterzutauchen, mußte er Techniken erfinden, die ihn unsichtbar machten. Der Autor beansprucht das Wort "Zombie" als ursprüngliche Bezeichnung für einen Sklaven, dessen Seele ermordet worden war.
Diese Seiten der Geschichte muss man sich immer wieder ins Gedächtnis rufen; denn als Weisser möchte man sie tief im Archiv verstecken und man vergisst darüber, dass sie bis heute nachwirken.
Ich entdecke auch andere Seiten, zum Beispiel fand ich diesen traumhaften Text über Kinshasa im Internet:
"Im kulturellen Umfeld von Zentral-Afrika, jenes, das den städtischen Raum von Kinshasa umschließt, haben Worte schon immer eine besondere Macht ausgeübt. Nach den Vorstellungen der Ortsansässigen muß man sprachlich auf der Höhe sein, muß mit den Worten kunstvoll umzugehen verstehen, man muß wissen, „was reden bedeutet“, um Bourdieu zu zitieren, wenn man sich sozial behaupten will. Im Übrigen ist das Reden oft die Sache der Männer. Durch seine Rhetorik zeichnet sich ein Mann aus, mit ihrer Hilfe kann er sich verwirklichen und sich von den anderen unterscheiden. Die Kunst der Rede ist das angesehenste Instrument der Selbstverwirklichung. Gleichzeitig reicht sie stets über die Dimension der Einzelperson hinaus. Im traditionellen Zusammenhang ist Reden immer ein Dialog. Von seinem Wesen her ist es eine soziale Handlung, ein Austausch mit anderen. Bei einem Palaver zum Beispiel kommt die Rede überhaupt nur als Beziehungsform vor. Sie verbindet die Menschen durch gegenseitig gespannte Fäden, sie webt soziale Welten, sie erbaut den öffentlichen Raum. In vielen Bantusprache bedeutet ein und dasselbe Wort „Palaver“ und das „Weberschiffchen“, mit dem die Bastfäden eingezogen werden. Und so wie das Weberschiffchen die Fasern von links nach rechts auf dem Webstuhl anordnet, so organisiert das Palaver die Worte, mit denen sich die Redner aufeinander beziehen und sie zu einem Teil der sozialen Ordnung werden lassen."
Ein "Palaver" bedeutete in der traditionellen afrikanischen Gesellschaft ein Gerichtsverfahren unter der Leitung von angesehenen, vertrauenswürdigen Männern, wo Streitparteien so lange mit einander reden mussten, bis der Streit beigelegt war. Die Herstellung des Friedens war das Ziel, nicht (wie bei uns) die amtliche Festlegung der Schuld. Die jungen Afrikaner sind jedoch ohne diese Tradtion aufgewachsen und kennen sie nicht mehr. Heute versucht man, neue Wege auf der traditionellen Grundlage zu entwickeln: in Südafrika waren es die Wahrheitskommissionen, in Ruanda heute die "Gacaca" genannten Dorfgerichte.
Frankfurt, 10. September
Ich arbeite viel an der Anthologie für Muepu Muamba. Es hat sich jetzt eine Ordnung gebildet, und ich habe auch schon die Kommentare geschrieben. Man braucht doch eine Einführung, man braucht Beschreibungen, man braucht ein wenig Hintergrund. Ich meine, die Leser brauchen das.
Ein Gesichtspunkt ist Belgien, wer kennt schon Belgien? Mit seinen drei Sprachen, mit seinen historisch gewachsenen Empfindlichkeiten zwischen Flamen und Wallonen, mit seinem lange Jahre nach rückwärts gerichteten Katholizismus. Die belgische Kultur hat anfänglich alle literarischen Versuche in Kongo geprägt. Das merkt man bis heute.
Alles, was ich für diese Anthologie erarbeite, bespreche ich mit dem Autor und seiner Frau. Es ist manchmal nicht leicht, sich gegenseitig verständlich zu machen. Wenn es die große Freundschaft zwischen uns nicht gäbe, wäre die Arbeit nicht zu schaffen. Wir kommen nur langsam vorwärts. Aber es geht.
Frankfurt, 3. September
Jesuiten
Im Jahr 1492 wurden die Juden aus Spanien vertrieben, und die, die nicht fortwollten, wurden vor die Alternative „Tod oder Taufe“ gestellt. Eine ganze Reihe von ihnen ließ sich taufen, und ich habe mir schon oft überlegt, was dies im 16. Jahrhundert für das christliche Abendland bedeutet hat. Die spanischen und auch die portugiesischen Juden hatten natürliche Beziehungen zu allen Mittelmeeranrainern, also einen weiteren Horizont als der gewöhnliche Pfahlbürger. Sie sprachen und schrieben im Alltag mindesten zwei Sprachen, sie waren durch ihre Religion zum Fragen erzogen, jeder und jede von ihnen. Sie hatten durch die strengen Regeln ihrer Religion eine geistige Disziplin gelernt, die den Nichtjuden oft abgeht. Das mußte doch irgendwie Folgen gehabt haben? Keiner spricht darüber.
Zum erstenmal fand ich dieser Tage eine kleine Antwort auf meine Frage im „Freiburger Rundbrief“, einer katholischen Zeitschrift für „christlich-jüdische Begegnung“. Ich las dort einen Bericht über ein Buch mit dem Titel „Jesuits Encounter Contemporary Judaism“. Ich zitiere einen Auszug: „In einem ersten Beitrag greift der junge französische Jesuit Marc Rastoin noch einmal im Detail die frühe Geschichte der Jesuiten auf: sie war dadurch bestimmt gewesen, dass nicht wenige der ersten Jesuiten „Conversi“ waren und Ignatius von Loyola sich entschieden dafür eingesetzt hatte, dass sie Zugang zu dieser Ordensgemeinschaft hätten. Aber dann hatten sich nach und nach jene Kräfte durchgesetzt, die diese Türen schlossen.“ Ab 1594 wurde ihnen der Zutritt zum Orden verwehrt.
Als „Conversi“ wurden die zum Christentum konvertierten Juden und ihre Nachkommen bezeichnet und in Spanien/Portugal jahrhundertelang diskriminiert. 1594 – das muß schon die dritte Generation gewesen sein!
Es leuchtet mir nun eher ein, wieso der Jesuitenorden sich von allen anderen katholischen Orden bis heute unterscheidet: durch intellektuellen Anspruch, durch Denkgenauigkeit, aber auch durch Bescheidenheit und Diskretion.
Oder sind das nur die beschränkten Gedanken einer Pfahlbürgerin?
Frankfurt, 2. September
Den gestrigen Tag brauchte ich, um mich vom Lärm des Museumsuferfestes am Sonntag zu erholen.
Am Samstag hatte ich ein Fest ganz anderer Art erlebt, "Kunst am Fluss" hieß es, und der Fluss war die Nidda. In einem antiken Dörfchen namens Assenheim hatten sich alle Bewohner zusammengetan, ihre Gärten und Fachwerkhäuschen geöffnet. Sie verkauften nicht nur Bratwurst, Kuchen und Getränke, nein, die Hauptsache waren die Ausstellungen und Darbietungen. Auf dem Flüsschen war ein Floß vertäut, der als Bühne diente. Vom Ufer und von der Fußgängerbrücke aus schauten die Besucher in dichten Trauben den Vorführungen der Assenheimer Theatertruppe zu. Nirgendwo im ganzen Viertel standen Lautsprecher, jene Lärmerzeuger, deren Peitschenhiebe am Main über die Rücken der Besucher knallten. Nein, in Assenheim war niemand lauter als nötig, damit er/sie von den Umstehenden verstanden werden konnte. Und die rotbackigen Äpfel leuchteten von den Bäumen. Während die Dämmerung den Himmel hinaufwanderte, wurden Teelichter angezündet, die in Weckgläsern in langen Reihen am Ufer standen. Und am Feuertisch erleuchteten die wärmenden Flammen jenen Winkel im Grünen, in dem die Autorinnen vom "Literaturclub der Frauen aus aller Welt" vorlesen durften. Freilich mußten sie das Interesse der Vorbeiwandernden erstmal zu wecken verstehen, doch es gelang! Sie - d.h. wir - lasen noch lange im Dunkeln, abwechselnd mit dem Didgeridoo des benachbarten Künstlers. (Einer der Ehemänner hielt die Taschenlampe auf die Schrift, denn auswendig rezitierten die Frauen auch nicht - wäre eine Option für die Zukunft!)
Seit langem mal wieder zum erstenmal - zum erstenmal in Deutschland - habe ich eigene Gedichte vorgetragen, mit wachsendem Vergnügen. Tuula und ich, die bis in die Dunkelheit dort geblieben waren, fuhren glücklich nach Hause: es war sehr schön in Assenheim.
Frankfurt, 1. September 2008
Vom Museumsuferfest am 31.8.
Der Main erschauert im Verstärkerlärm
den Menschen dröhnt das Trommelfell
vibriert das Becken
schreiend müssen sie sich unterhalten
oder gar nicht
Hand in Hand reicht manchmal auch
und keiner fragt warum
warum besetzt EIN Stand den Hörraum beider Ufer?
Frankfurt, den 27. August
Ich schwebe noch in den Erinnerungen des Familientreffens vom Wochenende. Einer meiner Brüder wurde siebzig und hatte seine Familie und die seiner Frau dazu eingeladen, an die 20 Menschen (und es waren gar nicht alle gekommen, die eigentlich dazu gehörten). Wir erlebten Begegnungen von stiller Heiterkeit und mit spannenden Gesprächen. Eine meiner Töchter sagte anschließend: "In der Familie meines Onkels bedeutet alles etwas, da wird nicht einfach dahergeredet. Da bedenkt jeder was er/sie sagt, und das tut so wohl! das findet man so selten!"
Für das Treffen waren wir nach Berlin geladen worden. Ursprünglich sollte es am Samstagabend ein Festessen in einem Restaurant geben. Meine Schwägerin sagte das nach einem Probeessen ab - und lud uns alle zu sich nach Hause ein. Sie haben eine kleine Terrasse, einen Garten, und das Wetter spielte mit. Immer neue Grüppchen bildeten sich um die verschiedenen Tische, draußen, drinnen, unten im Zelt oder sogar seitlich neben dem Haus, wo das Buffet aufgebaut war. Frisch geräucherter Havel-Fisch wechselte mit Rehrücken oder gegrillten Lammkoteletts ab. Eine einzige Torte kam von einem Konditor - die anderen waren alle irgendwo zuhause gebacken worden und schmeckten, wie sie sollten.
Wir sind vier Geschwister, aber der Jüngste hatte nicht kommen können. Wir hatten uns letztes Jahr einmal mit der Absicht getroffen, uns gegenseitig Kindheitserinnerungen zu erzählen. Keiner hat ja wirklich dasselbe erlebt wie der andere. Und gewöhnlich schweigen nicht alle drei, um den vierten anzuhören. Das haben wir also einmal ausprobiert, und seither hat sich etwas verändert zwischen uns, unsere Beziehungen sind persönlicher geworden. Die Brüder reden anders miteinander, das gilt für die zwei, die sich jetzt in Berlin trafen, und das gilt auch für mich in meinem Verhältnis zu ihnen. Möglicherweise aber war es doch kein Zufall, dass unser jüngster Bruder diesmal nicht kam: da lebt die Erinnerung an die Kriegszeit auf, wo er allein mit der Mutter zurückblieb, während wir drei für eine Weile in die "Kinderlandverschickung" fuhren.
Für eine Mutter ist es eine große Aufgabe, allen ihren Kindern das Gefühl zu vermitteln, dass sie gleich wichtig sind. Vielleicht zu groß. Besonders in jenen Zeiten, da den Müttern eingeredet wurde, sie müßten "Soldaten für den Führer" gebären ....
Ich wünsche mir, dass solche Erinnerungen ihr Gewicht verlieren und wir die großartige Chance der gegenseitigen Verständigung stattdessen besser nützen und Freude daraus ziehen. Eine Freude, wie ich und alle andern sie am letzten Wochenende in Berlin erlebten.
Frankfurt, den 21. August
Heute aß ich Feigen in Kriftel. In Kriftel stehen Feigenbäume. Ich sah einen, der über und über mit Früchten vollhing. Sie werden nacheinander reif, und vor mir auf dem Teller lagen einige prächtige Exemplare, grüne süße Feigen. Nicht ganz so süß wie die, welche ich vor Jahren auf dem Ölberg in Jerusalem pflückte, damals, als es dort noch frei zugängliche Weiden mit Obstbäumen gab und die Beduinen noch mit ihren Schafherden vorüberkamen. Heute ist ja alles eingezäunt dort. Der Krifteler Feigenbaum hatte einfach etwas mehr Wasser bekommen als der Feigenbaum vom Ölberg, so werden die Früchte etwas dicker. Doch das Aroma, dieser Gegensatz von Weichheit und Kernigkeit bei den frischen Feigen, das war vollständig da. Welch ein Wunder: Feigen aus Kriftel!
Doch habe ich den Tag nicht nur mit Genüssen verbracht: ich trug Faltblätter und Plakate für die Literaturtage aus. Ich machte eine Erzählung druckfertig, die ich zu einem Wettbewerb einreichen will. Ich schrieb ein Gedicht von Mahmoud Darwisch ab, das im Luxemburger "kulturissimo" an den viel zu früh Verstorbenen erinnern soll, und fügte ein paar Zeilen hinzu. Es ließe sich sehr viel über diesen größten palästinensischen Dichter schreiben, aber mir fehlt die Zeit. Vielleicht finde ich sie noch.
Ich möchte so viel schreiben, und dabei habe ich heute noch nicht mal die Zeitung gelesen! Wenn man kein Fernsehen hat, muß man doch wenigstens Zeitung lesen.
Frankfurt, 19. August
Ein Sommerregen unterscheidet sich vom Regen im Winter dadurch, dass jeder Tropfen auf ein Blatt trommelt, und so entsteht das Rauschen. Es ist laut und doch intim, zumindest wenn ich es mir aus dem Trocknen meiner Wohnung heraus anhöre. Es klingt, als baue sich mir ein eigenes Haus mit Wänden aus Rauschen auf. Es lässt sich gut atmen, und ich fühle mich, als wäre ich in Gesellschaft. Ein solcher Morgen lädt zum Arbeiten ein, zum Nachdenken, zum Aufräumen.
Oder auch zum Telefonieren mit fernen Freundinnen, die in der Sonne sitzen. Rosemarie aus der Provence erzählte von einem "Herboristen", der die ärgsten Unkräuter - "die, die ich sonst immer ausgerissen und verbrannt habe!" - in Küchenkräuter verwandelte und daraus eine köstliche Suppe kochte. "Herborist" ist in Frankreich ein Lehrberuf.
Auf meinem Balkon habe ich auch allerlei Kräuter, am stärksten duften die Tomaten. Sie wachsen gewöhnlich von selber, jedoch meistens so spät, dass sie nicht mehr recht reifen, wie jetzt, wo die Nächte schon wieder länger und kühler werden. Doch sie duften stark, und das ist mir fast genau so wichtig. Der Thymian duftet, und der Rosmarin. Ich habe so viel Petersilie, dass ich sie gar nicht alle essen kann. Ein Gemüseeintopf gewinnt doch immer an Würze, wenn ich gehackte Petersilie drüberstreue. Dazu "Fleur de Sel" aus Frankreich - ach wie gut das schmeckt!
Gestern entdecte ich, dass es Fleur de Sel jetzt auch hier am Schweizer Platz gibt, in einem Ober-Delikatessen-Laden. Vermutlich doppelt so teuer, ich muß mal fragen. Ich hatte Fleur de Sel - ein besonders feines Meersalz - in Paris entdeckt und es im Monoprix eingekauft und mit heimgebracht. Noch kann man, glaub ich, damit Freunden ein Freude machen, wenn man es als Geschenk mitbringt. Salz braucht schließlich jeder. Die Prise Salz, die den Unterschied ausmacht ...
Frankfurt, 14. August
Kaum zu glauben, dass ich schon vor vier Tagen wieder in Frankfurt angekommen bin! Es war so heimelig in Wiener Neustadt, besonders da ich immer wieder nach Wien fuhr, Freundinnen traf, Gespräche führte. Und zweimal zu Klavier-Konzerten ging, auf denen auch mein Enkel spielte. Er ist erst 14 und gehörte zu den drei Jüngsten. Viele der jungen Pianisten kamen von weit her, und für sie zählte die Musik und die persönliche Sympathie, nicht die Herkunft.
Gestern hatten wir im "Literaturclub der Frauen" eine kleine Schreibwerkstatt organisiert, mit einer Frau, die vor drei Jahren schon mal eine Werkstatt über das Schreiben von Krimis gehalten hatte. In diesen drei Jahren, so berichtete sie, hat sie angefangen, deutsch für Ausländer zu unterrichten. Offenbar hat diese Arbeit ihr den Blick auf die Welt - auf die Menschen - verschoben.
Von einer unserer Club-Kolleginnen hatte sie erfahren, dass wir an einer Anthologie über "Zweisprachigkeit" arbeiten. Die Lehrerin hatte aber "Zweitsprache" verstanden und das offenbar als normal betrachtet. Sie fragte uns nicht. Sie lud uns zu einem "Brainstorming" ein (ich weiß gar nicht mehr worüber), und zwar forderte sie uns auf, uns in eine Reihe zu stellen, geordnet nach der Länge unseres Haupthaares!!
Höflich und verwundert folgten wir ihr. Nun wollte sie Gruppen haben, indem sie selbst eins, zwei, drei zählte - nicht mal das traute sie uns zu. Die Einser, Zweier und Dreier hatten dann jeweils eine Gruppe zu bilden. Jeder Gruppe legte die Lehrerin einen fertigen Zettel mit Fragen vor, aus denen wir zwei auswählen und darüber beraten sollten. Es waren Fragen, die uns alle - wie wir nachträglich feststellten - mit Unbehagen erfüllten. Eine hieß: "Vaterland oder Muttersprache - was ist für dich richtig?" Wir fragten, was denn daran falsch sein könne, sie gab eine ausweichende Antwort. Im Gespräch verriet sie sich dann, indem sie eine dreisprachige junge Frau, die aus Marokko stammte und makelloses Deutsch sprach, fragte: welche Tabus es in ihrer "Muttersprache" für Frauen gebe. Damit war sie bei der Richtigen, eine, die gerade darauf gewartet hatte zu hören, dass alle arabischen Frauen unterdrückt werden! Freilich war auch sie zu höflich, ihrem Unmut direkten Ausdruck zu geben.
Wir waren alle höflich genug, die Stunde lang mit der Lehrerin zu gehen, allerdings verhehlten wir nicht, dass "Zweitsprache" nicht unser Problem sei. Hätte die Frau alles wieder gutmachen können, wenn sie uns ausgefragt und zugehört hätte? Ja, natürlich, aber sie tat das nicht, sie redete unentwegt zu ihrer eigenen Verteidigung!! Peinlich.
Nach ihrem Weggang diskutierten wir noch lange über das, was uns da passiert war: wir waren auf das übliche deutsche Brett vorm Kopf gestoßen, das "Ausländer" heißt, und hinter dem die Überzeugung lebt, dass "Ausländer" per se ein wenig minderwertig sind. Wieso hatte diese Frau, selbst Autorin, sich so verändert? Das blieb uns ein Rätsel.
Wiener Neustadt, 8.8.08
Was für ein hübsches Datum! acht, in acht nehmen, achten ...
Gestern erlebte ich ein ganz besonderes Konzert: der "Internationale Piano-Sommer" spielte im Amtshaus des 5. Bezirks in Wien.
Zwei hervorragende Klavier-Lehrer, einer aus Paris, einer aus San Franzisco, haben junge Pianisten aus aller Welt eingeladen, mit ihnen im Burgenland zu studieren und sich fortzubilden. Die Möglichkeit zu Konzerten gehört dazu. Gestern abend spielten ein Russe, ein Pole, japanische Amerikaner, Franzosen klassische Stücke mit äußerster Hingabe und überwältigender Technik. Seltsam, wie dieser Flügel im Festsaal des 5. Bezirk unter den Händen eines oder einer jeden Einzelnen ganz verschieden klang. Es war eine grossartige Erfahrung. Und mein 14-jähriger Enkel Emil Reinert ist auch aufgetreten.
Wie stolz seine Großmutter war, verrät sie nur diesem Tagebuch.
Sein Lehrer heißt übrigens Adam Wibrowski; er unterrichtet am Konversatorium von Paris.
Wiener Neustadt, 6. August
Heute bin ich mit dem Bus durch die Puszta gefahren, über den Fluß Leitha hinweg ins Burgenland. Es war sehr schön, zumal es so interessante Gespräche gab. Über die Schwieirgkeiten mit den "Schwarzen", dh. die weiße Bevölkerung hat die Schwierigkeiten, mein Gesprächspartner wollte darüber nicht so gern reden. Nein, die größten Schwierigkeiten hätte man mit den Türken. Den Fremden würde ständig von amtswegen ein Dolmetscher beigegeben, und so hätten sie nicht den geringsten Anreiz, deutsch zu lernen. Selbst in der Schule nicht, das wäre allen egal! die würden einfach so durchgeklopft! Der Mann verglich sie mit Analphabeten. Er schimpfte auf die "Gutmenschen", die sich nur um Sprachregelungen kümmerten ("Ausländer" sagen, stempele einen zum Rassisten), doch gar nicht darum, wie jeder Deutsch lerne. Angeblich braucht in Österreich ein professioneller fremdsprachiger Busfahrer Deutsch nicht zu sprechen und zu verstehen, um als Busfahrer anerkannt zu werden! Wie sollte der wohl imstande sein, Erste Hilfe zu leisten? fragte mein Gesprächspartner kopfschüttelnd.
Seine Klagen klangen vernünftig, und da versteht man schon eher, dass der Haider sich hier wieder mausig machen kann.
Wiener Neustadt, 5. August
Was für eine fröhliche Provinz mit langer, alter Geschichte. Die Innenstadt wie alle kakanischen Städte, ähnlich auch wie Pirna in Sachsen, (und das war ja nicht kakanisch) (es muß zwischen 1500 und 1600 in Mitteleuropa ein Grundmuster für Städtebau gegeben haben: vor allem der große viereckige Platz ist typisch.) In Pirna war alles nach der Flut von 2002 großartig und gleichmäßig renoviert, vermutlich auch nicht mit den billigsten Materialien. Diese Stadt hier besteht auch überwiegend aus renovierten Häusern, doch hat sich jeder einzeln drum gekümmert und nicht jeder hatte eine glückliche Hand dabei - in bezug auf Farben, Fenster etc. Dennoch, es sieht tagsüber lebendig aus, viele Geschäfte. Eben war ich im "kulinarischen Erbe" zum Abendessen, ein renoviertes Haus mit früher Biedermeierfassade und bestehend aus Gewölben, die aus dem Mittelalter stammen können. Sie kochen nur frisches Zeug, was hier in der Umgegend produziert wurde. Nicht billig, aber auch nicht teuer. Ich ließ mich zu Marillenknödeln verführen, und sie schmeckten!!!
Marillenknödel sind Kindheitserinnerung!! Dennoch schmeckten sie damals anders, kräftiger. Wohl mehr Kartoffeln im Teig. Diese hier waren mit Topfen gemacht.
Frankfurt, 2. August
Einmal im Monat treffen wir uns zu einem philosophischen Kreis mit Dr. habil. Klaus Wiegerling in Mörfelden-Walldorf. "Wir", das sind interessierte Laien. Über die Jahre hinweg habe ich dort vieles gelernt, sehr viel, auch wenn ich damit keineswegs "Philosophie studiert" habe. Inzwischen kann ich mir aber auch unter einem Philosophiestudium zumindest etwas Konkretes vorstellen.
Dr. Wiegerling hat sich auf "Medienphilosophie" spezialisiert, und man glaubt gar nicht, was das für ein weites Feld ist. Jüngst entdeckte er den Körper als Medium: der Mensch, in seiner Körperlichkeit, als "vermittelndes und vermitteltes" Wesen. Darüber schreibt er in "Leib und Körper", einem Buch, das einen Dialog zwischen ihm und einem Psychiatrie-Professor zum Thema wiedergibt. Beide stören sich an der Behauptung von ein paar zeitgenössischen Star-Neurologen, wonach es für den Menschen angeblich keine Willensfreiheit gäbe. Sie weisen nach, dass jene Herren sich logisch vertan haben, indem sie gewissermaßen Äpfel mit Birnen verrechneten, weil sie glaubten, Absichten und ähnliche Denkkategorien meßbar machen zu können.
Dr. Wiegerling geht die ganze neuere Philosophie durch, um dadurch seine eigenen Erkenntnisse zu untermauern: vor allem den Unterschied zwischen den Begriffen "Leib" und "Körper" arbeitet er heraus (womit er nebenbei die deutsche Sprache wieder in den Rang einer Philosophensprache erhebt, denn in anderen Sprachen gibt es diese Unterscheidung nicht). Der "Leib", das bin ich, von innen erfahren, leibhaftig gewissermaßen (welche Leibferne mußten mittelalterliche Mönche erleben, wenn sie von dem Teufel als dem "Leibhaftigen" sprachen?), der "Körper", das ist das Andere, das, was man von außen betrachtet, und das kann heutzutage sehr gut auch der eigene Körper sein, den man sich modegerecht zurechtstylt.
Was leider weder er noch sein Dialogpartner in Betracht ziehen, sind Unterschiede in der Leiblichkeit von Männern und Frauen. Offenbar haben sie Männerkörper im Sinn, wobei die weibliche Brust dem Mund des Säuglings die ersten Ich-Gefühle beschert. Hat die weibliche Brust nicht auch besondere Ich-Gefühle, insofern das Stillen der dazugehörigen Frau eine veränderte Individualität verschafft? Wiegerling bezeichnet den Körper als gleichzeitig von Natur und von Kultur geprägt, beide sieht er als untrennbar. Und doch spricht er im nächsten Absatz von sogenannten "Naturvölkern" - als ob deren Leiber von keiner "Kultur" geprägt wären?
Wohl ein typisch abendländischer Denkfehler ...
Frankfurt, 29. Juli
Durch die Stille des Ferienmorgens klingt der Schneebesen und weckt Kindheitserinnerungen. Schneebesen auf Porzellan, im Rhythmus. Als hätte meine Mutter jeden Tag Schnee geschlagen? Nein, zum Wochenende, denn Eier waren kostbar. Eigelb wurde öfter gebraucht als Eiweiß, also fand man Wege, um das Eiweiß zusätzlich zu verwenden, notfalls konnte man mit Zucker Merinken daraus backen.
Ich backe einen Brotauflauf, er steht gerade im Backofen. Wenn man Brotreste luftig aufbewahrt, dann schimmeln sie nicht, sie trocknen nur aus. Daraus stelle ich einen Brotauflauf her: ich weiche das Brot in Wasser ein, so dass es ganz weich wird. Dann drehe ich es durch irgendein entsprechendes Gerät, so dass alles gleichmäßig körnig wird, gebe Rosinen und anderes Trockenobst darunter und mit Zimtzucker gerührtes Eigelb. (Heute habe ich auch einen Schuß Sahne beigegeben, weil sie im Kühlschrank stand - mal sehen, wie das nachher schmeckt.) Alles gut verrühren, und dann vorsichtig den steif geschlagenen Schnee druntergeben, das lockert die Masse auf. Das Ganze wird in eine gebutterte Auflaufform gefüllt und in den Backofen gestellt. Mit 200 Grad habe ich wohl die richtige Temperatur.
Meine vergangene Woche stürzte wie ein Katarakt im Zeitfluß herab, ich mußte nur zusehen, wie ich die Nase oben behielt! Das achtseitige Programm für die "Hessischen Literaturtage 2008" in Offenbach mußte druckfertig werden und ich war verantwortlich. Gleich anschließend hab ich den LIT-Rundbrief, das Nachrichtenblatt für die LIT-Mitglieder, geschrieben, kopiert; beim Falten und Eintüten haben mir Freunde geholfen - das ließ die Arbeit zum Vergnügen werden.
Die Freundin erzählte: früher, nach der Kukuruzernte, saß das ganze Dorf beisammen, um gemeinsam die Maiskolben zu schälen. Haushoch lag der Berg der Maiskolben, die Schäler saßen oben drauf und erlebten, wie der Berg nach und nachzusammenschmolz, damals, in Ungarn....
Frankfurt, 21. Juli
Betrachte ich die vergangenen Tage, meine ich das Stampfen eines Schiffsmotors zu hören: mit jedem Stampfen vergeht ein Tag. Die Tage sind mit Arbeit gefüllt, und so wichtig mir die verschiedenen Arbeiten auch sind - es geht um die Vorbereitung der Literaturtage 2008 im September in Offenbach - so wenig könnte ich behaupten: das ist es, was ich jetzt am liebsten tun möchte. Immer noch sind Einzelheiten an der Programmformulierung auszufeilen; ich muß die Endkorrektur machen. Einer der türkischen Autoren ist ausgefallen, ein Hotel muß bestellt werden etc.
Zwischendurch schreibe ich eine Buchrezension. Dominic Johnson hat die politische Gegenwart der Demokratischen Republik Kongo sehr genau dargestellt, es ist lohnenswert, sich in sein Buchzu vertiefen. Zumal ich nebenher ja an einem anderen Buch arbeite: an einer Auswahl der Texte von Muepu Muamba, einem kongolesischen Flüchtling aus Frankfurt. Ich werde beiläufig zu einer Afrika-Spezialistin.
Eine Israel-Spezialistin bin ich schon. Dieser Tage berichtete ich zum zweiten Mal von meiner Jerusalem-Reise im März, es war im Wohnzimmer einer Freundin, und nachher entstand eine außerordentlich offene Diskussion unter Deutschen, über ihre besondere Position in der Nahostfrage. Diese Erfahrung bestärkt mich darin, dass ich meinen Bericht auch woanders und so oft wie möglich vortragen müßte.
Dieser Tage las ich den Aufsatz eines "Körpertherapeuten", der auch Psychoanalytiker war und der beanstandete, dass in den meisten Therapien nie über die historisch-politische Belastung der Deutschen geredet wird, ja, dass man sie sogar ausspare. Auf die Auswirkung auf den Körper achte man erst recht nicht, dabei hätten alle diese Probleme massive Auswirkung auf den Körper, auf Haltung, Beweglichkeit und Funktionen.
Und falls deutsche Therapeuten die von der Nazizeit ausgehenden Lasten erst einmal als psychische Hypotheken anerkennten, so vermute ich, würden sie auch andere historisch-politischen Lasten aus anderen Zeiten und Weltgegenden ernster nehmen als jetzt.
Ach, an Fragen fehlt es mir nicht, nur an Zeit!
Was würde ich tun, wenn ich Zeit hätte? Rausgehen, woandershin gehen, nicht ans Telefon gehen. Schauen und lauschen, auch mir selbst. Meine Träume nachzeichnen. Gedichte schreiben. Und zwischendurch ein bißchen flirten...
Frankfurt, 18. Juli
"Ich verstehe Deutschland nicht", sagt mir einer, der sich doch gern "integrieren" möchte, freilich unter Bewahrung seines Eigensinns.
Ein anderer erzählt: "Die Relativitätstheorie verstehe ich nicht. Ich meine damit, ich fühle sie nicht im Bauch. Auch wenn mir hier und da etwas davon plausibel vorkommt. Aber verstehen tu ich sie nicht."
Was ist das für ein Wort: "verstehen"? Wenn ichs vergleiche mit "versetzen", "verlegen", "versehen"? Wie ist es entstanden? Die Engländer sagen "unterstehen", und das bringt erst recht keine Klarheit.
Untersteh dich und versage!
Frankfurt, 16. Juli
Der Kerzenwachs schmolz so schnell, dass er nicht verbrennen konnte, die Kerzen tropften und rannen und liefen über auf die Tischplatte, ganz schnell waren sie herabgebrannt und eine der beiden Kerzen erlosch. Wir saßen auf dem Balkon, der Himmel war dunkelsamtblau geworden und der unvollständige Mond schien auf uns herab. Die leichte Brise war schuld am raschen Herabbrennen der Kerzen, die Flämmchen flackerten wie wild, eine ging vorzeitig aus, ich zündete sie wieder an. Jede von uns zwein stocherte an einer Kerze herum, wir hantierten mit Papierservietten, um den Wachs aufzufangen, doch er floß schneller und breitete sich auf der Tischplatte aus. Wir redeten, oder vielmehr die junge Freundin erzählte, ich fragte, hörte zu und wir pulten im Kerzenwachs und wußten nicht wie uns geschah. Ich weiss es immer noch nicht, ich weiß nur, dass die Freundin nach dem Erlöschen der Kerzen fragte, ob es nicht Zeit zu gehen wäre und ich antwortete, dass ich müde sei, worauf sie ganz erschrocken anfing sich zu beeilen und mir fast einen Vorwurf daraus machte, dass ich nichts früher gesagt habe. Nun erschrak ich über ihre Heftigkeit, ich sah ihr beim Abschied nach, sie wirkte traurig, ja, enttäuscht und ich fühlte mich hilflos. Der wilde Anblick der Kerzenstümpfe im silbernen Leuchter spiegelte mir meinen Zustand: Sprachlosigkeit. Alles ging viel zu schnell.
Frfankfurt, 15 Juli
I.
Ich war verreist. Zwei amerikanischen Freunden, einem Ehepaar, habe ich Luxemburg gezeigt.
Mit Begeisterung zeige ich Luxemburg jedem, der sich ein wenig für Geschichte interessiert, der Ästhetik schätzt und gern gut ißt. Martha und Terry interessierten sich für alles, was ich ihnen vorführte: die Oberstadt mit ihren Gäßchen, Plätzen und dem Boulevard. Die Unterstädte und die Wege dorthin über schmale, steile Kopfsteinpflaster oder im Aufzug oder auf Zickzack-Pfaden. Das Museum für die Geschichte der Stadt oder das Landesmuseum für Geschichte und Kunst. Beide präsentieren sich von einem gläsernene Aufzug aus, der wie durch die Jahrhunderte gleitet, an gebauten Steinen und gehauenen Felsen entlang. In zweieinhalb Tagen kam ich nicht völlig durch mit meinem Programm, so viel gäbe es in der Stadt zu erzählen und anzuschauen. Am dritten Tag wollte ich hinaus: ja, wir fuhren nach Südbelgien, durch Arlon, nach Virton bis zur Festung Montmédy im heutigen Frankreich, einer Bilderbuch-Zitadelle aus der alten Zeit, als Luxemburg noch Teil der spanischen Niederlande war. Durch herrliche unverdorbene grüne Landschaft – seit über zwanzig Jahren war ich nicht mehr dort, und es erschien mir alles wie früher. Unverändert und doch wohl erhalten: die Landstraßen, die Wälder, die Straßendörfer. Solches Vergnügen machten uns alle die Entdeckungen, dass uns um zwei Uhr ein Hunger zu Bewußtsein kam, ohne dass ich einen geeigneten Ort wußte, ihn zu stillen. In Avioth werkelte ein Bouquiniste vor seiner Haustür, ich sprach ihn an, fragte um Rat. „Drei Kilometer von hier finden Sie eine kleine Auberge“, und schnalzend hob er die Finger. Wir bekamen eins der köstlichsten Drei-Gänge-Menus meines Lebens für 12 Euro pro Kopf („La petite Auberge“ in Thonnelle). Danach zurück zur Wallfahrtskirche nach Avioth: gotisch, einer Madonna gewidmet, die vor 500 Jahren totgeborene Kinder zum Leben aufzuerwecken verstand, zumindest für soviel Zeit, wie zur Taufe notwendig war. Von dort war der Weg nicht weit zurück nach Belgien, zum Kloster Orval, wo Bier gebraut und Käse hergestellt wird. Einer der Zisterziensermönche wachte über den Laden, und an ihn wurde ich verwiesen, als ich fragte, ob ich die Käsesorte, die zur geschmacklichen Verbesserung mit Bier getränkt worden war, dennoch einem ehemaligen, trockenen Alkoholiker würde vorsetzen können. Das freundliche und doch leicht ironische Lächeln im Gesicht des Mannes, seine klugen, durchdringenden Augen, aus denen Zuwendung und Lebensklugheit sprachen, sagten mir schließlich mehr als seine Worte, die nicht ganz Nein und nicht ganz Ja bedeuteten.
Meinen amerikanischen Freunden gefiel der Mönch auch.
II.
Luxemburg besteht natürlich nicht nur aus Geschichte und Landschaften, es leben auch die verschiedensten Menschen dort. Ich kenne noch von früher eine ganze Reihe von ihnen, mit manchen bin ich befreundet. Einige habe ich in der vergangenen Woche getroffen, und meine amerikanischen Freunde waren besonders glücklich über jede persönliche Begegnung.
Die Luxemburger allerdings schienen nicht versessen darauf, Amerikaner kennenzulernen, und seien es meine Freunde. Meine zwei besten Freundinnen waren immerhin bereit, mit uns aus essen zu gehen, und zwar in jeweils ihr bevorzugtes Restaurant. Im einen Fall durfte ich einen Gegenvorschlag machen – wir trafen uns dann mit Edmée in der Brasserie Neumünster – im andern Fall nicht. Meine zweite Freundin hatte einen Tisch in dem gerade hipsten Lokal an der Mosel bestellt, und als ich ihr am Abend zu erklären versuchte, dass wir zu müde seien für eine Fahrt an die Mosel und – wegen des guten Essens bei Avioth – auch gar keinen Hunger mehr hätten, und ich sie in die Hotelbar einlud, war sie ungehalten und wollte mich überhaupt nicht mehr treffen, sondern lieber mit jemandem anders an die Mosel fahren. Mir wäre es vor allem um die Begegnung gegangen, ihr ging es offenbar ums schicke Ausgehen. Während die erste Freundin, Edmée, die Begegnung in Neumünster mit einer Einladung zum Aperitif zu sich nach Hause erwiderte, reagierte eine dritte Freundin, die Künstlerin ist, mit dem schieren Ignorieren meiner amerikanischen Gäste. Sie waren ihr nicht hip genug. Luxemburg in seiner Enge und in seinem Wohlstand ist ein schwieriges Land. Die Menschen reden oft nicht miteinander, lieber hinterrücks. Ich hörte von einem Architektenpaar, das seinem Gast, einer entfernten Verwandten aus dem Ausland, vorwarf, die Treppe im Haus verkratzt zu haben, weil sie diese Treppe mit Schuhen betreten hatte. Die Szene erinnerte mich an meine Studentenzeit und entsprechende Zimmerwirtinnen. Das war vor vierzig Jahren in Saarbrücken. Und dort hatten die Vermieterinnen vorher ausdrücklich verlangt, dass man die Schuhe ausziehe. Hier wagte man offensichtlich nicht mal das. Aber wieso heutzutage ein Architekt in seinem Haus eine Treppe besitzt, die zerkratzbar ist, in einer Familie mit Kindern, das übersteigt mein Verständnis. So wie vor einem Jahr, als ich telefonisch bei einer renommierten luxemburgischen Konditorei für mein Patenkind eine Geburtstagstorte mit Kreditkarte bestellen wollte – es ging nicht. Vor lauter Mißtrauen gegen Ausländer wurde ich erst gar nicht durchgestellt zu jemandem, der mit Kreditkarten umgehen konnte. Nur bei Geschäftsleuten, die mich noch von früher kennen, darf ich telefonisch etwas bestellen.
Andererseits muß ich sagen: Edmées Einladung zum Apéritif gestaltete sich so formvollendet, so gastfreundlich, so warmherzig, dass meine amerikanischen Freunde richtig froh waren, auch einmal bei einem richtigen Luxemburger zuhause gewesen zu sein. Und ich auch.
Frankfurt, 3. Juli
Die Hitze träufelt mir von der Stirn. Vögel singen neue Lieder. Sommer ist es.
Ich entdecke den Namen "Ziryab". Manchmal heißt er auch "Zaryab". Der Mann lebte im 9. Jahrhundert und war berühmt als Musiker und Sänger. Seine Kunst hatte er in Bagdad gelernt, und als er seinen Lehrer übertraf, mußte er gehen. In Cordoba empfing man ihn mit offenen Armen. So wurde er zum Zivilisator Andalusiens: er gab der "'ud" eine fünfte Saite, er erfand das Drei Gänge-Menu, er richtete Kosmetik-Salons für Damen ein - das sind nur ein paar Aspekte seines Schaffens. Er war ein Schwarzer.
Laurent Mignon, der heute lebt, der aus Arlon stammt und in Ankara Französisch schreibt, verfaßte das Gedicht von dem "Zerbrochenen 'Ud". Der, die oder das Ud ist eine Art von Laute.
Ich versuche das Gedicht ins Deutsche zu übersetzen. Vorher war mir das Wort "Ziryab" noch niemals begegnet.
DIE ZERBROCHENE UD
zögern und doch voran
schreiten, Seiltänzer, habe ich mich
auf die Saiten verirrt einer zerbrochenen
Laute die Melodien aufleben läßt
aus dem vergessnen Andalusien
Ziryab und Garcia Lorca
sind ein und derselbe Traum
und mein Lied
ein fernes Echo
Frankfurt, 27. Juni
Siebenschläfer - mit viel Sonne, Wind, die meiste Zeit. Kein Regen bis jetzt, es ist halb sieben. So stehen die Chancen für den Sommer noch gut.
In einer Stunde werden Elinor und ich aufbrechen zu einer Ausstellungseröffnung mit Vortrag über "Kunst und Natur - Natur und Kunst". Der Künstler ist Kunstprofessor und ein sehr guter Freund von einer guten Freundin von mir. Er heißt Til Neu. Elinor lernt tüchtig Deutsch, sie geht jeden Tag in den Unterricht - aber ob sie den Ausführungen des Professors wird folgen können? Mal sehen, wie diese bebildert sind. Sie hat zwei Jahre lang die Kunstklasse in ihrem Gymnasium besucht, so versteht sie mit ihren 14 Jahren schon allerlei davon, mehr als von der deutschen Sprache.
Es hat mit diesem sehr lieben Besuch zu tun, aber auch mit dringenden Arbeiten für die "Literaturgesellschaft Hessen", dass ich so lange nicht an meinem Webtagebuch weiter schreiben konnte. Das Programm der Literaturtage war auszuarbeiten, ja, ja, ich werde noch davon berichten.
Gestern hörten und sahen wir "Don Giovanni" in der Frankfurter Oper, die Musik und die Sänger waren hinreißend, es hat auch Elinor gefallen. Sie war vorher noch nie in der Oper. Und was Don Giovanni bedeutet, was er will, das versteht die 14jährige schon sehr gut. Die Gestik fand sie allgemein übertrieben und unnatürlich. Mir gefiel das Bühnenbild nicht, zu dürftig. Aber das bedeutete nicht viel, neben der prachtvollen Musik!
Morgen besuchen wir Heidelberg.
Frankfurt, 20. Juni
"Schufladowatsch" sagen die Polen zum Schubladendenken, erläuterte Gesine Schwan, "und sie haben recht damit". Welch ein Vergnügen, ich hab das eben auf Youtube gehört, und finde es so recht erheiternd vor dem Schlafengehen. Gesine Schwan nutzt das bevorstehende Jahr des Wahlkampfes um das Amt des Bundespräsidenten, um ihren Standpunkt unters Volk zu bringen! Die soziale Wirtschaft im Kapitalismus und die inhaltliche Diskussion in der Politik, damit sie auch in Globalen bestehen kann. so ungefähr. Schulfladowatsch klingt doch zu schön - aber wissen die Leute, was Schubladendenken ist?
Ich sprach vor kurzem mit Studentinnen, sie nannten sich stolz "Kulturwissenschaftlerinnen", und sie konnten sich keine Literatur vorstellen, die NICHT per Kategorie zu ordnen sei. Ihre Lieblingkategorie war Popkultur.
Anders die Ausstellung bei Arte Giani in Frankfurt, wo derzeit auch die Zeichnungen meiner Tochter Pascale hängen. Es ging und geht dort um "Bilder, die erzählen", der Betrachter hat selbst die Worte für das zu finden, was die Bilder der sechs vorgestellten Künstler erzählen, und auch die Galeristin fand bei ihrer Eröffnungsrede eigene Worte und gebrauchte keine Klischees, um ihr Konzept zu beschreiben. Das gefiel mir. Sie stellte unter "Erzähl mir! Raconte-moi! Tell me" die Werke gänzlich verschiedener Künstler aus.
Frankfurt, 18. Juni
"Eine unnötige Erweiterung des Textbegriffs" - Frau Garzetti, die Leiterin des Literaturhauses, kommentierte mit diesen Worten die diesjährige Verleihung des Friedenspreises an einen bildenden Künstler, für seine Buchskulpturen und für Installationen, die sich irgendwie "auf große Texte " beziehen. Ja, nötig war diese Entscheidung gewiß nicht, doch ist sie nicht sogar gefährlich? Wenn man statt eines Buches, das man umblättern und lesen kann, nur noch das Bild von einem Buch betrachtet, führt uns das nicht zurück in die Jahrhunderte des Analphabetismus, da man den Christenkindern die heiligen Texte in Glasfenstern vorführte? Unendlich schöne Bilder waren das, wenn ich an Chartres oder an Straßburg denke, man kann sich für Stunden in sie hineinversenken, in meditationsähnlichen Zuständen. Sie sind nur deswegen entstanden, weil das Volk nicht lesen konnte. Sie waren aber zumindest allem Volk zugänglich. Das wird man für den Friedenspreisträger und seine Werke nicht sagen können.
Stellt also die diesjährige Verleihung des Friedenspreises eine Rückkehr zum Analphabetismus her?
Frankfurt, 14. Juni
Die Landeszentrale für politische Bildung in Rheinland-Pfalz lud nach Mainz ein zur Vorstellung des "ersten binationalen Geschichtsbuchs". Band eins war schon 2006 erschienen, nun kam Band zwei; er umfaßt die Geschichte von 1815 bis 1945. An der Abfassung der Bücher beteiligten sich deutsche und französische Fachleute. In der Einladung stand die Frage: "Der 'Schlußstein' für die deutsch-französische Annäherung?"
Diese Frage, die einen Fachausdruck aus dem Gewölbebau benutzt, um eine 'Annäherung' zu beschreiben, die ja definitionsgemäß nie vollendet ist, hatte ich beim Überfliegen der Einladung nicht bemerkt, sie hätte mich stutzig machen müssen.
Die deutsch-französischen Beziehungen sind zu sehr Teil meines eigenen Lebens, so bedaure ich nicht, nach Mainz gefahren zu sein. Was ich jedoch fand, war eine Werbeveranstaltung des Verlages. Die Lehrer seien frei, das Buch zu kaufen. So frei wie die Lehrer, die es verfaßt hätten. Die "Freiheit", die da immer wieder betont wurde, roch irgendwie - nach PR.
In Band eins hatte man das Vorwort von Zuständigen aus den Ministerien, von Mitgliedern der "Expertenkommission", die die Abfassung begleitet hatten, und vom Jugendparlament verfassen lassen. Vom Jugendparlament sei die Initiative ausgegangen. In Band zwei nun war im Vorwort nur noch vom Jugendparlament die Rede, obwohl die beiden anderen Gremien genau wie beim ersten Band mitgearbeitet hatten. Sie wurden aber nicht mehr genannt, weil den potentiellen Käufern suggeriert werden sollte, dass es keine "politische" Einflußnahme gegeben habe. Jemand fragte: und wer hat die Verfasser ausgewählt? (Es sind zwölf Historiker, sechs auf jeder Seite, die selbst als Lehrer arbeiten.) Die Verlage! Die deutsche Verlagsvertreterin erläuterte, man habe die üblichen Mitarbeiter herangezogen, diesmal jedoch nur solche, die Französisch konnten. Mehr war nicht zu erfahren.
Was ist das für ein Geschichtsverständnis, wenn die Abfassung des Geschichtsbuches selbstverständlich den Verkaufsinteressen der Verlage untergeordnet wird?
Ich habe nur den Verlagsprospekt mit nach Hause genommen, nicht das Buch. Im Prospekt werden weder Verfasser, noch Übersetzer genannt. Ich habe auch schon einen Fehler gefunden: "Leopold II. gibt den Kongo an Belgien zurück, 1908". Belgien hatte den Kongo nie gehabt, dieser war bis dahin, dem Namen nach, ein unabhängiger Staat gewesen, mit Leopold II. als König. Ab 1908 befand sich der Kongo unversehens im Status einer Kolonie. Aber der Kolonialismus ist nicht Thema des deutsch-französischen Geschichtsbuchs. Eine Konzession an französische Empfindlichkeit? Dafür haben die Deutschen sich bemüht, die deutsche Methodik des Geschichtsunterrichts durchzusetzen. Der deutsche Redner des Abends wies mit spitzen Fingern auf jene Stellen hin, bei denen das nicht gelungen war. Man hörte seiner Stimme an, wie hinterwäldlerisch die französischen Methoden nach seiner Meinung waren.
Manipulation und Überheblichkeit, das war, was ich als vorherrschend empfand. Die Deutschen lehren ihre Schüler, so hab ichs verstanden, aus wie vielen Gesichtspunkten man Geschichte betrachten kann, sie lehren das lieber als Geschichtswissen.
Frankfurt, den 13. Juni
Heute habe ich im Prettlack'schen Gartenhaus zu Darmstadt öffentlich einen neuen Text gelesen als eine von vieren, wir präsentierten den "Literaturclub der Frauen aus aller Welt". Der kleine Saal war fast voll, und es herrschte ein reges Interesse an dem, was wir vorlasen. Keine von uns hätte mit so viel Reaktionen, Fragen, ja, Aufgeregtheit gerechnet beim Publikum über das, was wir zu sagen hatten. Mit dem Thema Mehrsprachigkeit scheinen wir einen Nerv zu treffen. Da es nun auf Deutsch abgehandelt wird, kann ja auch jeder folgen.
Dr. B. war mit seiner Frau auch gekommen, ein Luxemburger, wohnt und lebt seit langem in Darmstadt. Er begab sich gleich in der Pause mit der schönen jungen Fouzia Taipi in einen Winkel, um ihr klar zu machen, dass sie in ihm den richtigen Lehrer finden würde, um richtig sprechen zu lernen. Sie hatte ihre klugen "Gedichte" ein wenig zu rasch vorgelesen. Hatte sich aber auch entschuldigt: es sei ihre allererste öffentliche Lesung. Nach der Lesung fragte Dr. B., was mir Luxemburg bedeute. "Ich habe mein halbes Leben dort verbracht!" Er wollte, dass ich ihm "einen kleinen Text" gebe, er würde dann was draus machen. Ich richtete mich in voller Größe auf und sagte halb ernst, halb scherzend: "Meine Texte mach ich selber!" Da erst verstand ich aber, dass er einen Artikel über mich und Luxemburg fürs "Bliedchen" schreiben wollte, das Nachrichtenblatt der Luxermburger in Rhein-Main. Dafür brauchte er ein paar Daten. Ich wies ihn auf meine Webseite hin.....
Wir waren zu fünft vom "Literaturclub" da: Außer Fouzia und mir noch Lori Tengler, Radka Krasl und Tuula Gress. Nur Tuula hat nicht gelesen, es war nicht genug Zeit. Der Gartenmeister des Prinz-Georg-Gartens gewährte uns nur eine Stunde, danach MUSSTEN wir ganz schnell raus, und bitte zur Straßenseite hin! Alle Vier kamen wir sehr gut bei den Zuhörern an, es klang alles vernünftig, witzig oder anrührend, was wir vortrugen - welch eine Erfahrung, wenn die eigenen Worte von den Reaktionen eines gescheiten, aufmerksamen und wohlwollenden Publikum begleitet werden! Sie - die Worte - bekommen ein ganz anderes Gewicht.
Ein Mann wollte noch einen kleinen Einführungsvortrag über Mehrsprachigkeit hören! Ich versprachs fürs nächste Mal. Mir wurde wieder klar, WIE wichtig es ist, seine Texte zu Gehör zu bringen. Das kann man gar nicht oft genug machen.
Frankfurt, den 11. Juni
Le Monde von gestern titelt: „Wie Sarkozy die Schlacht gegen die Richter gewonnen hat“. Eine Siegesmeldung. Es ging darum, dass Sarkozy schon als Innenminister einen Richter hatte persönlich belangen wollen, durch dessen Beschluß ein ehemaliger Gewalttäter aus dem Gefängnis entlassen worden war, der danach wieder mordete. Chirac und die Justiz hatten damals verhindert, dass ein Regierungsmitglied sich in das Rechtswesen einmischte.
Sarkozy ist nun allmächtiger Präsident von Frankreich und kann Gesetze nach seinem Gusto machen. Sein Standpunkt: die Justiz sei zuerst für die Opfer da. Die Linke, so warf er den Sozialisten im Wahlkampf vor, kümmere sich nur um die Täter, nicht um die Opfer. Seit August 2007, so lese ich, hat er schon mehrere Gesetze eingebracht, die das geltende Recht nach seiner Vorstellung ändern. Er verfügt in der Nationalversammlung über eine ausreichende Mehrheit. Demnächst wird in Frankreich die „Sicherungsverwahrung“ eingeführt, nach der ein Krimineller auch nach Verbüßung seiner Strafe bis zum Lebensende eingesperrt bleiben kann, was es bis dato noch nie in Frankreich gab. Ein Rechtsdenken nach dem Geschmack „de l’opinion“, wie es in Le Monde heißt, der „ Volks-Meinung“, man könnte aber auch „Stammtisch“ sagen. Oder „die Wirtschaft“. Wirtschaftsvergehen sollen demnächst milder bestraft werden als bisher.
Und Le Monde titelt „Sieg“! Nicht: „Niederlage der Richter“. Nicht: die Justiz in den Fängen der Politik (diese Idee taucht erst in einem Unterabsatz auf Seite 10 auf). Nicht: Egalité zieht den Kürzeren.
Egalité, die Gleichberechtigung aller Menschen, ist ja überall in Gefahr. In Deutschland hat der Vorsitzende der Jung-CDU verlangt, dass „Leistungsträger“ (d.h. Personen, die über Geld verfügen) bei öffentlichen Wahlen zwei Stimmen erhalten, während „Harz-IV-Empfänger“ u.ä. bei ihrer einen Stimme bleiben sollen!
Leistung wird zu einem Horrorwort. Auf dem Flughafen las ich eine übermenschengroße Anzeige mit dem Slogan „Leistung ist unsere Leidenschaft“ – eine Bank will damit die Menschen überzeugen, dass sie ihr alles Geld anvertrauen sollen. Grade jetzt nach dem großen Börsensturz!
Getreu dem alten Spruch: „Leidenschaft bringt Leiden“!
Frankfurt, den 8. Juni
Heute wende ich mich der Kunst zu: am 18.6. wird in Frankfurt eine internationale Ausstellung unter dem Titel "Erzähl mir - raconte-moi - Tell me" eröffnet. Die Ausstellung soll von dem "Erzählerischen im Bild" handeln.
Wir erleben die hohe Zeit des Gegenständlichen, wie es scheint!
Zwei Frankfurter Künstler nehmen daran teil, unter ihnen die Malerin, Zeichnerin und Schriftstellerin Alissa Walser. Eine Künstlerin kommt aus Berlin, ein Künstler aus London und ein anderer aus Montreal in Kanada. Eine Künstlerin aber kommt aus Paris, sie heißt Pascale Velleine und ist meine Tochter.
Sie wird zusammen mit dem Kanadier "Ästhetik, Konvention und Arbeitsprozess des Comic" behandeln.
Die Galerie Arte Giani befindet sich im Kettenhofweg, nicht weit vom Opernplatz. Die Vernissage beginnt um 18,30 Uhr. Ich freue mich sehr darauf. Unter anderm auch deswegen, weil hier Literatur und Kunst sich auf Augenhöhe bewegen und nicht die Kunst das Buch in eine Metallguß- Skulptur verwandelt, wie anderswo.
Frankfurt, den 7.Juni
Wer in den letzten 50 Jahren den "Friedenspreis des deutschen Buchhandels" bekam, der hatte Bücher geschrieben und veröffentlicht, Bücher, die dem Frieden dienten. Geschrieben hatte er, nicht gemalt. Er oder sie hatte Texte in Wortsprache verfaßt, in einer Sprache, die literarisch war oder auf der Höhe der Literatur.
Zum erstenmal erhält den international so renommierten Friedenspreis dieses Jahr ein Maler, Anselm Kiefer, der auch Skulpturen hervorbringt, insbesondere anscheinend solche, die "die Form des Buches" haben. Von ihnen behauptet der Stiftungsrat, sie seien "ein entscheidender Ausdrucksträger". Seine Installationen spielten "unentwegt auf große Texte an". Präsentierten die "Sprachlosigkeit".
Bei dieser Nachricht hat mich ein Schwindel erfaßt, die Welt taumelte einen Moment vor meinen Augen. Geben jetzt auch die Buchhändler schon die Literatur auf? Die Wiege der Sprache, diesen Schmelztiegel von Worten, Fantasien, Erlebnissen, diesen Strom, der Bewußtsein schafft, der Wege wahrnehmen und neuen Sinn finden läßt?
Freilich, die Marktleute haben in den letzten Jahren einen neuen literarischen Preis ausgeschrieben, den deutschen Buchpreis. Er wird für einen Roman vergeben, der voraussichtlich eine große Leserschar anzieht, auch in Amerika oder sonstwo in der Welt. Einer, der sich gut verkauft. Der überhaupt nicht als politisch aufgefaßt werden muß, rein der Unterhaltung dient.
Nun mag sich ja auch Herr Kiefer den Frieden zum Ziel gesetzt haben. Was schreiben die Buchhändler dazu? Kiefer habe "das Diktat der unverbindlichen Ungegenständlichkeit der Nachkriegszeit" überwunden. Ja, waren das nicht die Banken und der Kunstmarkt, die Ungegenständliches wollten? Und schlagen die Moden nicht immer wieder um? Gab es da nicht auch andere, Bacon oder Freud, die sich immer ans Gegenständliche hielten und dafür jahrzehntelang als Geheimtipps galten? Soll das Wort "Diktat" suggerieren, dass Herr Kiefer seinerseits in der Nachkriegszeit noch mal die vermaledeite Diktatur besiegt habe?
Kiefer agiere "als genialer, bewußter Eroberer" - kriegerisch muß die Sprache heute sein, um der Rüstungsindustrie zu gefallen! - also ein "Eroberer, der die Mittel einer texturreichen, expressiven Malerei an sich reißt" - soll das heißen, er habe abgekupfert? er habe die Technik anderer Maler übernommen? wessen? - er habe sie "in die eigenen Bildwelt transferiert" - aha, tröstlich, er hat auch eine eigene Bildwelt.
Den Buchhändlern erscheinen seine "monumentalen Folianten aus Blei" als "Schutzschilde" ... "gegen den Defätismus, der Buch und Lesen eine Zukunft abzusprechen wagt".
Mit dieser Preisvergabe errichten die Buchhändler ein Monument ihres eigenen Defätismus.
Frankfurt, 6. Juni
Fortsetzung zu London Review of Books:
Die Zeitschrift liest sich nicht wie ein Roman. Nach jedem Artikel, manchmal auch schon nach ein paar Absätzen, muß ich das Blatt beiseite legen, so sehr überwältigen mich der neue Gedankengang, die unerwarteten Argumente, der Kenntnisreichtum, die Weite des Horizonts - ich muß erstmal Atem schöpfen. Wenn ich die Zeitung dann nach ein paar Tagen wieder aufgreife, habe ich manchmal alles Gelesene vergessen, muß wieder von vorn beginnen, lasse mich wieder einfangen, erinnere mich jetzt an dieses und jenes, das Ganze wird klarer, vielleicht auch trivial, gelegentlich. Manche Artikel vergesse ich nach Jahren nicht, so etwa die Berichte aus dem Irak von jemandem, der sich oft dort aufhielt und das Vertrauen der Leute hatte. Vor dem Irakkrieg berichtete er über die vollständige Abwesenheit von Massenvernichtungswaffen. Vor zwei Jahren über den internen Bürgerkrieg. Jetzt schon lange nicht mehr - wahrscheinlich wäre auch er jetzt seines Lebens dort nicht mehr sicher. Man weiß ja, dass die Reporter von einem Computer-Platz in Amman, Jordanien, oder in Dubai aus berichten, weil es in Irak zu gefährlich ist. Die LRB hat Korrespondenten in Frankreich, sie liebt französische Bücher (übersetzt, natürlich), ich bekomme durch sie einen ganz anderen Blick auf die Franzosen. Natürlich spielen die USA eine erhebliche Rolle, aber auch Deutschland taucht immer wieder auf, wunderbar, dieser fremde Blick. Die LRB ist nie marktschreierisch, sie mobbt nicht, nie reduziert sie Gedankengänge auf das Niveau von Fernsehtauglichkeit. Sie stellt Neuerscheinungen in einen größeren Zusammenhang, sie kennt Staunen, Freude, auch Ärger und Ablehning, doch immer begründet, nie hämisch.
Seit ich die LRB lese, geht es mir besser. Ich finde dort immer wieder Moment des Glücks.
Frankfurt, 2. Juni
Ein Lob auf die London Review of Books vom 22. Mai 2008
Auf der letzten Seite eine Anzeige für das Buch "In defence of lost causes" von Slavoj Zizek, diesem globalisierten Provokateur. Sie beginnt mit einem Zitat, in das ich mich sofort festlese: "Das Zeitalter der großen Erklärungen ist vorbei. Wir sollten nun nicht mehr nach alles erklärenden Systemen und nach weltweiten Emanzipationsprojekten streben. Statt der gewalttätigen zwangsweisen Einführung von Großen Lösungen sollte man sich Formen eines spezifischen Widerstandes und des Erfindungsreichtums zuwenden. ... Wer ein Mindestmaß von Sympathie bei der Lektüre dieser Zeilen verspürt, sollte nicht weiter lesen und das Buch weglegen. Dieses Buch widmet sich ohne jede Scham dem 'messianischen' Standpunkt eines Kampfes für weltweite Emanzipation. (Slavoj Zizek)" (Übersetzung von mir)
Die Annonce allein reicht schon zum Nachdenken - nicht nur über die darin aufgestellten Behauptungen, sondern auch darüber, wie es Zizek gelingt, meine Aufmerksamkeit zu fesseln. Er stellt Gegensätze auf, die in Wirklichkeit sehr gut nebeneinander bestehen können!
Über diesen Gedanken fang ich an zu blättern, lese mich wieder fest. In England ist eine neue Übersetzung von Tolstois "Krieg und Frieden" herausgekommen. Der Rezensent befaßt sich indes nicht nur mit Übersetzungsfragen - dieser Teil allein würde schon die Lektüre wert sein! - sondern auch mit dem Roman selbst, mit der Geschichte, in die er hineingesetzt ist, mit der Philosophie, auf deren Grundlage Tolstoi seine Charaktere anlegt, mit verschiedenen Romanformen und den Meinungen verschiedener Gelehrter dazu, und das alles ist so spannend und unterhaltsam, dass ich im Nu alles um mich herum vergesse. Schildert Tolstoi besser als andere "die Wirklichkeit"? Zum Schluß bliebe mir nur übrig, das Buch selbst wieder zu lesen, um mir eine eigene Meinung zu bilden. Ja, wenn ich Russisch könnte...! Wie sagt Michael Wood, der Rezensent? "Wenn wir die Originalsprache nicht kennen, können wir auch nicht über die Übersetzung reden; wenn wir sie kennen, ist die Übersetzung nicht vor allem für uns angefertigt worden." (Übers. von mir)
Fortsetzung folgt
Frankfurt, den 31. Mai
Ein Summen empfing mich auf der Fressgasse, ein hoher lauter Ton, der den ganzen Raum zwischen den Häuserzeilen erfüllte. Menschen, unzählige Menschen saßen oder standen, aßen, tranken, redeten - und kein Auto dazwischen, kein Motor, und in der frühen Abendstunde, in der ich vorbeikam, dröhnte auch noch keine Musik. ("Musik", möchte ich am liebsten schreiben, denn das Lautsprechergebrüll will sich mir einfach nicht als Musik zu erkennen geben.)
Ein großes Beben schien die Luft zu bewegen. Die Stimmung erinnerte mich an den alten Freund, der nun schon so lange fort ist: er wäre hier sofort wieder in einen Rausch geraten, dieses Abheben und dieses Hinströmen auf EIN Ziel, das geheime Ziel des Abends: die Kopulation. Ich schaute die Essenden, die Trinkenden an: sie sahen versunken, tief beschäftigt aus.
Mein Ziel war nicht die Fressgasse: ich ging zum Club Voltaire. Das ist eine Kneipe in einem alten Haus mit knarrenden Holztreppen, in einer Seitengasse. Im Erdgeschoß liegt die Kneipe, im ersten Stock ein Saal, im zweiten Stock ein Saal. In diesen Sälen versammeln sich Leute, denen an einer Weltveränderung gelegen ist. Im zweiten Stock wollte man sich heute der Frage widmen: "Koch muß weg - aber wie?"
Das Land Hessen ist gegenwärtig ohne Regierung. Der Landtag konnte sich seit zwei Monaten nicht auf eine Koalition einigen. Die alte Regierung führt die Geschäfte weiter. Zwar hat sie keine Mehrheit, aber darauf scheint es nicht mehr anzukommen. Es gibt jetzt schon Mehrheitsbeschlüsse des Landtags, deren Ausführung von der Regierung gar nicht in Angriff genommen werden. Die Abschaffung der vor einem Jahr eingeführten Studiengebühren zum Beispiel. Diese haben den Nachteil, dass sie arme Studienanwärter abschrecken. Sie müßten Schulden machen, um studieren zu können, 20.000, 30.000 Euro! Wegen der dazugehörigen Zinsen würde für sie das Studium ohnehin teurer als für vermögende Kommilitonen, die bar zahlen können.
Dies und vieles mehr erfuhr ich an dem Abend. Einberufen hatten die Versammlung alte Linke, die sich schon lange mehr oder weniger von den Parteien zurückgezogen hatten, enttäuscht, frustriert, und die sich nun Gedanken um den "Wählerwillen" machten. Der "Wählerwille" war ihnen wie eine Person, und der "Wählerwille" kann kein Patt gewollt haben, argumentierten sie. Auch "die Partei" behandelten sie in ihren Reden wie ein ganzheitliches Wesen, das sich zu Entschlüssen durchringt, durchringen muß, und sie dazu zu treiben mit irgendwelchen Aktionen, das war das Ansinnen der Wortführer. Mit "die Partei" waren abwechselnd die SPD und Die Grünen gemeint. Über die "Linke" wurde auch viel geredet, offenbar schien sich mit der niemand verbunden zu fühlen, man spottete sogar mit Witzen über Trotzkisten. Eine Frau tadelte solche Reden mit "zurück zum Thema! Ich bin doch nicht hier, um über 'die Linken' zu reden!" und erhielt eilfertige Zustimmung.
Jemand, dem man zutraute, dass er es wisse, gab der Erwartung Ausdruck, dass der gegenwärtige provisorische Zustand in Hessen noch anderthalb Jahre anhalten werde, nämlich bis zur nächsten Bundestagswahl. Zum Schluß einigte man sich auf die Vorbereitung einer großen öffentlichen Veranstaltung im Herbst, auf der "die Parteien" zur Rede gestellt werden sollten. Eine Adressenliste ging um.
Nachher saß ich noch lange draußen auf der Gasse, zusammen mit jungen deutschen Türken, wir versanken ins Gespräch, waren tief mit uns beschäftigt. So wurde auch ich noch ein Teil des großen Summens.
Bad Kreuznach, den 22.Mai
Soviele Vögel: eine Blaumeise tunkt ihren Schnabel tief in ein Milchkännchen. Danach gräbt sie den Schnabel in den Kuchenrest und fliegt davon. Dieser Kopfputz, dieses Blau! und dazu die putzige Flinkheit.
Später, auf einer anderen Terrasse, beobachte ich den Silberreiher. Wie heißt "Reiher" noch auf Französisch? Edmée fällt es als erster ein: héraut. Er streckt seinen Kopf so unnachahmlich in die Höhe.
Die Nahe rauscht, und die Enten tummeln sich im Abendlicht. Die einen rudern eilig dahin, einen Wellenkeil hinter sich lassend. Andere fliegen über den Himmel. Zwei gurrende Stockenten verstecken sich im Blumenbeet, während ich im Park vorbeigehe. Ich lass mich noch bei den Salinen nieder: der Sprühnebel weht leis im Kreis - die Abendbrise dreht sich.
Sind es Lerchen, die vom andern Ufer jubeln? Ein Buchfink, hier im Baum, auch Amseln. Und Spatzen von der Mauer.
Es ist für einen Moment, als brauchte ich nicht mehr zum Leben: Flußrauschen, Vogelgesang, Gespräche mit der Freundin. Ein gutes Bett erwartet mich.
Morgen fahre ich wieder heim.
Frankfurt, den 17. Mai
Gestern verbrachte ich den ganzen Tag im "Uni-Campus Westend", wie die Ansage im Bus lautet, in der Abteilung der Geisteswissenschaften der Joh.-Wolfg.-v.-Goethe-Universität Frankfurt, wie es auch heißt. Mit andern Worten: Im ehemaligen IG-Farben-Haus, einer architektonischen Besonderheit, darum auch als "Poelzig-Bau" nach dem Architekten benannt. In den 20er Jahren war dieses Haus das größte jemals erbaute Bürohaus. Und es ist, mit dem Garten rundherum, von einer Schönheit, dass ich mich nie daran sattsehen kann. Freilich darf man nicht vergessen, dass IG Farben eine mächtige Rolle bei der Unterstützung Hitlers und in den Vernichtungslagern während des Krieges spielte.
Diese dunkle Seite der Schönheit wurde uns bei der Tagung noch mal extra deutlich: die Tagung handelte vom Antisemitismus in Deutschland und Frankreich. In drei Rundtischgesprächen - eins morgens, zwei nachmittags - sprachen Gelehrte aus beiden Ländern zu den Themen "Antisemititsmus und Geschichte", "Antisemitismus und Migration" und "Antisemitismus und Erziehung". Die "Geschichte" erwies sich als das interessanteste Thema. Die "Migration" wurde immer wieder auf Islamismus reduziert, und bei der "Erziehung" gerieten sich zwei Referentinnen fast in die Haare: zwei Französinnen, eine gehörte zur "offiziellen" jüdischen Vertretung (LICRA), die einen Vertrag mit dem französischen Staat hat und daher in den öffentlichen Schulen auftreten und gegen Antisemitismus kämpfen darf, die andere kam von der "Jüdischen Union für Frieden" (Union juive pour la Paix) und wollte auch das Schicksal der Palästinenser mit in die geschichtliche Darstellung einbeziehen, d.h. sie tat es und wurde deshalb angegriffen.
Die deutschen Gelehrten vermochten ihre Geübtheit im Umgang mit Shoa und Antisemitismus durch Ruhe und Klarheit einzubringen und hielten sich fern vom Nahostkonflikt. Unmittelbar behalten habe ich einige Ausführungen eines Freiburger Professors, Marks hieß er, der folgendes sagte: Man muß unterscheiden zwischen Schuld und Scham. Schuld ist ein Faktum, Scham ist ein Gefühl. Schuld kann man abtragen. Auf ein Gefühl nimmt man nicht so leicht Einfluß. Bei jungen Menschen überwiegt manchmal die Scham alles andere, weil sie so oft erniedrigt, mißachtet, geringgeschätzt worden sind. Sie können irgendwann die Scham nicht mehr ertragen und setzen sie in Gewalt um oder in Selbstverachtung etc. Der Professor bringt in Fortbildungen die Lehrer dazu, den Unterschied zwischen Schuld und Scham zu begreifen und einzusehen, dass sie die natürliche Scham ihrer Schüler achten lernen müssen, wenn daraus nicht eine pathologische Scham mit unberechenbaren Folgen entstehen soll.
Allein dieser Gedanke war den Besuch der Tagung wert. Ausgerichtet hatten sie das Institut francais, das Fritz-Bauer-Institut und die romanistische Abteilung der Universität. Es war die letzte große Veranstaltung von Bruno Peyrefitte, der viele Jahre das Institut francais in Frankfurt geleitet hat und diesen Sommer nun leider, leider fortgeht.
Frankfurt, 15. Mai
Freundschaft, Familie, Zugehörigkeit - anscheinend sind das Werte, die im subsaharischen Afrika an oberste Stelle gesetzt werden, höher als Recht , höher auch möglicxherweise als Vernunft.
Aber was versteht man schon unter "Vernunft". Im Deutschen, meine ich. Das Wort wird obsolet...
Ja, die Wörter! Eben zankte ich mich mit einem, der das Wort "Illusion" gleichsetzte mit "angenehmen Fantasien"! Anscheinend ist das eine Floskel der 68er. Schlamperei!
Auch mir hier, im suprasaharischen Frankfurt, stellt sich eben die Frage, ob Freundschaft wichtiger sei als Sprache. Oder ob ich einen Weg finde, um doch noch beide miteinander in Einklang zu bringen. Amen.
Frankfurt, 13. Mai
Ameisen mögen keine Zitrone. So sagt mir eine Gevatterin, die es von einer andern hat. Legt man ihnen Zitronenstückchen in den Weg, dann verschwinden sie. Ja, sie suchen sich einen andern Weg, wie ich leider feststellen mußte über die Feiertage. Jetzt lauf ich schnell richtiges Gift zu kaufen, so geht das nicht weiter. Freilich zwingt einen eine Ameisenplage auch zu mehr Sorgfalt, das schmutzige Geschirr muß sofort gespült werden, darf nicht stehen bleiben. Schon nach einer Stunde entdecke ich Horden von Ameisen auf Messern und Tellern - mit welcher Geschwindigkeit sich die bewegen, das habe ich vorher noch nie erlebt. Als hätten sie schon, seit sie sich in meiner Küche niedergelassen haben, dazugelernt! Ich wische sie gnadenlos mit dem feuchten Tuch in den Ausguß, und mir scheint wirklich, dass die Viecher nach ein paar Tagen so schnell geworden sind, dass ich sie mit dem Tuch nicht mehr erhasche, oder nur ein paar. Nun werden alle Ecken und Winkel ausgesaugt, ausgewischt und überall Gift gelegt. Notfalls geh ich zum Essen solange in die Pizzeria. Für Ameisen gilt kein Tierschutz. Da heißt es: die oder ich. Wer's nicht glaubt, muß "Hundert Jahre Einsamkeit" lesen. Übrigens ein spannender und unterhaltsamer Roman.
Seit ich kein Fernsehen mehr habe, lese ich abends Romane. Im Moment am liebsten die von Wilhelm Raabe. Der schrieb vor hundertfünfzig Jahren Fortsetzungen für "Westermanns Monatshefte", kennt sich daher mit Unterhaltsamkeit aus. Mit dem Unterschied zu heutigen "U-Produkten", dass er gleichzeitig gescheit, witzig und wissensreich schreibt, ohne Klischees oder Schlagwörter. Seine Welt ist das Deutschland von 1860 bis 1880, aber ob Ihrs glaubt oder nicht, er ist absolut aktuell! Was der so alles über die die politischen Vorgänge verlauten läßt! Mit dem "Hungerpastor" hatte ich angefangen, der von einem Schusterjungen handelt, welcher mit großer Hartnäckigkeit und immensem Fleiß den Aufstieg zum Pfarrer schaffte. "Hunger" bedeutete: Wissenshunger! Analoge Schicksale gibts heute bei den Immigranten. Bei Raabe treten auch viele schöne Frauen auf, wir erfahren von Liebesgeschichten und Flirts, lernen verrückte Charaktere kennen und lesen von einfühlsam beschriebenen Beziehungen.
Frankfurt, 8. Mai
Es will mir nicht aus dem Kopf: die Abschätzigkeit, mit der das Wort "Naivität" gebraucht wurde. Ich weiß, auch in Deutschland hat man sich im letzten Jahrzehnt gern über Leute lustig gemacht, indem man sie "naiv" nannte.
Ich war letzten Montag bei einem Vortrag über "Jeckes in Haifa". "Jeckes" nennt man in Israel jene Flüchtlinge aus Deutschland, die in den 30er Jahren wegen der Naziverfolgung nach Palästina kamen und sehr große Mühe hatten, sich dort einzuleben. Es waren studierte Leute, sie wußten, "was sich gehört", sie hatten ihr bisheriges Leben nach den Regeln des deutschen Bürgertums ausgerichtet, und von denen wollte in Israel keiner was wissen. Sie sprachen Deutsch, und Deutsch war zu jener Zeit nicht erwünscht. Im heutige Israel fängt man jedoch an, sich auch wieder auf die Vorzüge der Jeckes zu besinnen, auf das, was sie für den entstehenden Staat Israel getan haben: das Rechtssystem geordnet, die Wirtschaft angekurbelt. Nur in der Politik bekamen sie keine Einfluss.
Heute gibt es keine Jeckes-Kultur in Israel mehr, sagte der Referent, ein Anwalt aus Haifa, ganz entschieden. Er selbst sei einer der ganz wenigen, die als Jeckes-Kinder noch Deutsch könnten, er war stolz auf sein Deutsch. (Obwohl er den Dativ konstant ignorierte und im Akkusativ nur noch eine Form des bestimmten Artikels kannte, das "die"). Seine Kinder haben sich geweigert, Deutsch zu lernen.
Bislang gebe es noch keine akademische Untersuchung über diesen Anteil der israelischen Bevölkerung, ihren Umfang, ihre soziale Zugehörigkeit, ihre Bedeutung etc. Er selbst wollte auch nur aus seiner eigener Erfahrung erzählen. Die Jeckes seien fleißig, gründlich, ehrlich gewesen, schilderte er. Und dann die Steigerung: und naiv! aber sowas von naiv! Eine unglaubliche Naivität! Zum Beispiel hätten sie ihre von Deutschland erhaltene Wiedergutmachung vollständig ihrem Kibbuz übertragen!! Der Anwalt schüttelte sich leise vor Spott und Verwunderung....
Ich wunderte mich auch: War es nicht die Voraussetzung für Kibbutzmitglieder, dass sie allen Besitz abgaben? Und war es nicht bis in die 90er Jahre hinein in Israel überhaupt verboten, ein ausländisches Konto zu besitzen? Ist es "naiv", wenn man sich an die Gestze hält? Vielleicht haben sich außer mir im Publikum noch mehr Leute gewundert. Aber gefragt hat keiner.
Frankfurt, 4. Mai
Mein erster öffentlicher Reisebericht (über meine Israel-Reise im März) ist gut gelaufen. Ich hatte allerlei Befürchtungen gehabt: dass niemand käme, oder dass ich angegriffen würde. Beides traf nicht ein.
Einen Massenandrang hatten wir, das Café Wiesengrund und ich, freilich auch nicht zu ertragen: es kamen zehn wißbegierige Besucher. Mit denen ergab sich anschließend eine intensive und aufmerksame Diskussion. Das Ziel meines Vortrags war: die Komplexität der Verhältnisse in Nahost bewußt zu machen und den Mut zum Ertragen solcher Komplexität zu stärken, ohne dass Gleichgültigkeit aufkommt. Mir scheint, dass mir das mit diesem Publikum einigermaßen und für den Moment gelungen ist. Eine Dame allerdings, sie war erst nach Beginn meines Vortrags behutsam hereingekommen, verließ den Raum nach schätzungsweise nach 15 oder 20 Minuten wieder, und zwar sehr laut. Was ging in ihr vor? Ich berichtete in dem Moment gerade über das Dorf Silwan, einen Staddteil von Jerusalem, der sich gegen das Vordringen von jüdischen Siedlern zu wehren versucht (siehe auch www.4silwan.org). Wenn der Umstand, dass ich über die Not der Palästinenser von Silwan gesprochen habe, ihr Unbehagen verursachte, warum blieb sie nicht, um das zu sagen? Aber vielleicht ging sie ja auch aus einem anderen Grunde fort.
Sie hätte sonst noch hören können, welche Freude ich am Staat Israel ansonsten habe, und dass ich eine Handvoll Jubiläumshefte von der Deutsch-Israelischen Gesellschaft mitgebracht hatte.
Die Lebensbedingungen der Palästinenser machen niemandem Freude, das ist auch gewiß. Es gibt keinen Grund, darüber zu schweigen. Der Vortrag heute hat mir Mut gemacht, ihn auch anderswo zu halten.
Frankfurt, 3. Mai
Mählich, allmählich wird es wärmer. Wie aus dem Nichts stehen plötzlich die Kastanienkerzen aufrecht da, der Flieder blüht.
Gestern traten in der Zentralbibliothek von Frankfurt zwei türkische Autoren auf, als Vorhut der Buchmesse im Herbst, wo die Türkei sich als Gastland präsentiert. Es waren Frau Kivilcim und Herr Topuz, zwei Romanautoren, die ihren Lebensunterhalt als Journalisten verdienen. Frau Kivilcim hatte einige Jahre aus Deutschland berichtet, Herr Topuz arbeitete 24 Jahre in Paris als Leiter der UNESCO-Initiative für die freie Verbreitung von Informationen. In der anschließenden Diskussion sagte Herr Topuz etwas sehr Kluges: In früheren Jahren mußte man um Meinnungs- und Pressefreiheit kämpfen. Heutigentags gehe eher die Ausgewogenheit verloren, weil mächtige Organisationen sich in der Nachrichtenwelt vordrängen, weil jeder Reklame wünscht (und zahlt).
Davon abgesehen, war alles klug, was er und Frau Kivilcim sagten, und das beste: sie hatten eine überaus elegante, sachverständige und unermüdliche Dolmetscherin, die abwechselnd als solche oder als Moderatorin wirkte - und die das "ich" der Moderatorin ausdrücklich und klar vom "ich" der Dolmetscherin unterschied! (Dieses Bewußtsein fehlt sonst häufig. ) Kein Wunder: sie arbeitet an der Mainzer Uni als Dozentin im Fachbereich Angewandte Sprachwissenschaften!
Herrn Topuz geht es in seinen Romanen um die Realität zur Zeit der Osmanen - manche Konservativen daheim verherrlichten jene Epoche völlig zu Unrecht! Frau Kivilcim schrieb einen Roman über Jugendliche, die auf der Straße leben, und keiner nimmt sie wahr. Sie hat sich über ein Jahr mit den wirklichen Straßenkindern befaßt, mit ihnen geredet, ihr Vertrauen gewonnen. - Beide Romane gibt es noch nicht in Deutschland; die vorgelesenen Abschnitte waren von Frau Dr. Bahadir, der genannten Dolmetscherin und Moderatorin, ins Deutsche übertragen worden und machen sehr neugierig auf den Rest. Frau Kivilcim setzte große Hoffnung in die Buchmesse und die Mögllchkeiten des Kennenlernens, die dadurch entstehen. "Wir öffnen euch die Tür zu unseren Herzen, indem wir euch unsere Bücher zeigen," sagte Frau Kivilcim den Deutschen. Den Deutschen im Allgemeinen, denn das Publikum bestand doch in der Mehrheit aus Deutschtürken. Es war ein äußerst angenehmer Abend.
Frankfurt, 1. Mai
Die Luft hat nicht mehr als 10° C, doch die Sonne scheint. Vom Himmel dröhnen die Hubschrauber, wie an jedem 1. Mai, und erinnern mich daran, dass ich rechtzeitig zum Römerplatz aufbrechen muss, damit ich dort den VVN-Stand besuchen kann. Am Römerplatz treffen sich alle Gewerkschaftsanhänger, aber au<iframe style="height: 337px; width: 100%;" class="editorIframe" src="javascript:void(0);"></iframe>ch die SPD kommt mit Fahnen, und ich weiß nicht, wer noch. VVN bedeutet Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, und am 10. Mai soll ich, auch auf dem Römerplatz, für die VVN an die Schriftstellerin Hanne Kaufmann aus Frankfurt erinnern. Das wurde vorgestern verabredet. Renate Chotjewitz, deren Idee das war, und ich durften bei einer Vorstandssitzung dabei sein, um die Einzelheiten zu besprechen. Renate wird über andere Frankfurter Schriftsteller berichten, z.B. über Herminia zur Mühlen, die vor '33 sehr berühmt war.
So geschieht fast jeden Tag etwas. Vor einer Woche - noch nicht erzählt? - erlebte ich die Verleihung des Georg-Christoph-Lichtenberg-Preises an Peter Kurzeck in Darmstadt mit. Die Feier fand im Kreishaus Darmstadt-Dieburg statt, denn dieser Kreis hat den Preis ausgeschrieben. Peter Kurzeck wurde unter dem Gesichtspunkt geehrt, dass er in dem breiten Erinnerungsstrom, den seine Bücher darstellen, viel über Hessen, genauer Süd-Hessen geschrieben hat. Der Laudator hob aber, sehr zu recht, den allgemeingültigen und literarischen Charakter von Kurzecks Werken, hervor, der ja in letzter Zeit auch in allen großen Zeitungen gewürdigt worden war.
Der Ort der Preisverleihung beeindruckte mich: ein riesiges Beton-Haus im Brutalostil der siebziger Jahre, gelegen zwischen Schrebergärten und Wohnsilos.
Nach dem Ende der Laudatio bin ich hinausgehuscht, weil ich an einem Autorinnentreffen in Frankfurt am selbsen Abend teilnehmen wollte. Die Veranstaltung war nicht zu Ende, und mir fällt siedend heiß ein, dass ich gar keine Gelegenheit hatte, dem Peter persönlich zu dem Preis zu gratulieren! Wie hole ich das nach? Ich war sehr froh, bei der Verleihung anwesend zu sein, denn Peter Kurzeck ist doch einer der größten unter den hessischen Schriftstellern. Warum außer Renate und mir keiner gekommen war, ist mir ein Rätsel.
Oder auch nicht. Schriftsteller träumen immer bloß von Solidarität, sie üben sie nicht aus....
Frankfurt, den 27. April
Haben Sie, habt Ihr schon die "Impressionistinnen" gesehen?
"Die Impressionisten", die uns in der Schule gezeigt wurden, in deren Malstil wir eingeführt wurden, als erlebten wir eine Initiation - als begänne ein neuer Lebensabschnitt, wir waren wohl vierzehn damals - diese Maler des Impressionismus waren Männer. Wohl malten sie Frauen, gern mit üppigen Kleidern oder auch nackt, aber nirgendwo sahen wir eine malende Frau, und noch viel weniger hörten wir von einer. Die Idee als solche lag Anfang der fünfziger Jahre ferner als der Mond.
Nicht, dass man uns nicht ein bisschen zeichnen liess, wir bekamen Noten dafür, die eine oder die andere wurde auch als "begabt" bezeichnet, doch hätte man wirklich zeichnen oder malen wollen, hätte man natürlich Privatunterricht nehmen müssen, ohne Aussicht auf Anerkennung.
Die Malerinnen, die gegenwärtig in der Frankfurter Schirn unter dem Titel "Impressionistinnen" ausgestellt werden, besaßen eine gründliche Ausbildung, ihre Professionalität setzte niemand in Zweifel. Was sie malten, wurde öffentlich ausgestellt und zwar gleichberechtigt neben den Gemälden derjenigen Männer, die wir heute noch als die "Impressionisten" kennen. Sie bekamen Kritiken, manchmal Verrisse, wie jene, meistens aber Lob, wie jene auch. Sie verkauften ihre Bilder. Und diese Bilder wurden aufbewahrt und in acht genommen.
Der Beweis: sie hängen nun in makelloser Pracht an den Wänden des Kunstmuseums. Von Berthe Morisot allein 150 Stück! Darunter Gemälde von so großer impressionistischer Schönheit, so kam es mir vor, dass all die Männerbilder, die ich kannte, dahinter verblaßten. Nachher las ich im Faltblatt, das einem in die Ausstellung mitgegeben wird, dass auch damals schon mancher Kritiker sie als die Größte betrachtete, als "die einzig wahre Protagonistin dieses Stils".
"Damals", das waren die letzten zwanzig Jahre des 19. Jahrhunderts, das war Paris. Die andern drei Malerinnen der Schirn heißen Mary Cassat, Eva Gonzalès und Marie Braquemond. Alle besitzen ihren eigenen Stil, ihre Themen - wenn gleich alle sich stärker ihre Sujets aus dem Rahmen der eigenen Familie holen als die Männer. Aber nie sind die Frauen-Porträts von dem Wunsch nach Gefälligkeit oder lasziver Anziehung geprägt. Nein, die gemalten Personen haben Eigensinn, wirken oft ernst, manchmal melancholisch. Besonders auffällig die Betrübtheit in den Gesichtern der drei Menschen auf dem Gemälde "A la Terrace de Sèvres" von Marie Braqemond. Es ist ihr berühmtestes, und es strahlt einen unvergleichlichen Glanz aus; die Volumen sind auf eine ganz unerwartete Weise verteilt und der Betrachter weiß doch: so MUSS das Bild aussehen.
Haben Sie, habt Ihr "die Impressionistinnen" noch nicht gesehen? Bis 1. Juni läuft diese Ausstellung, also Beeilung bitte. Sie wird anschließend nur in San Francisco (USA) gezeigt! Die meisten Bilder stammen aus Privatsammlungen, und dahin werden sie auf Nimmerwiedersehen zurückwandern.
Ich werde sie mir vorher bestimmt mindestens noch einmal anschauen. In Frankfurt, in der "Schirn".
Frankfurt, 20. April
Dieser Tage ging ich auf eine Beerdigung. Begraben wurde ein Schriftsteller meines Alters, der wenig veröffentlicht hat und von dem man nicht sagen kann, er sei "erfolgreich" gewesen. In den Trauerreden von drei Freunden und einem Bruder wurde das Talent des Mannes gepriesen, eine gewisse Einmaligkeit des Schriftstellerischen herausgearbeitet. Die Redner sprachen auch viel über sich selbst, über gemeinsame Erinnerungen aus den Anfangszeiten der Republik. Über Trinkgelage und Verabscheuung von Bürgerlichkeit. Der Bruder erwähnte, dass "nach dem Krieg" der Vater längere Zeit "arbeitslos" gewesen sei. Bei mir dachte ich: das Wort existierte damals gar nicht, und jeder konnte Arbeit finden, es gab genug. Unterlag der Mann vielleicht einem Berufsverbot, weil er sich zu sehr mit den Nazis eingelassen? Wäre das nicht eine wichtige Erfahrung für den zehnjährigen Sohn gewesen, die ihn geprägt hatte und die man hätte erwähnen müssen?
Kurzum, die Reden bestanden hauptsächlich aus Verschleierungen. Die ärgste Verschleierung aber erkannte ich nachher darin, dass keiner von den Herren die Verdienste der Ehefrau des Verstorbenen auch nur erwähnte. Alle waren sie schon bei ihr zu Gast gewesen, sie hatte mit ihrer Berufstätigkeit den Haushalt getragen, sie hatte den Bettlägerigen lange gepflegt - nicht ein Wort!!
Viele Trauergäste begleiteten den Sarg zum Grabe. Es war ein tief gefühlter Abschied. Ich denke noch darüber nach, wovon wir Abschied genommen haben - nicht nur von unserem Freund, dem Autor, glaube ich.
Frankfurt, 19. April
Mein Wochenende ist "Feldenkrais" gewidmet. Der Dr. Brändli lehrt Anatomie, er hatte uns schon letzten Oktober damit begeistert. "Anatomie" für Feldenkrais-Lehrer, das bedeutet, selber ausprobieren, das bedeutet, selber erspüren, wie die Muskeln verlaufen oder wann sie sich dehnen und zusammenziehen. Sich bewußt machen, was "Dehnungs-Reflex" bedeutet, auch wenn das Wort nicht im Pschyrembel, dem medizinischen Wörterbuch, steht. Die Erfahrungen, wenn sie denn den gewünschten Weg nehmen, laufen darauf hinaus, dass wir, oder unsere Klienten, die einfachste, angenehmste, ausgeglichenste Muskelspannung finden. Wir als Lehrer finden sie zuerst, nämlich bei Dr. Brändli im Seminar, und anschließend zuhause, und dann können wir sie, nicht ohne Empathie, an unsere Klienten weitergeben.
Ich selbst übe die "Funktionale Integration" nicht aus, oder nur selten bei guten Freunden. Damit ist eine Art persönliche Behandlung gemeint. Ich gebe vielmehr Gruppenunterricht, was auf feldenkraisisch "atm" heißt oder Awareness through Movement. Doch gilt das gleiche Prinzip für beide Formen unserer Arbeit, wonach man sich durch Bewegungen deutlicher seiner selbst bewußt werden kann, wenn man die Bewegungen aufmerksam und ohne Über-Anstrengung ausführt. Das wachsende Bewußtsein bewirkt, dass man sich leichter, oft auch schmerzfreier bewegen kann. Meistens bekommen die Bewegungen auch einen größeren Umfang oder werden klarer. Allein lernt man das nicht, es bedarf eines Lehrers aus Fleisch und Blut.
Dr. Brändli ist ein solcher Lehrer, und er trägt nicht nur die Namen der Muskeln an den Fingerspitzen - ja, dieser Psoas, hier ist er! - er bringt uns auch immer wieder zum Lachen, zum Miteinander-Lachen (im Gegensatz zum Übereinander-Lachen, dieser widerwärtigen Gewohnheit mancher Menschen), und so rast die Zeit dieses Wochenendes dahin, von insgesamt 18 Stunden bleiben uns noch sechs und ich würde am liebsten weitermachen, Tag für Tag, bis auch ich alle Muskeln an den Fingerspitzen spüre, sie in meine Vorstellung so tief versenkt habe, dass ich sie bei andern jederzeit erfühle, sie ansprechen, mit ihnen dialogisieren kann. "Grüezi sagen", nennt Brändli den Anfang von so einem Dialog.
Glaube nur niemand, die Sache habe mit Esoterik zu tun. Es geht bei Feldenkrais um das Skelett, um Muskeln, um das Nervensystem, um die Schwerkraft! Und um Beziehungen, ja, das schon auch. Ist doch normal, oder?
Frankfurt, !5. April
Zwei Menschen, die mir nahestehen, haben heute Geburtstag: Herzlichen Glückwunsch, Ben! Möge das kommende Jahr Dir viele neue Freuden und Freunde bringen! Herzlichen Glückwunsch, Rebekka! Mögest Du Dir Deine Lebhaftigkeit, Deine Zärtlichkeit und Deine Neugier bewahren!
Und nun wieder raus den Blick, auf die Straße: da sehe ich eine BILD-Zeitungsreklame, die behauptet, dass Adam nicht von Evas Apfel probiert hätte, wenn BILD ihn hätte auf die Gefahr aufmerksam machen können. Wie dumm, diese Reklame! Sie vergißt, dass Adam ja gar nicht lesen könnte, wenn er nicht vom Apfel der Erkenntnis gekostet hätte! Nicht lesen, nicht schreiben, er würde nichts wissen, nicht neugierig sein - ja ich frag mich, ob er nicht schon längst vor Langeweile gestorben wäre? Aber die Reklame benutzt außerdem als Illustration das süße, erfrischende Gemälde von einem ganz berühmten Maler - Lukas Cranach? Hans Holbein? - und gibt sich so einen Anstrich von Gebildetheit. Na, sowas. Hat vermutlich mit dem Fernsehen zu tun, wo man in Quiz-Sendungen Millionär werden kann.
Ich lebe jetzt ohne Fernsehen und höre manchmal Radio. Oft stelle ich aber rasch wieder ab, weil mir die unsensible Sprache auf die Nerven geht. Die Ohren werden so viel empfindlicher, wenn sie nicht durch Bilder abgelenkt sind.
Frankfurt, 14. April
Gestern sah ich mir den Film "Kirschblüten" von Doris Dörrie an, weil darüber in einer Runde intelligenter Frau gesprochen worden war. Ist der Film sentimental? wurde gefragt, und wenn ja, kann man das positiv bewerten? Außer der Fragestellerin kannte niemand den Film.
Mir tut es nicht leid, ihn gesehen zu haben, obwohl ich ihn als nur halb gelungen betrachte. Er trug die Chance zum richtig großen Kitsch in sich, erhebend, zu Tränen rührend, wie er stellenweise war, schöner Kintopp. Die Geschichte begann im deutschen Alltag, im perfekten Spießbürgerdasein eines alternden Paares, ja mit einer ärztlichen Todesdrohung (noch höchstens drei Monate!) für den Ehemann, an die Ehefrau gerichtet, die selbst entscheiden sollte, ob sie die Prognose ihrem Mann mitteilte oder nicht. Absolut allein gelassen - sagt sie nichts. Niemandem. Auch den Kindern nicht. Niemand fragt, alle sind mit sich selbst beschäftigt.
Leider spielt die Ehefrau (Hannelore Elsner) ihren Part von vornherein überzogen - die Elsner bringt einfach die ewige Nur-Hausfrau des kleinen Beamtenhaushalts nicht rüber, sie ist zu stark, zu elegant, zu ausdruckslustig. Sie weiß als Figur immer, was sie will - sie kann die Spießbürgerin einfach nicht glaubhaft machen, sie wirkt unecht. So muß es einen nicht verwundern, dass die beiden angeblichen Spießbürger zuletzt ihr Leben wie alternde Schauspieler nutzen: mit Tanz, Schminke und tiefem Ausdruck. Schön wars trotzdem.
Doch wer kümmert sich um den tatsdächlichen Spießbürger mit seinen kleinen fixen Ideen? Denjenigen, der "Diese Asiaten!" ruft, oder "Die Juden interessiert doch nur das Geld, aber das darf man ja nicht sagen!" oder das Glaubensbekenntnis ausspricht:"Ich bin Fan von Frankfurt Eintracht!" und darauf mit innigem Verständnis rechnen darf? Eventuell auch mit ruppiger Abgrenzung? Wer nimmt den ernst? Nur die Bildzeitung?
Frankfurt, 13. April
Schlaffer, Heinz - so heisst ein Literaturkritiker aus Deutschland, der möglicherweise der Gerechteste, der Feinfühligste, der Kundigste von allen ist. Er schreibt auch selbst Bücher, und in den letzten Tagen war ich seiner Studie über Nietzsche verfallen: "Das entfesselte Wort". Es geht darin um "Stil", und was Nietzsche mit Hilfe des "Stils" erreichen wollte und posthum auch erreicht hat: den Unterschied zwischen Wort und Tat verwischen. Wie machte er das?
Schlaffer geht in seiner Antwort auf die Frage von einem Vorwort aus, das Nietzsche zu einer seiner letzten Schriften, "Der Fall Wagner", verfaßt hat. Schlaffer wählt eine Passage daraus aus, und anhand dieser enthüllt er Nietzsches Kniffe und Tricks, durch die es möglich wurde, dass er einige Generationen von Denkern, Dichtern, Kulturpolitikern in seine Gewalt brachte. Auch das zeigt Schlaffer. Er beginnt mit einem Zitat von Ingo Schulze, dem scharfsinnigen, ostdeutschen Beobachter, über den Vorrang von Zahlen vor der Sprache und endet mit einem Zitat von Brecht, wo dieser als einziges Verb das Wörtchen "ist" benutzt. Vorher aber: "sprach Zarathustra"!
Jeder, der schreibt, müßte Schlaffers Studie lesen. Sie ist ein Omnibus, der aus dem Land der Vorurteile hinaus fährt... Befreiung!
Für mich selbst hab ich noch eine Erkenntnis aus der Lektüre gewonnen: ich verstehe nun, warum man in Deutschland, um als "literarisch" zu gelten, gern einen affektierten Ton annimmt. Als Kind ließ ich mich auch von den Nazi-Dichtern Löns, Vesper und Konsorten verzaubern, aber den Stil erkannte ich später als verlogen und mied ihn. Heute beeindrucken mich die Engländer mit ihrer klaren, fröhlich schwingenden Sprache am meisten, sie nehme ich mir zum Vorbild.