Tagebuch Sommer 2007

Frankfurt, 16. Oktober

Beim Frühstück genieße ich immer meine Marmelade, meist selbst gekochte.  Mit der Butter auf dem Brot gehe ich gewöhnlich sparsam um, doch die Marmelade häufe ich, so hoch sie nur hält!

Ich denke mir immer neue Kombinationen von Marmelade aus, aber ich liebe auch die alten Rezepte. Grad eben wurde wieder ein Töpfchen Zwetschgen-Mus fertig: reife oder noch nicht ganz reife Zwetschgen aufschneiden, den Kern entfernen und die Früchte mit dem Fruchtfleisch nach unten in den Topf geben. Auf ganz niedrigem Feuer und zunächst mit einem Deckel drauf simmern lassen, sobald es brodelt, den Deckel abnehmen. Damit der Dampf abziehen, die Früchte zu Mus einkochen können. Dieses Mus schmeckt auch ohne Zucker, weil die Zwetschgen selbst süß genug sind, meistens jedenfalls (in Luxemburg waren die Zwetschgen immer süß, von dort her habe ich auch das Rezept). Heute habe ich zwei Löffelchen Honig hinzugefügt und freu mich nun schon auf morgen früh, wenn ich mir das frische Zwetschgenmus auf die gebutterte Brotscheibe häufen kann....

Heute abend beginnt mein neuer Feldenkrais-Kurs! Ich freue mich drauf.

 

Frankfurt, 20. Oktober

Heute morgen glänzte zum ersten Mal Raureif auf dem Nachbardach. So werde ich mein "Sommertagebuch" heute abschließen.

Hier noch zum Schluß ein Brief, den ich gestern abschickte:

"Frankfurt, den 19.10.2007
An den DGB, Frankfurt, Abt. Vorsitzender
Betrifft: DGB-Veranstaltung „Spanischer Bürgerkrieg“ (10.10.07, zur Buchmesse)

Liebe Kollegen,
Die Idee eines Konferenzzyklusses über den Spanischen Bürgerkrieg, insbesondere aus katalanischer Sicht, seine Auswirkungen in Frankfurt und die besondere Beachtung jüdischer Beteiligung daran erschien mir verlockend, und so fand ich mich voller Erwartungen ein. Ich sah Büchertische mit einschlägiger Literatur – auch das ein Vergnügen.
Doch dann begann die Veranstaltung mit der Erklärung, dass die Beiträge der Redner leider um die Hälfte gekürzt werden müßten, weil die Dolmetscherin sie ja übertragen müsse. Wie ist das möglich? dachte ich, da kommen die Katalanen über mehr als 1000 km und dürfen nicht reden, weil keine Simultanlage da ist?
Auf internationalen Veranstaltungen werden üblicherweise „Simultandometscher“ eingestellt, die gleichzeitig mit dem Redner über Mikro und Kopfhörer die Rede in einer anderen Sprache übertragen. In Sälen, die keine Simultananlage besitzen, benutzt man Funkübertragung. Die Geräte, die dazu notwendig sind, kann man mieten. Diese Methode hat den Vorteil, dass durch die Übersetzung keine Zeit verloren geht.
Sie hat weiterhin den Vorteil, dass jeder Zuhörer sich auf seine Sprache einstellen kann und so beim Zuhören in der Kontinuität bleibt und dadurch viel besser den Gedanken des Vortragenden folgen kann. Den Zuhörern wird nicht die dauernde Unterbrechung des Redeflusses zugemutet. Es geht doch darum, daß jeder Zuhörer zuhört, d.h. etwas erfährt, was er so noch nicht wußte.
In diesem Sinne erhielt die Rede des Kollegen Schwert m.E. ein zu großes Gewicht. Gewiß war es für die Jüngeren interessant, noch einmal live die rhetorischen Formen der Vergangenheit zu erleben – aber gehörte das in diesen Zusammenhang? Und der Moderator hatte sich insgesamt auf das Thema nicht genug vorbereitet, dadurch ging auch Zeit verloren.
Liebe Kollegen, ich schreibe das in der Hoffnung, dass es Euch vielleicht hilft, in Zukunft noch selbstverständlicher mit der Mehrsprachigkeit und mit der vorhandenen Zeit umzugehen.
Mit herzlichen Grüßen

Barbara Höhfeld


Frankfurt, 14. Oktober

Nun war ich doch auf der Buchmesse. Ich wollte ja überhaupt nicht hin, mich nicht wieder diesem Stress aussetzen. Ist sowieso immer dasselbe, dachte ich, und mir fehlt es auch ohne Buchmesse nicht an Anregungen. Doch am Freitag lernte ich bei meinem Freund Muepu Muamba zuhause in Frankfurt  den Kameruner Patrice Nganang kennen. Er ist ein Schriftsteller und ein Mensch, der Geist und Herz und Körper in eine Einheit bringt, kurzum, der mich begeisterte. Er trat am Samstag im "Internationalen Zentrum" auf, und ich versprach, auch zu kommen.

Weil ich nun schon mal auf der Messe war, besuchte ich auch den luxemburgischen Stand, alte Treue gewissermaßen, auch Neugier, denn der Stand sollte neu gestaltet worden sein. Letztes Jahr hatte es überhaupt keinen gegeben.

Er sah hübsch und frisch aus, der Stand, sogar am Samstag Nachmittag betreuten noch drei Frauen die Besucher, waren kompetent und freundlich. Auf der Theke lag einladend das neue Lexikon "Luxemburg von A-Z", und ich blätterte ganz neugierig darin. "Kulturfabrik" suchte ich, fands nicht, ich hätte vermutlich unter "Schluechthaus" nachgucken sollen. "Frauentheater" fand ich auch nicht, und meinen eigenen Namen ebenfalls nicht. Ich bin halt schon zu lange weg, 16 Jahre!

Immer noch bleibt mir die Erinnerung an die Sehnsüchte, die mich damals in Luxemburg so umgetrieben haben, daß ich Frauentheater machte, dass ich das Poesietelefon gründete und noch wer weiß was ausprobierte. Auf s Poesietelefon brachte ich  Auszüge aus dem "Renert" (gelesen von Alain Atten). Von Rodanges "Renert" wollte damals in der "Szene" niemand was wissen, den fand man blöd; aber er ist doch einer der Basistexte der nationalen Literatur, und wenige Jahre später wurde er auch rehabilitiert.

Ja, so läuft die Zeit davon, seufz, seufz.

Frankfurt, 10. Oktober

Immer noch haben wir mildes Herbstwetter; die Lavendelpflanze blüht ein zweites Mal, die Königskerze, normalerweise eine zweijährige Pflanze, blüht jetzt auch schon. Ein wunderbares Unkraut, diese Königskerze!

Mein "Sommer-Tagebuch" geht also noch ein Stückchen weiter. Der Buchmesse, gestern begonnen, widme ich diesmal keine Zeit: ich brauch nicht zu berichten und fühle mich erleichtert. Gast ist Katalonien, eine Region in Spanien, und die Katalanen schlossen alle AutorInnen vom Besuch der Buchmesse aus, die "nur" spanisch schreiben.... Da bin ich richtig froh, dass ich mich damit nicht zu befassen brauche.

Während ich heiter und friedfertig aus den USA zurückkehrte, baut sich im hiesigen Alltag bei mir wieder ein gewisser Zorn auf. So ärgert mich die pestilenzartige Ausbreitung von Produkten (in "meinem" Supermarkt), die keinen Namen und keinen Hersteller aufweisen, sondern sich unter einem Trivial-Wort wie "Nein!" verstecken. Ich sag mal, das weckt den Widerspruchsgeist. Diese "Nein!"-Produkte, ob Milch, Fleischsalat oder Papierservietten, sind billiger als die, bei denen die Molkerei oder der Erzeuger draufstehen, und darum werden sie gekauft. Aber woher kommen sie? Auf der Verpackung lese ich: "hergestellt für..." und es folgt der Großhändler, der den Markt betreibt. Da bleibt es der Fantasie überlassen, sich auszudenken, woher der Quark eingeflogen wurde: aus China, aus dem Kaukasus, aus Blauzungen-Ländern...

Die suggestive Bennung gilt mir als ein Mißbrauch von Sprache, und das genügt mir, um sowas nicht zu kaufen. Mißbrauch von Sprache, eine Todsünde!

Frankfurt, 8. Oktober

Der elektronische Vetter des alten Druckfehlerteufels hat zugeschlagen und mir den Text vom 5. Oktober gelöscht. Er begann folgendermaßen:

„Draußen war es gestern so milde, dass eine Nachbarin die Luft mit dem schwülen Hongkong verglich. Jedenfalls quollen die Caféhaus-Terrassen über von glücklichen Rauchern. Drinnen dürfen sie ja nun nicht mehr...
Durch die warme Nacht kehrte ich heim von der Diskussion mit Professor Nida-Rümelin über Kultur und die SPD, und in mir nagte die Enttäuschung darüber, dass er mich nicht verstanden hatte. Unter „Kultur“ hatte er  auch Bildung und Wissenschaft eingeordnet, er hatte in bezug auf die Zugereisten und ihre Erben den Begriff „Anerkennungskultur“ eingeführt, und ich hatte gefragt, ob man den Begriff „Migranten“ nicht durch „Zweisprachige“ ersetzen könne (oder so ähnlich, jedenfalls würde ich meine Frage heute so stellen). Er antwortete als deutscher Bildungsbürger...“

Der Rest ist, wohl durch einen falschen Tastendruck, verloren gegangen, nicht mehr zu finden. So schreib ich neu:
Er antwortete, dass seine eigenen Kinder zweisprachig aufwüchsen, da seine Frau Französin sei, und sie könnten sogar besser Französisch als Deutsch. Es sei schwierig mit der  Zweisprachigkeit. Ich merkte, dass ich mich wieder nicht verständlich gemacht, und fragte meine Tischnachbarin, eine zweisprachige Türkin, was sie verstanden habe? Genau das, was ich gemeint hatte: dass man doch bitte in der Schule diejenigen Kinder, die zwei Sprachen sprechen – wenn auch wohl nicht perfekt – dafür honorieren und respektieren solle, eben anerkennen, statt ihnen einfach immer nur defizitäres Deutsch vorzuwerfen.  Nida-Rümelin, auf die "Anerkennung" angesprochen, nannte die osmanische Kultur (er sagte wirklich "osmanisch"!), die doch die Deutschen endlich in all ihrer Bedeutsamkein zur Kenntnis nehmen sollten. Ein ehemaliger Lehrer, ein Deutscher, redete gar von „Fremdsprachen“, und auf einmal kam mir auch dieses Wort verdächtig vor: alle Sprachen sind fremd außer der eigenen deutschen? Fremd oder heimisch, danach beurteilen sie die Menschen hier, sondern sie damit aus. Wie nur könnte man das Ausschließungsdenken ändern?
Bei einem Zweisprachigen stecken BEIDE Sprachen im Körper, sie sind seine EIGENEN Sprachen, und jede von ihnen öffnet die Welt aus einem anderen Fenster. Das wäre es, was den Einsprachigen ins Bewußtsein gerückt werden müßte, damit sie damit umgehen lernen.

Frankfurt, 26. September

Seit vor drei Wochen die Frage nach den Buggiehosen (oder Baggie?) auftauchte, schaue ich mich um. Einmal sah ich den Hosentyp bei einem, der keine Jacke oder Mantel trug - es war ein warmer Tag in Seattle - und da war die Hose so geschnitten, dass sie zwar runterhing, aber in der Taillee ganz normal mit einem Gummizug festsaß. Später sah ich einen andren, dessen Hose fast unterm Po hing und bei dem wirklich die Gürtelschnalle am Penis festgehakt schien - genau diese Position, die man (ich) sich nicht so vorstellen mag. Heute sah ich in Frankfurt wieder so einen. Von der Ausstrahlung her wirken alle diese Männer verschlossen, depressiv, einsam .... Ich male mir also aus, dass eine solche Gürtelbefestigung mit einer Dauererektion zusammenhängt, wobei ich nicht wissen kann, wo die Ursache, wo die Wirkung. Doch kann ich mir denken, dass man in diesem Zustand gern für sich bleibt.

Komme ich dann auf die gestern offen gebliebene Frage nach den politischen Diskussionen in USA zurück, wird mir die Wahnsinnskluft zwischen dem Privaten und dem Politischen bewußt. Natürlich könnte man auch hier einen Bogen zwischen den Extremen schlagen - aber wer tut das? Wen interessiert das?

Der politische Konsens, der meines Erachtens zwischen den Opponenten in den USA besteht, bezieht sich auf die real existierende Truppe: der darf man nicht "in den Rücken" fallen. Wenn auch die Mehrzahl der Amerikaner zu der Erkenntnis gelangt ist, dass der jetzige Krieg ein Fehler war, so meinen doch die meisten, dass man sich nicht einfach zurückziehen dürfe, ehe dort nicht eine "Stabilität" eingetreten sei. Und so bleibt alles beim alten. Eine private Sicherheitsfirma erhält für ihre Arbeit vor Ort  achthundert Mio im Jahr, Regierungsgeld (Steuergeld). Nur ein Beispiel für die Verdienstmöglichkeiten, die natürlich viele nutzen möchten.

Von dem drohenden Krieg gegen den Nachbarn hörte ich drüben fast nichts, der wurde mir erst wieder in Europa in Erinnerung gerufen.

Man mag wirklich nicht daran denken.

 

 

 

Frankfurt, 25. September

Wieder daheim. Das Reisen selbst ist die unangenehmste Seite des Reisens: beim Umsteigen immer die Furcht im Kopf, man könne den Anschluß verpassen. Oder die Enge in den amerikanischen Inlandsflugzeugen: ein virtueller Käfig, dessen Maschen aus den Ellbogen und Schultern des Nachbarn bestehn.

Es war eine schöne Reise, eine Fahrt ans andere Ende der Welt, von außen wie von innen. Nach Seattle und an den Puget Sound zu kommen, bereitet mir reine Freude. Das hat gewiß mit der Freundschaft zu tun, die ich dort jedesmal erfahre; doch spüre ich die Begeisterung auch, wenn ich allein durch die Stadt schweife, das Getümmel am Pike Market genieße, Austern auf der Terrassse am Hafen, bei Elliot's, schlürfe, in den hohen Räumen der eleganten Buchhandlungen stöbere. Das Fährschiff gleitet leise über das weite Gewässer, unter dem Blick der Passagiere entfalten sich die Hochgebirgslandschaften  am Horizont. Der höchste Berg, Mount Rainier, versteckt sich oft hinter einer Wolkenhaube. Nur die Anhäufung von Wolken verrät dann noch seinen Standort. Dieser Berg fasziniert mich: der Vulkan mit Schneehaube hinter der Millionenstadt, ihrem Riesenhafen und den ausgedehnten Industriegeländen. Die Symbolik von innen und außen.

Ich habe an einem versteckten, einsamen Strand an einem gestaltpsychologischen Workshop unter der Leitung von Natasha  Mann in einer Gruppe teilgenommen, 10 Tage lang, und das war die Reise nach innen. Auf Englisch. Kann die fremde Sprache innen sein? Ja, wenn ich selbst bereit bin nach innen zu schauen, kommt es auf die Sprache nicht an. Ich meine, es könnte auch Tanz oder Musik sein. Die Voraussetzung ist das Verstehen, das Verständigen, das Bei-sich-sein. Soviel Englisch kann ich ja -

Hier drängt es mich, meiner Englisch-Lehrerin Dr. Stenzel einmal ein Lob zu schenken: sie vermochte ein Stück von jener Direktheit schon in den 50er Jahren zu vermitteln, die mich bis heute in den USA so verblüfft, fröhlich macht und anzieht (natürlich!). Ich erinnere mich, dass viele Klassenkameradinnen damals schlecht über Dr. Stenzel sprachen und dass ich das nicht begriff. Für mich sprach Dr. Stenzel genau das aus, was ich brauchte, was mir richtig schien. Ich muß die andern beim nächsten Klassentreffen noch mal fragen, was sie eigentlich gegen sie hatten. Ich weiß nur: bei Stenzel habe ich viel gelernt, und bei ihr machte es Spaß zu lernen. Sie ließ Wände verschwinden.

Wände verschwinden zu lassen war ein Erfolg der Gruppe am Puget Sound. Ein anderer der, die Besonderheit jedes Einzelnen zu erkennen, zu schätzen, damit umgehen zu lernen. Gemeinsam ist uns allen ein Tanzen zwischen den Gefühlen: fröhlich oder traurig sein, zwischen Wut oder Angst schwanken. Nur wer gar nichts davon fühlt, ist in Gefahr. Wird zur Gefahr.

Auch über Politik wurde manchmal geredet. Davon ein andermal.

 

 

 

 

 

 

Hansville, 11. September

Heute draengen sich ueberall die Gedenkfeiern an den 11. September vor 5 Jahren, und fast ueberall werden den Veranstaltern taktisch-politische Vorteilsnahmen unterstellt. Der Wahlkampf hat schon begonnen...

Und ich tauche heute nachmittag unter in einem Workshop im Wald in einem Camp, das sich auf Stammesgelaende befindet, ich glaube, der Stamm heisst S'Klalam. Wir werden niemandem von den "Native Americans" dort begegnen, das nicht, wir werden Weisse unter uns sein, alles ganz normal.

Die Sonne scheint und malt die schoenste Landschaft aus: weites blaues Wasser mit einem anderen Ufer - der Puget Sound -, am Horizont reihen sich hohe spitze Berge, manche mit Schnee bedeckt. Die Uferhaenge sind mit hohen Baeumen bewachsen. Unten am Strand stehen Maenner im besten Alter huefthoch im Wasser und werfen die Angel aus. Es ist Lachs-Saison.

Seattle, 9. September

Seattle-Tacoma muesste es streng genommen heissen, wo ich mich aufhalte, im Hotel Mariott. Eine riesige Halle mit Holzdach, an indianische Bauweise erinnernd, unterteilt in Lobby und in eine gruene Schwimm-Oase, die man von der Lobby aus ueberblickt. Ein geschnitzter, bunt bemalter Totempfahl fehlt auch nicht. Die "native american" Kultur setzt sich mit neu gefertigten Werken weiter durch. Sie faellt mir zumindest mehr auf als in den zwei vergangenen Jahren. Und sie scheint sich kuenstlerisch zu entwickeln.

Jeder weisse Amerikaner weiss heute, dass die Ureinwohner von seinen Vorfahren verjagt, ermordet, beraubt wurden. So wie jeder ueber die Geschichte der Sklaverei bescheid weiss. Man redet nur nicht gern darueber. Kam daher das Erroeten des Stewarts im Flugzeug?

In der heutigen Zeitung steht ein langer Artikel ueber das Dolmetschen. Ein Chefdolmetscher kubanischer Herkunft wurde befragt. Er traegt naemlich die Verantwortung fuer die - "first ever" -spanische TV-Ausstrahlung einer geplanten englischen Diskussion zwischen den Praesidentschaftskandidaten der Demokraten. Der Chef selbst wird Obama uebertragen, und fuer jeden der andern Kandidaten gibt es auch einen eigenen Dolmetscher, "fuer Hillary Clinton natuerlich eine Frau" schreibt der Journalist. So sollen die etwa 25 Mio Latinos an die Urnen geholt werden.

Seattle, 8. September

Pavarotti ist gestorben. Der Fernsehsprecher sagte das traurig und sprach von seiner herrlichen Stimme. Seine Kollegin, eine dralle Blonde, warf laechelnd ein, dass seine Stimme uns doch erhalten bleibe, und ging zum naechsten Thema ueber.

Diese Leute, die nicht zwischen einem Menschen und der virtuellen Welt unterscheiden koennen, gibt es ja ueberall......

Ich moechte noch mal von meiner Reise erzaehlen. Auf dem Weg zum Flugzeug ging ein junger Schwarzer vor mir her, der eine Baggy-Hose anhatte, eine Jeans. Das ist ein unglaublich weites Kleidungsstueck, das tief herunterhaengt. Die Gesaesstaschen reichten ihm buchstaeblich ueber die Kniekehlen! Waehrend ich hinter ihm herging, raetselte ich, wie diese Hose denn haelt? Woran wird sie befestigt? Der Mann trug einen kurzen Mantel, keine Aussicht, darunter zu schauen.

Nun wollte es der Zufall, dass ich neben ihn zu sitzen kam. Mich streifte der Gedanke, dass ich auf dieser langen Reise vielleicht eine Antwort faende. Der junge Mann, eine breite, aber nicht fette Gestalt, stoemte zurueckhaltende Freundlichkeit aus. Doch da kam ein Stewart  und wollte mich woandershin setzen. Dann haette ich, und auch mein Nachbar, mehr Platz, warb er. Ich ging mit ihm und verstaute meine Sachen ein zweites Mal. Der Stewart kam wieder, ein sanfter Mediterraner mit intelligenten Augen, und ergaenzte: <Just in case>, falls doch noch jemand fuer diesen Sitzplatz kaeme, faende er einen Ausweg! Ich dachte nach. Als er wieder mal vorbeikam, hielt ich an: Just in case: wenn er vielleicht gemeint habe ich fuerchte mich vor dem andern Nachbarn, dann wollte ich nur sagen: ich fuerchte mich nicht! - Er wehrte ab, ich wiederholte: just in case.... Da erroetete er und sagte: Thank you!

Warum erroetete er? Nun sass ich mit zwei unbeantworteten Fragen da!

Seattle, 7. September

Wieder in Amerika! Und was hatte ich fuer eine Angst, hierherzukommen!

Wegen der Einreise. Es schwirrten mir Schauergeschichten entgegen von ellenlangen Frageboegen, in denen ich meine privatesten Angelegenheiten ausbreiten muesste, von Schikanen am Flughafen -

Ich habe davon nichts erlebt.

Aber Verspaetung schon. Da haette ich in Washington International fast den Anschluss verpasst, weil die Maschine schon in Frankfurt verspaetet abgeflogen war. Doch keuchend kam ich gerade rechtzeiti noch am Gate an.

Freilich: der Identifizierung entkam ich nicht. Weil aber gleichzeitig Hunderte von Passagieren herandraengten, die alle ihren Anschluss kriegen wollten, lief die Sache dann doch recht fluessig ab. Zwei Karten mit den ueblichen Fragen - Wollen Sie ein Kind entfuehren? Planen Sie einen Anschlag? etc. - waren abzugeben, dazu das Skannen der Fingerkuppen und der Blick in das Kugelauge, genau wie letztes Jahr. Vom Zoll merkte ich gar nichts. Beim zweiten Scheckin musste man die Schuhe ausziehen. Das war alles.

In Seattle brauchte ich nicht mal auf ein Taxi zu warten. Der Fahrer trug einen langen krausen, schwarzen Bart und stroemte Freundlichkeit aus. Auf der Fahrt fragte ich, ob er ein religoeser Mann sei. Ja, erwiderte er, aber nicht fanatisch. Ein Moslem. Haben Sie damit hier Probleme? fragte ich. Nein, denn bei mir im Garten gibts kein Oel, war die Antwort. Wenn man kein Oel hat, wird man in Ruhe gelassen und kann gut leben.

Wir redeten dann noch ueber Politik, ueber das osmanische Reich und andere Gechichte.  Ich hoerte ihm zu, er mir.

Nun habe ich sogar schon ausgeschlafen!

Und unglaublich intelligente Fernseh-Sendungen angeschaut!

See you - bye bye!

 

Frankfurt, den 3. September

In Deutschland gibt es anscheinend eine ganze Menge türkischsprachiger Sender. Das berichtete ein Mann vom ZDF, vorvorgestern im Frankfurter "Presseclub". Des ZDF stehe somit in Konkurrenz zu ihnen, schon darum müßte man hier dafür sorgen, dass im Programm auch "Menschen mit Migrationshintergrund" vorkämen. Sein Vortrag galt dem Thema: wieviel Sendungen des ZDF paßten in den letzten 10 Jahren in die Rubrik "Integration"?  Das Wort "Integration" wollte er allerdings nicht definieren, da es, so sagte er, verschiedene Bedeutungen habe und darum eine Definition nicht möglich sei.  Dennoch gebrauchte er es!! Er gebrauchte auch gern das Wörtchen "wir", und meinte damit offensichtlich die ethnisch-deutsche ZDF-Fernsehredaktion.

Der Mann nannte die anderssprachigen Fernsehkanäle "Heimatsender", es handelte sich vor allem um türkisch- und italienischsprachige Sender. Ich fragte am Ende von seinem Vortrag, warum er von "Heimat" rede bei einem Zuschauerpotential, das überwiegend seit Jahrzehnten hier wohnt und arbeitet, wo die Kinder und Enkel hier aufwachsen, zur Schule gehen, also Hiesige sind? Ob mit diesem Wort "Heimat" nicht gerade eine Ausgrenzung einhergehe, indem man alle, die einen nichtdeutschsprachigen Sender anschauen, ganz weit weg lokalisiere? Er versuchte sich herauszureden: "Heimat" sei vielleicht nicht präzise genug....

Es beteiligten sich danach viele andere Teilnehmer an der Diskussion, alles Leute mit nicht-deutschem Hintergrund, und die konnten auf versöhnliche Weise darstellen, dass sie sich im Fernsehen gern als normale Leute wiederfinden möchten, nicht als Extremisten mit langen Bärten, als Ehrenmörder und was dergleichen Auswüchse mehr sind.

Wo ja praktisch "Migration" mit "Kriminalisierung" gleichgesetzt wird - und das ist jetzt schon wieder meine eigene Ausdrucksweise. Mein eigener Zorn über Ausgrenzung scheint darin wieder auf. Ich versuchte schon bei anderen Gelegenheiten, Deutschen - ethnisch Deutschen - klar zumachen, dass sie durch ihre Ausdrucksweise, durch die Ausgrenzung in der Wortwahl, erst die "Ghettoisierung", die "Parallelgesellschaft" so richtig zum Blühen bringen und eigentlich die Integration verhindern. Ein Frankfurter Türke ist zuerst ein Frankfurter! Das betonte auch Turuk Yüksel.

Vielleicht hat der Mann vom ZDF zuletzt doch noch verstanden?

Frankfurt, 24. August

Als hätte jemand eine Tür aufgerissen, so plötzlich ist auf einmal der Sommer wieder gekommen. Das paßt gut zum Frankfurter "Museumsuferfest" an diesem Wochenende, dem traditionellen Ferienabschluss. Mein Verein, die Literaturgesellschaft, ist dort auch zusammen mit dem VS vertreten, in einem kleinen weißen Zelt am Eisernen Steg. Am Sonntag werde ich auch selber dort sein, ich will eine Stunde lang Kindern Märchen erzählen oder vorlesen, muß mal schaun. Ob die Kinder überhaupt kommen.

Morgen fahre ich nach Schlitz, das Städtchen mit den drei Schlössern und fünf Seniorenheimen auf dem Lande, unweit von Fulda. Dort tagt der "hessische Literaturrat", die Jahresversammlung der Mitglieder; sie ist von vornherein auf 2 und eine halbe Stunde festgelegt. Da gilt es dabei zu sein, um ein bisschen bescheid zu wissen - verändern kann man nicht viel.

Ich bin interessiert daran, die Stipendiaten aus dem Ausland kennenzulernen, die lade ich - voraussichtlich - zu einem Frühstück ein. Der Literaturrat organisiert diese Stipendien - diesmal sind wieder eine Autorin aus Wisconsin und ein Autor aus Litauen dabei. Die Frühstücke organisiere ich.

Ich liebe diese Frühstücke mit Gast, vorausgesetzt der Gast ist interessant.

Übrigens besuchten wir letzte Woche noch zu fünft die "dokumenta" in Kassel. Hübsch wie jeder von uns sich sein eigenes Programm baute. Ben traf sich mit einer Bekannten, die er von seiner Gruppenfahrt in Polen her kannte. Elinor setzte sich bald in den Park an der Orangerie, weil sie nichts weiter angucken wollte; wir sollten sie dann nachher abholen. Emil fragte in einer Ausstellungsabteilung mit Gemälden, auf denen grosse Penisse zu sehen waren: "Est-ce qu'il n'y pas d'âge?", was so viel hieß wie: gibt es keinen Jugendschutz?

Ich fragte den jungen Wärter, vermutlich ein Kunststudent, wie das von den Ausstellern her gedacht sei. Er antwortete: "Ganz junge Kinder finden überhaupt nichts dabei. Wenn einer aber schon 13 ist, wie Emil, dann fällt ihm sowas auf; es irritiert ihn, aber er wird mit der Zeit merken, dass auch dies Kunst ist."

Die Antwort gab ich getreulich an Emil weiter, der rasch in den nächsten Raum gelaufen war, und er wars zufrieden.

Ansonsten war ich nicht begeistert von der "dokumenta": ich fand nichts Neues, sehr viel déjà vu. Aber möglicherweise ist mir das entgangen, was die jüngeren Generationen anspricht und beeinflußt. Ich hätte mir mehr Zeit nehmen müssen, um herauszufinden, was für Menschen sich dort angesprochen fühlten, und wovon.

Emil schnitt nachher einen Film aus lauter Schnipseln. Paßte gut.

 

Frankfurt, 22. August

Drei Wochen lang zelebrierte ich "Familienleben wie früher": es ist immer jemand da, die Mahlzeiten werden gemeinsam eingenommen, zusammen gehen wir auf Ausflüge. Das war mit mit meiner älteren Tochter und mit meinen drei Enkeln; es kamen für kurze Zeit auch noch andere Besucher hinzu. Wie habe ich das genossen!

Im Gegensatz zu den alten Zeiten, wo mich das Hausfrauendasein immer wieder krank machte, konnte ich diesmal auch auf mein eigenes Gleichgewicht achten. Und so gehe ich erholt aus diesen Ferien hervor, denn es ist die Gesellschaft, die die Lebendigkeit bringt!

Nur zum Schreiben hat es die ganze Zeit nicht gereicht. Vielleicht muß ich das noch üben: drei Mahlzeiten am Tag richten, die Wohnung in Ordnung halten, mein Gleichgewicht bewahren und noch zwei, drei Stunden finden, in denen ich meine Gedanken sammle? Ich muß ja den Haushalt nicht allein bewerkstelligen, alle sind immer zum Helfen bereit! Es ist die Umstellung im Kopf, die nicht so rasch gelingt, wie es nötig wäre - die Umstellung von Für- und Vorsorge für die andern auf Aspekte und Zusammenhänge, die nur mir eigen sind. Eine solche Umstellung sollte durch Übung aber doch auch möglich werden.

Aber es sollten Ferien sein, in denen die Kinder Neues erleben, und es ist ja nicht selbstverständlich, dass sie sich für Neues interessieren! Da zerbricht man sich immer wieder den Kopf, um den rechten Zugang plausibel zu machen. Glücklicherweise brachten sie schon viele eigne Zugänge mit: das Filmen, das Fotografieren waren Wege, auf denen sie sich alle drei auskannten. Welch ein Wirrwarr von Kabeln an den Mehrfachsteckern, wenn alle ihre Akkus aufluden!

 

Frankfurt, den 29. Juli

Bei DEM enormen Dollarkurs sollte ich gleich wechseln, auch wenn ich erst im September reise, dachte ich mir. 1,35 $ für einen Euro, meldeten sie im Fernsehen! Aber wo finde ich Geldwechsler? Sind die ausgestorben?? Am Hauptbahnhof hats noch einen. Der bot  1, 30, aber zusätzlich wollte er eine "Gebühr" von 5,-€!.  Das lohnte nicht, und ich ließ es fallen.

Ich werde der Frage aber weiter nachgehen, schließlich muß man nicht alles über Kreditkarte abrechnen.

Meine amerikanische Freundin sendet mir die neuesten Ratschläge zum "Klimaschutz": Strom abschalten, kein Standby laufen lassen (das Wort kam in ihrer Nachricht nicht vor, aber auf Deutsch weiß man dann doch gleich, wovon die Rede ist!). Ich mußte lächeln: bei mir werden schon lange auch die teuren Geräte abgestellt, wenn ich sie nicht brauche. Die teuren wie B&O laufen nämlich nur auf Standby, die kann man am Gerät selbst gar nicht abstellen. Da muß man einen Schalter zwischenschalten.

Und meine Erinnerung läuft in die Kindheit zurück, wo wir sparen lernten, wirklich sparen! Da gab es letztlich überhaupt keinen Abfall mehr, alles wurde weiter verwendet.  Hundertwatt-Birnen? Verschwendung, kommt nicht ins Haus!  Morsch gewordenes Bettuch? Dient weiter als Putztuch, in passende Stücke gerissen. Alte Strümpfe, die nicht mehr gestopft werden können? Wird ein Teppich draus gewebt. Und so fort. Die sparsame und tüchtige Hausfrau brachte ihrem Manne Glück... Bei Grimms Märchen findet sich das wieder: Frau Holle.

 

Frankfurt, den 26. Juli

Von einer amerikanischen Freundin bekomme ich die Aufforderung, eine Petition zu unterzeichnen. Das funktioniert elektronisch, technisch kein Problem. Worum geht es? Der amerikanische Kongreß will eine Krankenversicherung für die Kinder schaffen, die sonst unversichert bleiben. Jedoch wird schon jetzt mit einem Veto von Bush gerechnet, darum die Petition.

Ich habe nicht unterzeichnet. Stattdessen schrieb ich meiner Freundin, dass ich vorhabe nach Amerika zu fliegen, dass aus diesem Grunde die amerikanischen Geheimdienste meine persönlichne Daten viele Jahre lang speichern werden. Was geschieht mir also am Flughafen, wenn ich eine solche Petition unterzeichne?

Bei meinem letzten US-Besuch 2006 wurde ich eine halbe Stunde festgehalten, weil angeblich meine Fingerabdrücke von 2005 falsch waren, d.h. jemand hatte links und rechts verwechselt, so wurde mir gesagt.

Habe ich Angst?

Ja, ein bißchen. Schließlich bin ich in einer Diktatur aufgewachsen, später  in der Nachbarschaft des Eisernen Vorhangs. Da bleibt man mißtrauisch.

Frankfurt, 22. Juli

Wie, du kennst "Oblomov" nicht? fragt meine Freundin, und ihre Stimme kippt vor Staunen. Das ist doch der Russe, den alles Denken so anstrengt, dass er gleich im Bett liegen bleibt, um sich davon wieder zu erholen.

Ein Sonntag hat den Vorteil, dass von draußen kaum Geräusche in die Wohnung dringen, auch wenn Fenster und Türen offen stehen. Ich wurde heute beim Denken nicht vom Lärm gestört, und es war solch ein Genuß, dieses Nichtgestörtwerden, dass ich das Denken auch noch sein ließ. Stattdessen das Fernsehen anstellte.

So verging der Tag mit Hans Moser und der Tour de France und ähnlichen Denkgelegenheiten. Es geht mir gut. Ich bin zufrieden.

Morgen beginnt die Woche, ich werde dann wieder was tun, richtig arbeiten.

 

Frankfurt, 19. Juli

Dr. Andreas Becker ist Medienwissenschaftler und stellte gestern abend im "Filmmuseum" einen japanischen Stummfilm von 1926 vor. Der Film dauerte 67 Minuten, war vollkommen stumm, das heißt niemand spielte irgendeine Musik dazu oder kommentierte. Ursprünglich überließ man in Japan wohl solche Filme während der Vorführung dem freien Kommentar von speziellen Sprechern oder Geräuschemachern. Nicht so hier in Frankfurt. Tatsächlich verließen nicht mehr als vier oder fünf Menschen vorzeitig den gut besuchten Film. Alle andern verhielten sich ebenfals stumm. Sehr beeindruckend.

Der Abend war Teil einer Reihe über die "Ästhetik des Stummfilms". Die Ästhetik des Films war es auch, die mich in Atem hielt, so daß mir nie langweilig wurde. Die Aufmerksamkeit ließ sich momentweise, jeweils ganz kurz, nur mit einer gewissen Anstrengung aufrechterhalten; im übrigen aber erschienen die einzelnen Einstellungen so schön, so besonders, so überraschend in ihren Formen, in ihren Proportionen, in der Aufteilung des Bildes, dass sie Freude im Betrachter auslösen konnten. Zu meiner Verwunderung wies in der nachfolgenden Diskussion niemand darauf hin. Auch darauf, dass kein üblicher Film ohne Ton über eine Stunde lang auszuhalten gewesen wäre.

Die meisten Fragen und Betrachtungen galten dem Inhalt, vor allem den möglichen Ähnlichkeiten mit europäischen Filmen jener Zeit, mit dem Surrealismus insbesondere. Andreas Becker brachte die Parallele zum Surrealismus auf, spielte sie aber gleichzeitig herunter. "Surrealismus" hieß nämlich: Provokation des Bürgertums, Verhöhnung der Bourgeoisie - und sowas gab der Film gar nicht her.

Er spielte in einem Irrenhaus, und die Hauptperson, ein alter Mann, durfte aus- und eingehen, wie er wollte, er schien rein als Beobachter zu fungieren. Beobachter all der Grenzüberschreitungen, die sich die Wahnsinnigen rausnahmen. Diese Verzerrungen, Realitätsveränderungen, Wahnvorstellungen entlockten der Kamera unendliche Fantasien. Der Mann war offenbar "der Künstler". Vom medizinischen Stab geduldet, begegnete er dem Oberarzt stets mit tiefer Verbeugung. (O, welche Nuancen, welcher Ausdruck in diesen traditionellen Verbeugungen!) Es fanden mancherlei Begegnungen statt, die Menschen sprachen offenbar ganz wie gewöhnlich, man sah halt nur ihre Lippenbewegungen.

Irgendwann riß es den Künstler selbst hin zur Gewalt, jener Gewalt, die aus der Sexualität fließt: ein Weib erobern, Rivalen ausschalten - schließlich die Obrigkeit niederschlagen. Jetzt bricht alle Ordnung zusammen. Der Künstler verliert symbolträchtig seinen Schlüssselbund, der ihm überall Zugang ermöglichte. Der Schlüsselbund liegt auf dem Boden, gleicht zunächst einem Seestern, bis ihn eine Schwester aufhebt, die Schlüssel in ihrer Kitteltasche verschwinden läßt.

Zuletzt kommt alles wieder in Ordnung, eine Ordnung, die sich möglicherweise von der anfänglichen unterscheidet. Um das und vieles andere beurteilen zu können, müßte ich diesen Film noch einmal sehen. Er existiert in Europa nur in drei Kopien!

Danke, Andreas, für diesen schillernden, stillen und  geistvollen Abend!

 

Frankfurt, 16. Juli

Ein traumhafter Sonntag, wo ein sanfter Wind die Wärme lieblich machte und wo die Düfte des Hochsommers mit den Gesängen der Vögel wetteiferten. Das Thermometer stieg auf 35 Grad, und die Hitze schien mir grad das was ich brauchte.

Auf Pilgerfahrt nach Seligenstadt, mit dem Fahrrad, am Main entlang. Ehrlich gesagt, bin ich bis Steinheim mit der S-Bahn gefahren, es bleiben dann noch 13 km bis in die kurmainzische Klosterstadt. Dreizehn Kilometer durch Auen, an Gärten vorbei und hohen Mauern, unter Bäumen - von den Feldern duftete das frische Heu, vom Mainufer die Sommerblumen, und das Wasser plätscherte leise. Oder die Silberpappeln raschelten. In Seligenstadt gibt es eine märchenhafte Eisdiele mit Riesenbechern, halb voll frischem Obst, wenn man das bestellt.

Ich legte mich ganz kurz mit den Leuten vom Nachbartisch an, junge kraftstrotzende Menschen mit einem kleinen Kind, vielleicht zwei Jahre alt. Das Kind wollte gern herumlaufen, durfte aber nicht, sollte selbständig gehorchen. Danach war ihm nicht, schließlich schrie es, um seinem Wunsch Nachdruck zu geben, der Vater strafte es mit einer Ohrfeige. Ich säuselte ihm ins Ohr: "Das Kind ist noch zu klein!" Dabei war ich schon aufgestanden, zum Gehen bereit.

"Glauben Sie mir, er ist nicht zu klein," entgegnete der Vater mit fester aber nicht unfreundlicher Stimme. Die Mutter fügte hinzu: "Er kann ja, wenn er will!" (Gehorchen, nehme ich an.) Ich gab meiner Stimme noch einen sanfteren Ton und erwiderte ernst: "Glauben Sie mir, er ist noch zu klein für Disziplin! Er muß doch auch lernen, dass er respektiert wird!" Darauf der Vater, triumphierend: "Er wird respektiert!" Ich lachte: "Dann ist es ja gut," und ging davon. Vorher warf ich noch einen Blick auf die Nächstsitzenden und sah die Mißbilligung in ihren Gesichtern. Hier konnte ich nicht auf Bundesgenossen zählen.

Während ich zurückradelte, malte ich mir aus, was ich sonst noch alles hätte sagen sollen: wie das Kind doch Bewegung braucht und nicht am Tisch rumhocken soll, dass in dem Alter nur die Liebe zählt und nicht die Disziplin... Die Gelegenheit war nicht danach. Mehr habe ich nicht draus machen können.

Und ohne die schöne menschenfreundliche Hitze wär wahrscheinlich nicht mal das möglich gewesen.

 

Frankfurt, 12. Juli

Nach einer Woche mit der Familie brauchte ich einen Tag, oder mehr, um mich wieder in meine eigenen Arbeiten, meine eigenen Fantasien hineinzufinden. Nicht daß ich ungern zusammen bin mit den Männern und Frauen und Kindern meiner Verwandtschaft. Im Gegenteil. Manche begleiten mich schon mein ganzes langes Leben, da weiß man immer, wovon man spricht, wenn man miteinander redet, die Sprache ist nämlich auch verwandt.

Wie kommt es aber, dass fast überhaupt nicht über meine eigenen Ziele, Vorhaben, relativen Erfolge oder Mißerfolge geredet wird? Niemand fragt danach, und ich schaffe es nicht, ihnen das interessant zu machen. Ich vergesse es regelrecht. So brauche ich einen Tag oder mehr, um mich wieder dran zu erinnern.

Man bleibt wohl sein Leben lang die ältere Schwester.... "Man"? Oder nur ich?

Frankfurt, den 28. Juni

Im "Haus am Dom", einem katholischen Kulturzentrum mitten in Frankfurt, werden seit einigen Monaten geistig-geistliche Kostbarkeiten geboten: philosophisch getränkte Vorträge und Seminare.

Eine Vortragsreihe hieß "Der Geist als Erscheinung". Der vorletzte Vortrag der Reihe befaßte sich mit der Frage: "Was bedeutet künstliche Intelligenz?". Ein Professor, Mathematiker der Ausbildung nach, untersuchte mit Brillanz den Unterschied zwischen künstlicher und natürlicher Intelligenz und kam zu dem überzeugenden Schluß: es gibt gar keine künstliche Intelligenz. Das, was man damit bezeichnet, ist entweder die Berechnung endlicher Rechenaufgaben (z.B. Schach) oder eine Annäherung an die Frage, was denn Intelligenz überhaupt sei. Prof. Christaller hält menschliche Intelligenz für "unausweichlich", denn: sobald Zellen sich - im Verlauf der Evolution - zusammenschließen, müssen sie nach Lebensräumen suchen. Ihr Verhalten ist nicht berechenbar, da sie sich den jeweiligen Lebensräumen anpassen (ich berichte aus dem Gedächtnis). Nicht berechenbar, das heißt lebenslange Offenheit, Fähigkeit zu lernen. Der Mensch braucht soziale Gruppen, um zu überleben. Gerade die Unberechenbarkeit aber fordert Intelligenz heraus, und die besteht darin, menschliches Verhalten zu simulieren.

Wer Genaueres wissen möchte, schaue bei Prof. Christaller selber nach. Ich war jedenfalls beeindruckt von der geistigen Schärfe und menschlichen Größe des Vortragenden, auch hielt ich das dem katholischen Hausherrn zugute. So positiv gestimmt, besuchte ich die nächste Veranstaltung der Reihe, ein "Podium" mit allen fünf oder sechs Vortragenden, das den Abschluß bildete. Einen krönenden Abschluß hatte ich mir in meinem Wunsch nach Begeisterung vorgestellt.

Welche Enttäuschung!

Ein 80-jähriger Theologieprofessor hielt den ersten Vortrag über das, was er unter "Geist" verstand. Eher er aber ganz am Ende zu seiner Definition gelangte ("Geist ist das Subjekt geistiger Akte, das sich selbst transzendiert"), griff er kräftig in die Kiste naturwissenschaftlicher Begriffe und bediente sich daraus ohne Rücksicht auf Zusammenhänge und die Definitionen der Naturwissenschaftler selbst. Die Evolution hatte es ihm besonders angetan, er übersetzte frei mit "Entwicklung", da muß sich doch etwas "auseinanderwickeln", sagte er, also etwas, das schon existiert,  und er wandte den Begriff auf das Individuum an, während doch die Evolutionstheoretiker ausdrücklich in Millionen Jahren denken, nicht in individuellen Lebenszeiten. Noch verworrener gebrauchte er den Begriff "Wahrheit". Er erinnerte mich an Tarik Ramadan, der so lange mit den Begriffen der Aufklärung jonglierte, bis daraus "Offenbarung" und "Koran" wurde.  Prof. Spaemann zielte auf die "Schöpfung" hin. Aha, dachte ich, der Kreationist entlarvt sich.

Zwecks Beschreibung einer ewigen Wahrheit landete der alte Herr beim Zweiten Futur - "es wird gewesen sein" - als höchsten Wahrheits- und damit Gottesbeweis. Es mag ihn, der sich seinem Tod nähert, trösten, im zweiten Futur aufgehoben zu sein. Aber muß er dafür Logik und geistige Redlichkeit opfern?

Gewiß ist ihm auch bekannt, dass es in den semitischen Sprachen - Hebräisch, Arabisch - kein zweites Futur gibt. Wollte er andeuten, daß Gott nur in der lateinischen Kirche wahrhaft anwesend ist??

Ich verließ entgeistert den Saal. Falls also später noch einer der anwesenden Professoren dem Kreationisten Pari geboten haben sollte, bekam ich es nicht mit.

Heute morgen lese ich, dass der Europarat den Antrag eines Franzosen, den Kreationismus grundsätzlich aus dem Biologie-Unterricht der europäischen Schulen herauszuhalten, abgelehnt hat! Die katholischen Kreationisten infiltrieren also schon erheblich die politischen Parteien.... Das bedeutet Krieg...

Frankfurt, den 25. Juni

Einmal wollte ich mir ein Schlaraffenbett kaufen, so eins, wie ich in amerikanischen Hotels angetroffen hatte: fest und doch unendlich  anschmiegend, so hoch, daß man sich nach dem Wachwerden nur rauszurollen brauchte und stand gleich aufrecht auf seinen zwei Füßen. Queensize, nennen die Amerikaner das. Auf der Kaiserstraße sah ich einen Laden, der solche Betten verkaufte. Das Königinnenbett von der Kaiserstraße, das lockte mich! Mehrmals ging ich hinein, um mir alles genau anzugucken, um probezuliegen, mir die Preise nennen zu lassen.

Die Preise. Beim ersten Besuch lag der Preis für das herrschaftliche Bett angeblich bei dreieinhalb tausend Euro. Wollte ich mir ein so gewaltiges Geschenk machen? Ich ging in mehrere gewöhnliche Möbelläden, ließ mir die teuersten Betten zeigen - keins lag über anderthalb tausend -, legte mich zur Probe auf die Matratzen. Sie waren entweder zu weich oder zu hart, oder sie wackelten wie Gelee. Da war mein Bett, also das, in dem ich tatsächlich schlief, viel besser. Ich kehrte in die Kaiserstraße zurück, jetzt war eine Verkäuferin da, bei ihr kostete der Spaß an die viertausend. Ich überlegte und wartete ein paar Wochen. Das Königinnenbett beschäftigte meine Fantasie. Ich ging nochmal in den Laden. Inzwischen hatte sich der Preis auf fünftausend gesteigert. Mit was für Kunden arbeiten die wohl normalerweise?

Ich gab mir einen Ruck. Die Vorstellung, in einem Bett zu schlafen, bei dessen Erwerb ich übers Ohr gehauen worden war, weckte in mir die Angst vor Alpträumen. Und fünftausend sind zu viel. Basta. Das Königinnenbett war Geschichte.

Zu jener Zeit kam ich an einem kleinen Laden für ökologische Baustoffe vorbei. Ein Schild an der verschlossenen Tür: "bin im Haus um die Ecke, bitte dort klingeln!" Sowas flößt Vertrauen ein. Hier bot man auch Matratzen an. Wollte ich im Grunde nicht einfach eine neue Matratze für mein Bett? Wie wär es denn mit naturnah-handgemacht-hochgesteppt? Auch hier durfte ich probeliegen, ich wurde in ein echtes Schlafzimmer geführt, wahrscheinlich das des Besitzers. Es war mittelmäßig aufgeräumt, der Besitzer schaute mir beim Probeliegen zu. Doch ich hatte Übung und ließ mich nicht verwirren. "Ich nehme sie", war mein Befund und Entschluß.

Vorgestern kam sie nun endlich, meine neue Matratze: "2x1cm Bio Baumwolle; 2x1cm Roßhaar; 2x4 cm Naturkautschuk; 2 cm Kokoskautschuk, Drellsteppbezug in gerader Längssteppung, Liegeeigenschaft mittel-fest, 120x195 cm, 16 cm Höhe." Preis: fast tausend Euro.

Ich habe zweimal drauf geschlafen: Ruhige Träume, wenn auch nicht zu ruhig, die ich beim Aufwachen schon vergessen habe.  Fest und anschmiegsam, diese Unterlage. Extra für mich angefertigt. Heute brachte ich die alte Matratze auf den Sperrmüll und war glücklich.

 

Frankfurt, den 18. Juni

Zum Abschluß des großen Sängerfestes mit den Poeten aus Europa hatte  der Gastgeber, die Romanfabrik, eine "Überraschung" vorbereitet. Nach drei Stunden höchster Konzentration beim Wandern zwischen den Sprachen möchte man ein wenig Erholung, wird sich Michael Homann gedacht haben und engagierte eine Schauspielerin von den städtischen Bühnen, damit sie deutsche "Lautgedichte" vortrage.

Meisterlich ging die Komödiantin an ihre Aufgabe heran, formal glänzend inszenierte sie SchwittersMorgensternJandl. Und doch - ich empfand ihre Vorstellung als einen tiefen Absturz. Ein Rückfall in die "Ballermann"-Gesellschaft, die Klamauk als ihr Lebenselixier ansieht. Die Konzentration und geistige Kommunikation nur als mühsame Arbeit versteht, von der sie sich so rasch wie möglich wieder in die "Freizeit" entfernen will.

Auch SchwittersMorgensternJandl haben eigentlich was zu sagen, das ging jedoch in der Inszenierung vorgestern unter. Man verstand nichts, was die nichtdeutschen Gäste einerseits verwunderte, andererseits aber eben als deutsche Geheimsprache sich erklärten. Die schöne Schauspielerin mimte in vollendeter Affektiertheit ein wütendes Kindlein, das gern zerstört und mit den Dingen um sich wirft, dem an einem "Sinn" nicht gelegen ist, sondern nur am Dominieren...

Ich schämte mich mal wieder für Deutschland.

Frankfurt, 17. Juni

Nun ist es vorbei, dieses Sprachenfest - ich würde es gern jeden Abend feiern, so wohl habe ich mich zwischen all den Mehrsprachigen gefühlt, richtig zuhause. Mit einer Koreanerin ging ich nachher zur Straßenbahn. Sie schimpfte auf "die Europäer", die sich mit ihren vielen Sprachen wichtig tun und so auf den Unterschieden pochen, während sie selbst sich schwer und langsam mit dem Erlernen des Deutschen herumschlage! Ja, das ist Europa, die Vielsprachigkeit, schoß es mir durch den Sinn, sagte es wohl auch. An der Haltestelle fiel mir dann ein, worauf es ankommt, worauf es bei diesem "Autorenfest" vor allem ankam: die Sprachen standen gleichberechtigt nebeneinander. Und auch sie, die Koreanerin, sei zweisprachig, es gelte auch für sie. Und fast alle hätten Mühe mit dem Erlernen der anderen Sprache, genau so viel Mühe wie sie! Die Koreanerin schien ein wenig getröstet und bedauerte, dass sie die beiden andern Abende verpaßt hatte.

Eine Autorin, die auf Italienisch schrieb, war als Tochter polnischer Juden in München aufgewachsen (Lena Janeczek), und die Moderatorin hatte von der "verweigerten Muttersprache" geredet, dem Polnischen. Ich fragte Frau Janeczek später, wie eine solche "Verweigerung" vor sich gehe, da sie, wie sie erwähnt hatte, doch Polnisch, ja auch andere slawische Sprachen verstehe. Ob dies übers Unterbewußtsein gelaufen sei?

Nein, nein. Die Eltern sprachen untereinander Polnisch, als eine Art Geheimsprache, mit dem Kind aber immer auf Deutsch. Ach so.

Wie sie ans Italienische gekommen war, hatte sie schon auf dem Podium erzählt: Die Eltern besaßen ein Ferienhaus am Lago Maggiore und ließen die kleine Lena den ganzen Sommer über dort in der Obhut einer Kinderfrau und des italienischen Personals. So lernte das Kind Italienisch nebenher, über den "Minestrone" und über die verschiedenen Nudelarten.

Wie die Liebe durch den Magen geht, berichtete auch Hatice Akyün, die anatolische Bauern- und Gastarbeitertochter aus Duisburg, die es in Deutschland zur Top-Journalistin gebracht hat. Nämlich die Liebe für die türkische Küche ihrer Mutter. Das Deutsche habe sie durchs Lesen gelernt. In Grimms Märchen eingesponnen, habe sie die deutsche Duisburger Umgangssprache (Beispiel: "Mach Fenster auf") erst gar nicht kennengelernt. Sie zeigte uns, wie sie türkische Sprichwörter "eins zu eins" in ihre deutschen Texte einflicht: sie zitiert und übersetzt es dann - es funktioniert!

Frankfurt, den 17. Juni

Das hiesige Institut Francais veranstaltet zur Zeit  zusammen mit dem italienischen Kulturzentrum und der Frankfurter "Romanfabrik" ein "Europäisches Autorenfest", das heute abend zuende geht.

Ein wahres Fest, für Kenner und Neugierige. "In einer Adoptivsprache schreiben - Geteilte schriftstellerische Erfahrungen in der Fremde" nannten es die Organisatoren. Zum erstenmal erlebe ich bewußt, wie das Gleiche sich in verschiedenen Sprachen ausdifferenziert - oder: wie tief die Verwandtschaft zwischen den Sprachen reicht. Das Berauschende an der Erfahrung rührt, glaub ich daher, dass ich zuhörend in mehr als einer Sprache präsent bin. So etwa, wenn eine Slowakin auf Italienisch - ihrer Adoptivsprache als Schriftstellerin - darüber nachdenkt, welche Besonderheiten ihrer Muttersprache auch im Italienischen lebendig bleiben, sich behaupten, sich ins Italienische einfügen.

Prof. Chiellino, erfahrener Wanderer, nannte Herders Vorstellung von in sich abgeschlossenen "Nationalsprachen": autistisch! Mme Achache, Psychoanalytikerin aus Paris, unterschied zwischen "Muttersprache" und "Vatersprache". Die eine überträgt sich gewissermaßen aus dem Uterus heraus, die andere enthält alle Regeln.

Ich hoffe, man wird all diesen Erkenntnissen später nachlesen können. Dennoch merke ich: nie wird das Erleben durch körperliche Anwesenheit von Schriftlichem ersetzt werden können.

Frankfurt, den 16. Juni

Über die Sprachen in Europa.

In einer Diskussion über die erstrebenswerte "Demokratisierung" der Europäischen Union hörte ich eine brave Hausfrau sagen: Alle müßten sich auf Englisch verständigen, dann hätten wir das Problem mit den Sprachen nicht, und es wäre auch billiger.

Oh, wie bin ich der Dame über den Mund gefahren. Ob das "Demokratie" für sie bedeute, wenn ein Abgeordneter nur gewählt werden dürfte, wenn er Englisch könne? Wenn keiner mehr in seiner Muttersprache verhandeln dürfe (außer natürlich den Engländern)?

Mit dem Referenten war ich mir einig, dass die Vielsprachigkeit Europas sein Markenzeichen und die Grundlage für eine Dauerhaftigkeit unseres Zusammenschlusses ist.

Allerdings, einfach ist das nicht. Aus dem Nähkästchen geplaudert:

Seit 1. Januar haben wir in der EU 23 Amtssprachen. Wenn jede Amtssprache in eine andere übersetzt werden muss, dann ergibt das nicht weniger als 506 Kombinationen. Bis 2004 hatten wir erst nur 110 solcher Kombinationen!

Nun beherrscht kein Übersetzer der Union alle 23 Amtssprachen; drei sind die Norm, viele dieser Sprachkünstler können auch sechs oder sieben. Um des Sprachenstromes Herr zu werden, richteten die Institutionen "Relais-Abteilungen" ein: alles wird erstmal in drei Sprachen übersetzt, ins Englische, deutsche und Französische. Von dort aus können alle Stellen, die an einem Text interessiert sind, diesen in ihre eigenen Sprachen übertragen.

Inhaltlich umfassen die Texte nahezu alles, was es in der Welt gibt, vornehmlich aber wirtschaftliche, juristische, politische Belange. Fachausdrücke müssen für alle Sprachen festgelegt werden, damit überall jeder weiß, wovon die Rede ist.  Zu diesem Zweck wurde ein "Interinstitutioneller Ausschuß für Übersetzung und Dolmetschen" eingerichtet, CITI in der Abkürzung, wo die allseits auftretenden Sprachprobleme übersichtlich behandelt werden, so dass alle Beteiligten Übersetzer und Dolmetscher bescheid wissen. Ab Juni, d.h. ab sofort, gibt es, für alle Menschen zugänglich, sogar eine terminologische Datenbank der EU-Institutionen mit mehr als einer Million Einträgen. Man findet sie unter IATE. Sehr leicht zugänglich.

 

 

 

 

 

Frankfurt, den 7. Juni

Wieso regten sich die Leute beim Thema "Evolution" so auf? Ein akademischer Lehrer erläuterte bei "Denkart" dem interessierten Publikum die "Frankfurter Evolutionstheorie", die sich als Ergänzung zum Üblichen versteht. Sie untersucht alle Lebewesen vorrangig als "autonome, hydraulische und energiewandelnde" Organismen und betrachtet die Evolution also nach diesen Kriterien. War spannend; allerdings sprach der junge Mann sehr schnell, oft zu schnell - sein Professor saß auch im Publikum und das setzte ihn anscheinend unter Druck. An der Kompetenz des Redenden gab es gar keinen Zweifel, und dennoch stellten viele Zuhörer anschließend ihre Fragen in fast bellendem Ton des Vorwerfens. Es ging ihnen offenbar weniger darum zu verstehen als darum, dem Redner wenn möglich zu bestreiten, dass er recht hätte. Komisch, denn erklärtermaßen hatte vorher noch niemand von der "Frankfurter Evolutionstheorie" etwas gehört, man konnte doch nur lernen.

Voller Bewunderung sah ich den Vortragenden an, er hieß Dr. Gudo: allen Angriffen zum Trotz reagierte er ruhig, freundlich, konzentriert (nur einmal verlor er für einen Moment völlig den Faden), er bewahrte die Fassung.

Das möchte ich auch lernen! dachte ich.

Ich schaff das noch nicht. Heute abend wohnte ich einer Preisverleihung bei und es wurde viel Langweiliges oder Unverständiges geredet. So endete der "Laudator" seine Preisrede mit dem Satz (aus dem Gedächtnis): "Er hat also diesen Preis mehr als verdient."

Was heißt das? dachte ich spontan und wütend, denn der Mann ist Literaturkritiker der FAZ, seine ganze Rede war dem gepriesenen Dichter ( Urs Widmer) nicht gerecht geworden, und zum Schluss dies? Hat Widmer denn den Preis nicht verdient? Was bedeutet "mehr" als das?

Im Foyer bin ich zwei oder dreimal um den Mann herumgeschlichen und habe meinen Gemütszustand geprüft. Ich wollte ihn fragen: "Was bedeutet mehr als verdient?" Würde ich meinen Zorn über diesen albernen Gebrauch der deutschen Sprache im Zaum halten können, weltläufig, spitzbübisch, gar beiläufig meine Frage vortragen können? Wäre meine Fassung einer etwaigen Arroganz oder sonstigen Dummheit gewachsen?

Ich mußte das leider verneinen.

Ich fuhr dann einfach nach Hause. Doch muß ich sagen, dass Urs Widmers Dankesrede die Reise wert gewesen ist. Es handelte sich um einen "Hölderlin-Preis" und alle, von der Oberbürgermeisterin bis zum Preisgekrönten selbst, alle hatten Schwierigkeiten, sich Hölderlins hoch gespannter Sprache anzunähern. Nur Widmer gelang es, seine Schwierigkeiten eigenwillig und elegant, einleuchtend und mit hübscher ironischer Beleuchtung darzustellen. Ihm sei dafür Dank!

 

Frankfurt, den 1. Juni

Einmal im Monat fahre ich am Abend nach Mörfelden-Walldorf, um an einem Philosophie-Kreis teilzunehmen. Unser Lehrer heißt Professor Dr. Klaus Wiegerling, und er kommt schon seit mehr als zehn Jahren zu uns nach Mörfelden-Walldorf. Die ganze Zeit über habe ich viel gelernt, ich denke, dass ich dabei mehr gelernt habe als wenn ich reine Universitätsvorlesungen angehört hätte. Die versteht man meistens nicht, man muß, um was damit anzufangen, ganz viel auswendig lernen. Wir aber, in unserem privaten Kreis von nicht übermäßig akademisch Gebildeten, wir dürfen jederzeit unterbrechen, wir fragen, wir fragen uns, wir vergleichen, wir urteilen.  Wir verleiben uns die Wissenschaft ein, vielmehr, das Wissen, das, was hängen bleibt, wird Teil von uns, eines jeden einzelnen. Und das tut wohl, das schafft Freude.

Gestern verabredete ich mich mit einer Frau in einem "Teeladen" auf der Friedberger Landstraße, welche Überraschung. Das Lokal existiert seit zwei Wochen. Es besitzt eine komplexe Aesthetik, auch wenn die Einrichtungsgegenstände, meist aus Holz, recht einfach sind. Man trinkt dort Tee, es gibt außerdem frisch gebackene asiatische Küchelchen.  "Ostasiatisch" nannte die Wirtin ihren Stil. Sie selbst sei vietnamesische Chinesin. Was ich bewunderte, war die gleichbleibende, beruhigende Schönheit jeder Einzelheit, bis hin zur Schürze des Küchenmädchens, das eine Schale mit neuen Reisbällchen hereintrug. Zwei Stunden lang tranken wir Tee und redeten, und wenn ich jetzt dran denke, fühle ich mich heiter....

Vielleicht kommt die Frau demnächst auch mit nach Mörfelden-Walldorf?

24. Mai

Achtung: Feldenkrais-Liebhaber! Bitte unter Rubrik FELDENKRAIS gucken!

*

Gestern besichtigte ich die "Fantastische Bibliothek" in Wetzlar, die einzige ihrer Art, so erfuhr ich. Der Unterschied zwischen "Fantasy" und "Fantastik"? Nun, in Fantasy ist alles anders, es wird eine richtige Parallelwelt erfunden. In der Fantastik weichen nur einzelne Phänomene von der Wirklichkeit ab. Die Bibliothek hat außerdem eine Abteilung "Märchen", eine für "Abenteuergeschichten" (der ganze Karl May steht da!) und überdies sehr viele literaturwissenschaftliche Bücher, spezifische und allgemeine. Sämtliche Räume enthalten Sitzmöglichkeiten, manche auch Computer. Es kann mit Gruppen gearbeitet werden.

Ich fragte den leitenden Herrn, der unermüdlich und begeistert erklärte, ob manchmal Besucher von der Idee "Wer bin ich? Wo bin ich? Keine Antwort - Ungewißheit" verwirrt werden? Denn darauf läuft das Fantasieren ja hinaus: keine Wahrheit, keine Sicherheit. Wegwerfend antwortete er: ganz selten.

Es liegt an mir: mit so Geschichten wie 'Herr der Ringe' hab ich nie was anfangen können, weil ich die WIRKLICHKEIT schon als komplex und schwer verständlich empfinde. Mit mutwilligen Abweichungen mag ich mich erst gar nicht aufhalten.....

Frankfurt, den 20. Mai 2007

Welch eine gute Freundin ist doch die Sprache! Sie verrät mir immer, wenn jemand mir etwas mitteilen will, woran er selbst nicht glaubt.

Das kann auch ganz lustig sein. So schreit mir von allen Wänden in der Stadt zur Zeit eine Reklame mit den Worten entgegen: Freiheit in alle Netze! Nein, die Reklame sagt in Wirklichkeit noch was anderes. Doch die Sprache, die ja Subjekt von Objekt unterscheiden kann, Dativ von Akkusativ und vieles andere mehr, sie übersetzt mir den Satz so: Freiheit in alle Netze!

Auf dem Plakat steht "Ich habe Redefreiheit in alle Netze" - was ja auf jeden Fall verkehrtes Deutsch ist: "ich habe" verbindet sich nie mit dem Akkusativ, sondern mit dem Dativ. Ich habe - wo? (*) Wollte man "wohin" fragen und so den Akkusativ begründen, müßte man ein weiteres Verb einfügen: ich habe gelegt, gestellt oder gesetzt. Vielleicht: ich habe die Freiheit ins Netz gestellt. Was sie da wohl tut?

Offenbar ist die Freiheit jemandem ins Netz gegangen. Nun ist sie gefangen. Aus der Reklame tritt sie, gewissermaßen neugeboren, als "Redefreiheit" wieder hervor. Das ist ein Begriff aus dem 19. Jahrhundert, aus der Epoche des Polizeistaates, aber auch aus dem 20. Jahrhundert, aus der Zeit der Diktaturen.  Da konnte jemand wegen eines unerwünschten Wortes sein Leben verlieren. Das ist zwar nur eine oder zwei Generationen her, doch heute braucht das in Deutschland keiner mehr zu fürchten. 

Spätestens jetzt werden mir die Zeitgenossen entgegnen: "Es ist vom Handy die Rede! Man kann jetzt kostenlos quatschen, das bedeutet die Reklame."

Richtig:  for free oder kostenlos, in falschem Deutsch, unter Aufopferung der Freiheit und natürlich nur nach Abschluß eines teuren Vertrages. O Freiheit, die ich meine!

Ab in die Netze!

 

(*) Beispiele: ich habs im Kopf! ich habs am Herzen!

 

Frankfurt, 13. Mai

Einige Tage habe ich gebraucht, um mich von den Aufregungen der letzten Woche zu erholen, freilich auch, um all die liegengebliebenen anderen Dinge  zu erledigen. Sondermüll wegbringen, zum Beispiel: übriggebliebene Farbe, die niemand haben wollte, weil das Weiß einen kleinen Gelbstich hatte. Eingetrocknetes Tipp-ex. Alte Telefone, die eigentlich noch gut waren, aber die ich eben nicht benutze. Auch der Deckenstrahler war eher was für den Flohmarkt. Beruhigt stellte ich fest, dass die freundlichen Müllmänner von der Seehofstraße jedes Ding an einen vorbestimmten Platz stellten, so als wüßten sie, wie man das noch brauchen kann. Ja, sowas beruhigt mich: als Kriegskind wirft man doch nichts weg!

Und dann hab ich den Roman von Sudabeh Mohafez gelesen: die Geschichte von 4 Generationen Frauen, betrachtet durch den Filter eines "Kokons", so nennt die Autorin die seelische Umhüllung einer der Frauen, mit der sie sich absondert. Die alltägliche Gewalt erhält durch den "Kokon"eine Art Filzverpackung, und man erkennt sie doch. Sehr schön geschrieben, der Roman heißt "Gespräch in Meeresnähe", aber der Titel verbirgt ebenfalls nur, was eigentlich passiert. Sudabeh ist noch jung und hat schon viel erlebt, sie versteht mit dem Leben umzugehen, auf eine schelmische und ernste Weise. Und sie kann Deutsch, wahrlich, sie kann Deutsch!

Gestern abend folgte ich einer Laune und besuchte einen "Villon-Abend", auf deutsch im Internationalen Theater. Der Schauspieler Moritz Stoepel legte sich mächtig ins Zeug, brüllte, eilte von einem Musikinstrument zum andern. Ich mochte es nicht, wie er sich anstrengte. Er war ja nicht mehr ganz jung, und nun diese Angeberei mit den Frauengeschichten! Es roch etwas nach Viagra, fand ich. Er hatte Villons Leben in eine pralle Aufführung eingegossen. Der Dichter lebte von 1431 bis etwa 1463. Niemand weiß, wo er gestorben ist. Er hat aber ein "Testament" hinterlassen, darin kommen seine berühmten Balladen vor:"mais où sont les neiges d'antan?" Warum tu ich mir das auf deutsch an? fragte ich mich. Doch als ich zuhause meinen Villon hervorholte, um mir das Original anzuschauen, merkte ich, dass ich plötzlich viel besser verstand als je zuvor, was da von und über Villon geschrieben war. Der Schauspieler, durch und durch ein Profi, hatte mir den französischen Villon auf deutsch näher gebracht. Danke!

 

Steinschneider-Referat

Gehalten am 6. Mai 2007 in der Zentralen Stadtbücherei, Frankfurt

 

 
ADOLF MORITZ STEINSCHNEIDER ALS MODERNER DENKER

„Hineingestellt in das riesenhafte Geschehen der Zeit bietet sich uns das nie zuvor gesehene Bild eines Krieges, der den ganzen Erdball umspannt und die Bewohner dieses Sterns in zwei Lager aufgespalten hat.“
So beginnt die philosophische Untersuchung von Adolf Moritz Steinschneider, die er etwa 1938 niederzuschreiben versuchte, die abzuschließen ihm aber  nicht die Zeit blieb.
Zwei Lager. Das Manuskript trägt den Titel „Menschheit und Polarität“. Ich erlaube mir zu sagen: Steinschneider setzt diese beiden Begriffe in Gegensatz  zueinander: er will raus aus der „Polarität“, raus aus dem mörderischen Entweder-Oder seiner Zeit. Hin zur Vielfalt, auch der Beziehungen.
Doch zunächst seine Biografie. Das Fritz-Bauer-Institut schreibt: „Adolf Moritz Steinschneider, geboren am 20. Juni 1894 in Berlin, war Enkel des Judaisten Moritz Steinschneider. Er war Jude. Er studierte in Berlin und München Rechts- und Wirtschaftswissenschaften. 1918 wurde er wegen seiner Beteiligung am Spartakusaufstand zu einem Jahr Haft verurteilt. Ab 1926 war er Rechtsanwalt in Frankfurt am Main und verteidigte in politischen Prozessen zahlreiche Linke. Er war Mitbegründer der Roten Hilfe und der deutschen Liga für Menschenrechte. Im Februar 1933 emigrierte er zusammen mit seinen Brüdern Gustav und Karl...“
Gustav und Karl reisten nach Palästina, Adolf Moritz ging in die Schweiz. Dort wurde er unterstützt vom Bruder seines Freundes Adrien Turel. Diesen Adrien hatte er zuvor selbst unterstützt, einen genialischen Geist, vielleicht der Zeitgeist schlechthin, ihm irgendwie verwandt.
Die Schweiz duldete keine politische Betätigung von Migranten, und Steinschneider konnte davon nicht lassen. So entzog man ihm schon 1935 die Aufenthaltsgenehmigung. Steinschneider lebte fortan in Frankreich: bis Kriegsanfang in Paris, von dort zur Zwangsarbeit; nach der Freilassung wegen Krankheit schließlich  Ermordung durch eine SS-Horde. Das war 1944 bei Bellac. In den letzten zwei Jahren hatte er dort in relativem Frieden mit seiner deutschen Frau Eva geb. Hillmann, geschiedene Reichwein, und der gemeinsamen Tochter Marie Louise gelebt.
Während seines gesamten Exils schrieb er Briefe an diese Tochter, wie auch an einen Sohn, den er fast gleichzeitig mit einer anderen Frau gezeugt hatte. Diese und andere Briefe, sowie wissenschaftliche oder aufklärerische Schriften von ihm sammelte Marie Louise Steinschneider in dem Archiv AMSTA: Adolf Moritz-Steinschneider-Archiv. Viele dieser traumhaft schönen und liebevollen Briefe an die Kinder wurden schon öffentlich gelesen, insbesondere auch von Peter Heusch. Die Ideenwelt Steinschneiders für Erwachsene aber harrt noch der Untersuchung.
In seinem unfertigen Werk „Menschheit und Polarität“ bezieht sich Steinschneider zunächst auf zwei Bestseller seiner Zeit: von H.G.Wells „Die Geschichte unserer Welt“,   und von  A. Carrel  „Der Mensch, das unbekannte Wesen“ (L’homme cet inconnu). Steinschneider stellt die beiden gegenüber: Zitat:
„Bevor wir uns der Analyse des Phänomens zuwenden, dass die beiden Männer, bei aller Ähnlichkeit der Ansichten und Absichten, dennoch so weitgehend mit einander kontrastieren, wollen wir vorwegnehmend bemerken, dass es uns scheint, als wenn sie zwei verschiedenen Prinzipien gehorchten. Der eine stellt das glückhaft sinnvolle, ruhig reifende und friedliche Wachstum in den Vordergrund seiner Betrachtung, der andere den dynamisch-dramatischen, zeugend erobernden Schöpfungsakt. Und diese beiden Prinzipien stellen die Hauptprinzipien des menschlichen Lebens dar, das weibliche und das männliche.“
Sie waren in der Zwischenkriegszeit bei weitem nicht die einzigen, die nach einem „Menschenbild“ suchten: Cassirer schrieb seinen „Essay on Man“, in dem er seine „Philosophie der Symbole“ für amerikanische Leser popularisierte. Der heute fast unbekannte Adrien Turel schrieb zig Bücher zu diesem Thema. Die Reihe ließe sich weiter fortsetzen.
Steinschneider handelt in seiner Schrift vor allem das Thema „Polarität“ ab, nur um immer wieder aus neuem Gesichtswinkel nachzuweisen, dass die Wirklichkeit sich nicht mit zwei Polen erfassen läßt und dass Menschsein oder „Menschheit“ eigentlich eine endlose Zahl von Polen umschließt, so daß der Begriff selbst seinen Sinn verliert.
Zitat: „Wir sagten....., dass Raum und Zeit sich polarisieren, indem sie sich zugleich mit körperlichen und geistigen Inhalten anfüllen. Es ist aber auch die Vorstellung gestattet, dass die Körperwelt bereits zum Raume, der Geist zur Zeit (sich) in polarem Gegensatz stellt. Es handelt sich hier aber um letzte Abstractionen oder Polarisationen, die sich an den Grenzen der Welt, genauer vielleicht an den Grenzen unseres Verstandes abspielen. Dort, wo alles ins Unbegrenzte auseinanderzufließen scheint, Raum und Körper in die Unendlichkeit, Geist und Zeit in die Ewigkeit, befinden sich die Grenzen unseres Verstandes, die er sich selbst setzt, um das spezifisch grenzenlose Weltgefüge ‚in seinen Grenzen’ halten zu können.“
Auf der nächsten Seite heißt es, Zitat:
„Zwischen der lebenden und der ‚toten’ Natur gibt es keine feste Grenzlinie ausser derjenigen, die durch unsere Begriffsgebung geschaffen wird“ – ein total moderner Gedanke!
Und weiter, Zitat:
„Wenn wir nach einer, auch nur begrifflichen Unterschiedlichkeit fahnden zwischen ‚lebendigem’ und ‚totem’ Geist, so sehen wir zunächst nichts dergleichen. Wie ja aber auch das Wort ‚tote’ Natur irreführend  und ihm das Wort anorganische Natur vorzuziehen ist, - denn die tote ist die gestorbene, gelebt habende Natur, die in die anorganische eingeht, um sich erneut lebend aus ihr zu erheben – so ist auch der Geist nur tot, soweit er bereits gelebt hat. Er geht in die Urform des Geistes ein und verläßt sie wieder als neugeborener, lebendiger Geist. Im Gegensatz zur organischen und anorganischen Natur schlagen wir – als Begriffsbildung –  vor, den organisierten von dem un- oder anorganisierten Geist (=chaotischem Geist) zu unterscheiden. Was verstehen wir unter organisiertem Geist? Die geistigen Bindungen und Beziehungen, in denen sich die Menschen organisieren zu Liebes- und Freundespaaren, Ehepaaren und Familien, Führer- und Freundeskreisen – Vereinigungen religiöser, wirtschaftlicher, politischer, beruflicher, geselliger, wissenschaftlicher und sportlicher Art – Volk, Staat und Rasse. Als letzte und weiteste Wesenheit geistiger Bindung erkennen wir die  - Menschheit. Hier also steht der Mensch als Einzelwesen auf der untersten Sprosse der gegebenen Größenordnungen.
Wir könnten also die Größenordnungen über den Menschen hinaus fortsetzen mit der Aufzählung: Familie – Volk – Menschheit und ihren Zwischenstufen. Das wären dann aber Größenordnungen nicht mehr im Bereiche der Natur, sondern im Bereich des Geistes. Auch das stimmt wieder nicht so ganz: genau so wie die Natur, so tendiert auch die Welt des Geistes auf den Einzelmenschen hin; hier aber nicht auf den Menschen als Abstraction, sondern als Individuum.“
Von hier blieb noch ein weiter Weg zu dem in seinem Vorwort verkündeten männlichen und weiblichen Hauptprinzip. In einem Brief aus Frankreich an einen potentiellen Unterstützer schrieb er, dass ihn „hauptsächlich soziologisch-ökonomisch-psychologische Fragen“ interessierten, er habe schon „über Fragen der Planwirtschaft, der Organisation der Familie und sexologisch-gesellschaftliche Zusammenhänge“ gearbeitet.
Die enorme Spannweite seines Denkens auf alles andere als ausgetretenen Pfaden verdiente es, dass sich die Wissenschaft seines umfangreichen Archivs endlich annimmt!

Frankfurt, den 7. Mai

Was war das für ein Erfolg, dieser "Tag für die Literatur in Hessen"!

Jedenfalls wurden die drei Veranstaltungen, auf denen ich war, sehr gut besucht, und die Mehrzahl der Besucher kam, weil sie das dicke Programmheft des HR gelesen hatten und nicht, um einer Freundin einen Gefallen zu erweisen. Das lohnte sich also mit diesem Heft. Und all die Mühe.

Im "Café Wiesengrund" waren alle Tische besetzt. Das Publikum lauschte gespannt der über eine Stunde währenden Lesung. Die Referentin, Dr. Sabine Appel, las aus ihrer letztes Jahr erschienenen Biografie der Madame de Stael, unterbrach aber immer wieder mit ergänzenden Einschüben ihren Vortrag, so daß dieser eine außerordentliche Lebendigkeit erhielt. Nachher kamen Fragen über Fragen, und so zog sich die Veranstaltung, vom eigentlichen Frühstück abgesehen, über gut anderthalb Stunden hin. War Germaine Necker nun ein Genie oder nur eine nervende Person? So fragten sich die Deutschen damals und auch heute noch. "Übte sie jemals Selbstkritik?" fragte jemand tadelnd. Die Antwort hieß: sie lebte ständig im Dialog. Sie erwartete ebenbürtige, rasche Antworten, auf die sie ebensolche gab. Der Begriff "Selbstkritik" gehört doch in den Bereich des Monologs! Freiheit und Gleichheit suchte sie, dafür kämpfte sie, innerhalb ihres Salons und gegen Napoleon, der alles seiner Führung unterwarf.

Da ich moderierte, vergaß ich in der Aufregung, für Fotos zu sorgen, und so gibt es keine von diesem spannenden Vormittag.

Am Nachmittag stellten Kolleginnen in der Stadtbücherei Autorinnen und Autoren unter dem VS-Motto "Verbrannt. Vergessen?" vor, das bezog sich auf die Bücherverbrennungen der Nazis am 10. Mai 1933. Manche der verfolgten Autoren brachten es nach dem Krieg nicht mehr bis zu einer neuen Veröffentlichung, und sie sollten gestern in Erinnerung gerufen werden. Ich konnte einen Autor hinzufügen, der zwar viel geschrieben, aber fast überhaupt nichts veröffentlicht hat, weil er während des Krieges von der SS ermordet wurde: Adolf Moritz Steinschneider. Er hat sich u.a. auf dem Feld der Philosophie versucht, unter dem Titel: "Menschheit und Polarität", davon handelte mein kurzes Referat. Es waren wohl 50-60 Leute in der Stadtbilbiothek.

Schließlich erreichte ich noch "Giordano Bruno" im Karmeliterkloster (dort wohnte der streitbare Mönch im 16. Jahrhundert). Zwei Historiker des Hauses für Frankfurter Stadtgeschichte sprachen über Bruno, sehr verständlich und spannend. Auch hier hatten sich an die 60 Zuhörer eingefunden.

Nun bleibt mir noch, die tausend Eindrücke von gestern im Kopf ein wenig zu ordnen....

 

 

Frankfurt, den 5. Mai

Diese Woche war der Madame de Stael gewidmet, mit vollständigem Namen: Anne Louise Germaine Necker, Baronne de Stael-Holstein (1766-1817). Eine belebende Gesellschaft, muß ich rückblickend sagen, sie achtet bei aller Genauigkeit auch immer auf die Ästhetik. 51 Jahre wurde sie alt, aber mit 15 begann sie schon damit, gelehrte Abhandlungen zu schreiben. Sie hat mit einer unvorstellbaren Intensität gelebt. "In Deutschland ist man nie unvorsichtig", hat sie geschrieben. Ich habe Bilder von ihr und den Ihren kopiert und im Café Wiesengrund zusammen mit dem Wirt, Dr. Zervas, aufgehängt. So konnten wir all die Anblicke unter unseren Händen auch kommentieren: Napoleon, wie er sich schon als "Erster Konsul" in goldener Pracht abbilden ließ. Oder die elegante Melancholie auf dem Antlitz von Wilhelm Schlegel, nachdem er 14 Jahre als de Staels Sekretär gearbeitet hat und nun, nach ihrem Tod, in Bonn Professor geworden ist. Oder die unwiderstehliche Schönheit der Madame Recamier, die eine der besten Freundinnen war von Mme de Stael. Die drei schönen Kinder....

Dr. Sabine Appels Biografie entfaltet jetzt, wo ich die Geschichte schon halb kenne, erst ihren ganzen Reichtum: mit wachsendem Vergnügen lese ich sie zum zweiten Mal. Mme de Stael hat sich um SO viele Fragen ihrer Zeit gekümmert, dass einem darüber schwindelig werden kann.....

Appel wird zu uns morgen über "das Deutschlandbild der Mme de Stael" sprechen.

Nürnberg, 30. April

Zwei Wochen stabile Hochdruckwetterlage hat gar nichts mit Klimaveränderungen zu tun! predigt die Geologin. Also genießt das schöne Wetter gefälligst, auch wenns erst Ende April ist.

Ich war zwanzig Stunden in Kerndeutschland, in der Fränkischen Schweiz, wo es von Fußwanderern und von Motorradfahrern wimmelte. Von barocken Wallfahrtskirchen und von Tropfsteinhöhlen. Ob ich Bier oder Wasser bestellte - die Antwort war immer eine "Maß". Doch hier ist Franken, nicht Bayern. Das Land mit über 300 Brauereien.

 

Frankfurt, den 26. April

Soviel habe ich zu tun, dass ich kaum zum Nachdenken komme.

Damit meine ich nicht, dass ich die Dinge tue ohne darüber nachzudenken, sondern ich meine das Nachdenken darüber hinaus. Dafür brauche ich Musse. Muße. MUSSE. Loisir.

Hab ich nicht zur Zeit. Denn am Sonntag, den 6. Mai, will ich die Einführung zu Sabine Appels Vortrag "Das Deutschlandbild der Mme de Stael" sprechen. Um elf Uhr im Café Wiesengrund. Nachmittags dann Steinschneider vorstellen, im Rahmen der Erinnerungsveranstaltung für naziverfolgte Autoren und Autorinnen, 17 Uhr in der zentralen Stadtbücherei. Steinschneider schrieb viel auf seiner Flucht, er hätte nach dem Krieg bestimmt was veröffentlicht - doch er wurde ermordet.

Sonntag wird in Hessen von morgens bis abends "die Literatur" gefeiert! Die Literatur "in" Hessen, laut Professor Boehncke gibt es keine "hessische Literatur", denn: "Hessen hat es nie gegeben", behauptete er.

Seit sechzig Jahren gibt es das Land Hessen. Seit 60 Jahren reduziert man es auf Mundart! Wem das wohl nützt?

 

Frankfurt, den 11. April

Nun ist meine Tochter wieder abgereist. Zehn Tage verbrachten wir miteinander, im Gespräch, reisend, für einander kochend. Wir haben Erinnerungen ausgetauscht. Sie hat mich nach den Kindheitserinnerungen im Krieg und nach dem Krieg befragt, hat das Gehörte gleichzeitig in die Maschine getippt. Da sie ein winziges Gerät bei sich trug - ich nannte es spottend "eine Karamelle", es war aber von poliertem Stahl und so groß wie zwei Karamellen - konnte sie alles Gespeicherte rüberladen und mit nach Hause nehmen. Gespeichert hatten wir 13 Seiten Text und über hundert Fotos von unseren gemeinsamen Fahrten.

Zum Schluß besuchten wir "Lucas Cranach im Exil", eine große Ausstellung im katholischen Aschaffenburg. Cranach und sein Arbeitgeber, Kardinal Albrecht von Brandenburg, hatten vor der Reformation nach Aschaffenburg flüchten müssen, das zum Erzbistum Mainz gehörte. Er nahm viele Bilder und auch den Maler mit. Ob man in Aschaffenburg wirklich von "Exil" sprechen muß?

Die Ausstellung an drei Orten, mit drei Schwerpunkten, historisch und soziologisch ausgearbeitet, ist aber die Reise wert. Das Renaissance-Schloß, die Jesuitenkirche und die Stiftskirche bieten zusammen mit der Altstadt einen stimmungsvollen Hintergrund.

Ich erfuhr, dass im Krieg das Renaissance-Schloß vollständig zerstört worden war. Es wurde nach den alten Plänen wieder aufgebaut, auch wenn man die Innen-Einteilung nach den Bedürfnissen eines Museums verändert hat. Ich hörte einen Besucher klagen: "Die Amerikaner hätten doch das Schloß nicht bombardieren müssen!" Mich verwunderten diese Worte. Ich hätte eher gefragt: warum wurde im 20. Jahrhundert ein Original-Renaissance-Schloß wieder erbaut? Vielleicht sind beide Fragen irgendwie daneben.....

Odilon Redon wollte mein Mädchen nicht angucken. Ein Freund empfahl mir diese Ausstellung in der Schirn sehr angelegentlich, ich werde heute allein hingehen.

Frankfurt, den 2. April

Wir haben einen Film AUS Afrika gesehen: "Bamako", und einen Film ÜBER Afrika: "Der letzte König von Schottland".

Bamako stellt ein großes "Palaver" dar, eine Gerichtsverhandlung: die afrikanischen Völker gegen die Weltbank, und das Palaver wirft ein Zaubernetz aus, Melancholie strömt wie eine Lebenskraft von der Leinwand herüber, von der man nichts weiß und die man doch kennt.

Der Film über die Geschichte Idi Amins dagegen: lauter Dummköpfe betreiben miteinander sogenannte Politik, und es geht natürlich schief.  So richtig dick aufgetragen schief, damit auch die westlichen Voyeure auf ihre Kosten kommen. Selbstverständlich hat Forest Whittaker seinen Oscar verdient, es ist nach unseren Maßstäben ein guter Film.

Mir geht es um den Unterschied: aus Afrika und über Afrika......

Frankfurt, den 28. März

Die Blumen blühen, die Bäume knospen, und heute kommt meine große Tochter zu Besuch!